"Niemand hat dafür gestimmt, ärmer zu werden": Brexit-Gegner vor dem "Houses of Parliament". (Bild: Imago/Zuma/Ray Tang)
Brexit

EU rüstet sich für Chaos-Brexit

Die Gefahr eines Brexits ohne Austrittsvertrag treibt die Europäische Union zu Notfallplänen, die das befürchtete Chaos im Flugverkehr, beim Zoll und an den Finanzmärkten mildern sollen. Für zwölf Monate sollen 14 Sonderregelungen gelten.

Wer gerne mal wieder zum Einkaufen oder ins Museum nach London möchte, sollte seinen Wochenendtrip besser nicht für Ende März planen. Denn am 29. März ist Brexit-Tag. Und angesichts der unklaren politischen Lage in Großbritannien ist ein chaotischer EU-Austritt ohne Vertrag nicht ausgeschlossen − mit drastischen Folgen für Millionen Europäer beidseits des Ärmelkanals.

Notfallmaßnahmen …

Auch wenn beide Seiten auf ein glimpfliches Ende hoffen: Die britische Regierung hat ihre Planung für diesen Notfall namens „No Deal” gerade hochgefahren. Am Mittwoch legt auch die EU-Kommission nach. Notmaßnahmen und Sonderregelungen sollen den Ernstfall etwas abmildern, mehr nicht. Denn um alle Trennungsfragen zu regeln, waren im Austrittsvertrag 585 Seiten nötig. Ohne das Abkommen entfiele vor allem die vereinbarte Übergangsfrist, in der sich praktisch nichts ändern soll.

„Die Risiken eines ungeordneten Austritts Großbritanniens aus der Europäischen Union sind offensichtlich: Es wird eine absolute Katastrophe werden”, sagte Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker in Brüssel. Kommission und EU-Staaten wollten dies unbedingt verhindern. Aber die Briten müssen mitspielen. „Man braucht zwei, um einen anständigen Tango hinzulegen”, so Juncker.

Seine Behörde plant insgesamt 14 Notmaßnahmen für den Fall, dass die Ratifizierung des ausgehandelten Austrittsvertrags in Großbritannien scheitert. Dort ist vor der Abstimmung im Januar keine Mehrheit in Sicht. Bleibt es dabei, gibt es kein Brexit-Abkommen. Für die Zeit unmittelbar nach dem Austrittsdatum am 29. März werden dann schwere Verwerfungen befürchtet.

… für EU-Bürger in Großbritannien und Briten in der EU

Der Brexit-Vertrag sichert den mehr als drei Millionen EU-Bürgern in Großbritannien und mehr als einer Million Briten in der EU zu, dass sie ihr Leben so weiterleben können wie bisher. Scheitert die Vereinbarung, hängen sie in der Luft. Beispielsweise wäre unklar, ob sie weiterhin Zugang zum Gesundheitssystem des Gastlandes hätten.

Die EU-Kommission will Briten, die schon lange in der EU leben, zumindest den Weg zum Status eines „langjährig Aufenthaltsberechtigten” ebnen. Damit könnten sie Zugang zu Jobs, Bildung und Sozialleistungen behalten. Briten in EU-Staaten sollen möglichst ein Bleiberecht bekommen. Bedingung ist für Brüssel, dass auch Großbritannien ähnliche Zugeständnisse gewährt.

… für Reisende

Die EU-Kommission befürchtet für den Fall eines „No Deal”, dass es „am Austrittsdatum zu einer abrupten Unterbrechung des Luftverkehrs zwischen dem Vereinigten Königreich und der Europäischen Union” käme. So steht es in einer 14-seitigen Mitteilung von Mitte November. Denn es entfielen Verkehrsrechte, Betriebsgenehmigungen und Flugsicherheitsbescheinigungen. Die Kommission will in dem Fall zumindest Überflugrechte und „technische Halte” etwa zum Tanken sichern. Sicherheitszertifikate sollen übergangsweise weiter gelten.

Reisen nach Großbritannien könnten bei einem ungeregelten Brexit insgesamt sehr kompliziert werden, nicht nur wegen der fälligen Zollkontrollen. Visa sollen zwar nicht nötig sein, wenn sich beide Seiten darauf einlassen. Doch die gegenseitige Anerkennung von Führerscheinen, Reisedokumente für Haustiere, Versicherungsschutz, Verbraucherrechte, das Reisen mit viel Bargeld, der Import von Produkten tierischen Ursprungs − alles wäre mit dem Wegfall von EU-Regeln im Vereinigten Königreich erst einmal offen.

… für Finanzdienstleister

In Großbritannien ansässige Finanzunternehmen würden bei einem ungeordneten Brexit das Recht verlieren, ihre Dienstleistungen in der EU anzubieten. Vor allem mit Blick auf das sogenannte Derivate-Clearing befürchtet die EU-Kommission „Risiken für die Finanzstabilität”. Um dies abzuwenden, will die Behörde „unter strengen Voraussetzungen” eingreifen. Ihr Instrument wären sogenannte Gleichwertigkeitsbeschlüsse.

… für den Zoll und Exporteure

Geht Großbritannien ohne Vertrag, muss die EU nach den Regeln der Welthandelsorganisation Zölle erheben. An Häfen wie im südenglischen Dover oder im nordfranzösischen Calais müssten deshalb Kontrollen stattfinden. Die Infrastruktur ist dafür aber nirgends ausgelegt. Die Folge wäre Experten zufolge kilometerlanger Rückstaus von Lastwagen im Südosten Englands und etwa im Nordwesten Frankreichs.

Die EU-Kommission drängt darum alle Mitgliedstaaten, den Zoll entsprechend zu wappnen und sich auf Kontrollen und Bürokratie vorzubereiten. Aber auch bei möglichst reibungsloser Abwicklung wäre das Szenario eine Bremse für die Wirtschaft. Der Deutsche Industrie- und Handelskammertag rechnet mit 10 Millionen zusätzlichen Zollanmeldungen pro Jahr und allein 200 Millionen Euro Bürokratiekosten. Hinzu kämen die Zölle selbst. Wartezeiten würden Lieferketten unterbrechen. Dagegen hilft die Notfallplanung nicht.

… für die europäischen Steuerzahler

Der Brexit-Vertrag regelt auch Schlusszahlungen Großbritanniens an die EU von geschätzt mindestens 45 Milliarden Euro über mehrere Jahre. Entfällt die Vereinbarung, würde schon 2019 ein Loch von etwa zwölf Milliarden Euro in den EU-Haushalt gerissen. Nettozahler wie Deutschland würden wohl zusätzlich zur Kasse gebeten.

… für Menschen in Irland und Nordirland

Das Abkommen legt besonderen Wert darauf, dass die Grenze zwischen dem EU-Staat Irland und dem britischen Nordirland offen bleibt. Müssten bei einem ungeregelten Brexit doch wieder Schlagbäume und Zollkontrollen eingeführt werden? Es ist eine Frage, die in Brüssel im Moment niemand offen beantwortet − auch nicht die bisherigen Notfallpläne der EU-Kommission.

Was auch seinen Grund hat: Die Kommission käme in Zugzwang. Denn sie müsste der Regierung des EU-Mitgliedslandes Irland Anweisung erteilen, an seiner Grenze zu Nordirland eine Zollgrenze zu errichten und Kontrollen vorzunehmen. Problem: Irland hängt wirtschaftlich von Großbritannien und vom britischen Binnenmarkt ab. Außerdem wird ein Wiederaufflammen der gewalttätigen Auseinandersetzungen in Nordirland zwischen katholischen Republikanern und protestantischen Großbritannien-Treuen befürchtet. (dpa/BK/H.M.)