Erdogans Niederlage
Eigentlich stand er gar nicht selbst zur Wahl – das Ergebnis des Urnengangs in der Türkei ist dennoch eine Niederlage für Staatspräsident Recep Tayip Erdogan. Zum ersten Mal seit fast 13 Jahren kann seine AKP das Land nicht mehr alleine regieren – und die geplante Verfassungsreform, die dem Präsidenten noch mehr Macht zusichern sollte, ist damit geplatzt.
Wahlen in der Türkei

Erdogans Niederlage

Eigentlich stand er gar nicht selbst zur Wahl – das Ergebnis des Urnengangs in der Türkei ist dennoch eine Niederlage für Staatspräsident Recep Tayip Erdogan. Zum ersten Mal seit fast 13 Jahren kann seine AKP das Land nicht mehr alleine regieren – und die geplante Verfassungsreform, die dem Präsidenten noch mehr Macht zusichern sollte, ist damit geplatzt.

Ist das der Anfang vom Ende der Ära Erdogan? Nach dreizehn Jahren der Alleinherrschaft bleibt die türkische Arbeiterpartei AKP nach der Parlamentswahl vom Sonntag zwar mit 41 Prozent die stärkste politische Kraft des Landes. Vor vier Jahren erhielt die Partei aber fast 50 Prozent. Es ist die erste schwere Wahlniederlage der AKP, seit sie 2001 an die Macht kam. Erdogans AKP hat nun die Möglichkeit, eine Minderheitsregierung zu bilden, geduldet von anderen Parteien, oder sich einen Koalitionspartner zu suchen.

Rechnerisch könnten jedoch auch die Oppositionsparteien gemeinsam gegen die AKP regieren: Sie haben zusammen 290 Abgeordnete und die Mehrheit liegt bei 276. Der Chef der Kurdenpartei HDP (sie erhielt rund 13 Prozent der Stimmen), Selahattin Demirtas, versprach noch am Wahlabend, mit jeder anderen Partei über eine Koalition reden zu wollen, „die bereit ist, die Rechte der Kurden als Thema anzugehen“ – nur nicht mit der AKP. Auch die stärkste Oppositionskraft CHP (sie liegt nach vorläufigen Ergebnissen bei 25 Prozent) lehnt eine Kooperation mit der AKP ab. Es bleibt als einziger Partner für die AKP die nationalistische MHP, die etwas mehr als 16 Prozent erzielte. Sie hat aber angekündigt, die geplante Verfassungsänderung keinesfalls mitzutragen. Die MHP hat aber traditionell Probleme, mit den Kurden überhaupt zu reden, daher scheint ein breites Oppositionsbündnis ausgeschlossen.

Erdogan ist der Verlierer

Die meisten internationalen Beobachter sehen in Recep Tayip Erdogan den größten Verlierer des Wahlabends – und das, obwohl der Präsident selbst gar nicht zur Wahl stand. Doch trotz seines eigentlich überparteilichen Amtes hatte sich Erdogan aktiv in den Wahlkampf eingemischt und wenig verblümt für „seine“ AKP ausgesprochen, deren Vorsitzender er jahrelang gewesen war. Denn auch für seine jetzige Position hätte ein Wahlerfolg der AKP Konsequenzen gehabt: Die Partei trat mit dem Ziel an, nach den Wahlen eine umfassende Verfassungsreform in der Türkei durchzusetzen, mit der die Macht des Staatspräsidenten massiv gestärkt werden sollte. Bislang hat der Präsident überwiegend repräsentative Funktionen – für seinen zu diesem Zweck neu erbauten Prunk-Palast war Erdogan national wie international heftig kritisiert worden (der Bayernkurier berichtete).

Größter Gewinner der Wahlnacht war die pro-kurdische Partei HDP, die mit 13 Prozent der Stimmen die Zehn-Prozent-Hürde übersprang und erstmals im türkischen Parlament vertreten sein wird. Außerdem werden die Republikanische Volkspartei (CHP) und die rechte Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) der künftigen Volksvertretung angehören.

Das wahre Gesicht Erdogans

Wahlbeobachter sehen in dem Votum ein klares Bekenntnis der Türken zum jetzigen politischen System und eine Absage der Bürger an den Machtanspruch Erdogans, der nach dem fragwürdigen Umgang mit Oppositionsmedien und -politikern sowie der Niederschlagung der Proteste im Istanbuler Gezi-Park im vergangenen Jahr immer wieder massiv kritisiert worden war. Auch zahlreiche Korruptionsskandale, die bis zu Erdogan selbst reichten, und die Gleichschaltung von Justiz und Polizei, haben viele Türken zornig gemacht. Zusätzlich wurde das öffentliche Leben immer islamischer, gerade auch in der bisher so weltoffenen Metropole Istanbul. Das fing damit an, dass immer mehr Lokale Alkoholausschank verweigerten, weil sie ebenso wie Läden, die Alkohol verkauften, unter Druck gesetzt wurden. Auf öffentlichen Plätzen der Türkei durfte seit 2013 kein Alkohol mehr konsumiert werden, Steuern treiben die Bierpreise hoch. Die Zahl der Kopftuchträgerinnen stieg enorm an, da auch auf Frauen immer stärker Druck ausgeübt wurde, auch durch Erdogan selbst, der immer wieder durch Äußerungen auffiel, die sein rückständiges Frauenbild zeigten. Das Kopftuchverbot für Staatsbedienstete, eines der Säulen des Säkularismus, wurde von der AKP aufgehoben.

Das Ergebnis ist also eine große Überraschung: Obwohl die AKP-gelenkten Medien einen überaus unfairen Wahlkampf ablieferten, obwohl der laut Gesetz zur Neutralität verpflichtete Präsident Erdogan laut für die AKP warb, verlor seine Partei die Regierungsmehrheit. Wie sähe das Ergebnis aus, wenn die Türkei ein Land mit echter Medienfreiheit wäre? Mancher Experte sieht in dem Wahlergebnis den Anfang vom Ende der Ära Erdogan in der Türkei.

Bedenklicher Wahlausgang bei Deutschtürken

2,9 Millionen Türken im Ausland waren ebenfalls zur Wahl aufgerufen, davon 1,4 Millionen in Deutschland. Was hierzulande kaum beachtet wird, ist der enorm hohe Anteil der Anhänger der nationalistisch-islamistischen AKP bei den Deutschtürken. Dies zeigte sich auch jetzt wieder: Nach Angaben der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu stimmten rund 53 Prozent der in Deutschland lebenden wahlberechtigten Türken für die AKP. Die pro-kurdische Partei HDP bekam hier rund 18,7 Prozent. Nach Angaben von Anadolu lag die Wahlbeteiligung in Deutschland bei rund 44 Prozent. Anhänger der AKP dürften einer Integration bei uns eher ablehnend gegenüberstehen, dennoch berichtet kaum ein Medium über diese Fakten.