Weg ohne Wiederkehr: Von den 1,5 Millionen vertriebenen Armeniern überlebte keiner.Bild: The Armenian Genocide Museum-Institute Jerevan / fkn
Kultur / Medien

Vertrieben, ermordet, vergessen

Vor 100 Jahren wurden mehr als 1,5 Millionen Armenier aus ihrer Heimat vertrieben und ermordet. Buchautor Michael Hesemann hat in den Archiven des Vatikans erschütternde Beweise für diesen Völkermord gefunden. Mit Yuliya Tkachova sprach er über seine Entdeckungen.

Bayernkurier: Herr Hesemann, Sie sind Fachautor für kirchengeschichtliche Themen. Wie kamen Sie dazu, ausgerechnet über den Völkermord an den Armeniern zu schreiben?

Michael Hesemann: Durch einen Zufall. Ich arbeite seit 2008, also seit Erscheinen meiner Biografie Pius XII., an einem zweiten Buch, das noch dezidierter sein mutiges Eintreten für die verfolgten Juden behandeln wird. Damals, 2008, erhielt ich auch erstmals die Erlaubnis, im Vatikanischen Geheimarchiv zu forschen. Dabei stieß ich auf ein Dokument, das mich tief bewegte. Es war der glühende Appell des damaligen Erzbischofs von Köln, Kardinal von Hartmann, an den Reichskanzler, weitere Ausschreitungen gegen die Armenier beim türkischen Verbündeten zu verhindern. Darin schrieb von Hartmann, die „Verfolgung der Armenier im Jahre 1915“ würde „an Grausamkeit den Christenverfolgungen der ersten christlichen Jahrhunderte“ nicht nachstehen. Es seien „Gräuel vor Gott“, ja „himmelschreiende Gräuel“, die zu verhindern die Reichsregierung moralisch verpflichtet sei, wolle sie nicht „vor Gott und der Geschichte“ für diese verantwortlich gemacht werden.

Bayernkurier: Was fanden Sie bei Ihren Recherchen?

Hesemann: Bei Recherchen in Nazareth entdeckte ich, dass Kardinal von Hartmanns Nichte eine der Missionsschwestern in Mossul war und er daher offenbar aus erster Hand von den Gräueln des Völkermordes erfahren haben musste. Natürlich war davon auszugehen, dass noch weitere Priester, Missionare und natürlich die Vertreter der mit Rom unierten Armenisch-Katholischen Kirche ihre Bischöfe und diese wiederum den Heiligen Stuhl über die größte Christenverfolgung des frühen 20. Jahrhunderts informierten. Diese Berichte, davon konnte ich ausgehen, mussten sich im Vatikanarchiv befinden. Also machte ich mich auf die Suche danach.

Bayernkurier: Was entdeckten Sie dann im Vatikanarchiv?

Hesemann: Die Akten aus dem Pontifikat Benedikts XV., des Weltkriegspapstes, belegen, dass Papst Benedikt alles nur Menschenmögliche versucht hat, die Machthaber umzustimmen – von zwei Briefen an den Sultan und diversen Eingaben des Apostolischen Delegaten bis hin zu Interventionen bei den Verbündeten, von denen leider der eine, das preußisch-protestantische Deutsche Reich, völlig desinteressiert und der andere, das katholische Österreich-Ungarn, machtlos war. Außer falschen Versprechungen der Türken, etwa die katholischen Armenier zu verschonen oder gar die Deportierten wieder in ihre Heimat zurückkehren zu lassen, wurde nichts erreicht. 1,5 Millionen armenische Christen starben unter schrecklichsten Umständen vor den Augen ihrer Priester und Bischöfe (die oft genug ebenfalls ermordet wurden) und den völlig hilflosen ausländischen Seelsorgern und Missionaren.

Bayernkurier: Hatte es je eine reelle Chance gegeben, das Morden zu stoppen?

Hesemann: Ja, auf jeden Fall. Wenn das Deutsche Reich, der wichtigste Verbündete der Osmanen, Druck auf das Jungtürken-Regime ausgeübt hätte. Aber daran hatte Berlin kein Interesse. Man wollte es sich mit den Türken nicht verscherzen. Dabei hätte man durchaus Erfolg haben können, wie sich zeigte, als der Heilige Stuhl zugunsten der jüdischen Siedler in Palästina intervenierte, die ebenfalls von den Türken deportiert und ermordet werden sollten. Sofort wurde der türkische Befehlshaber Cemal Pascha abgelöst durch einen deutschen General, von Falkenhayn. Der war im Grunde ein anständiger Kerl, der die Juden gut behandelte und Jerusalem schließlich kampflos an die Briten übergab, um ein Blutvergießen an den Heiligen Stätten dreier Weltreligionen zu verhindern.

Bayernkurier: Also intervenierte Berlin zugunsten der Juden, aber nicht der Armenier?

Hesemann: Ja! Der Grund ist offensichtlich. Es lebten um die 600000 Juden im Deutschen Reich, sie dienten natürlich auch im Deutschen Heer, die schockiert auf Massaker an ihren Glaubensbrüdern im Heiligen Land reagiert hätten. Als gebildete Minderheit hatten sie Zugang zu den Medien und zur Politik. Armenier dagegen gab es nur ein paar hundert. Die spielten politisch keine Rolle, auf die brauchte man keine Rücksicht zu nehmen, für die interessierte sich kaum jemand.

Bayernkurier: Das klingt ziemlich zynisch.

Hesemann: Tut es auch. Aber wie schrieb Reichskanzler Theobald von Bethmann-Hollweg in einem amtlichen Dokument: „Unser einziges Ziel ist es, die Türkei bis zum Ende des Krieges an unserer Seite zu halten, gleichgültig, ob darüber Armenier zu Grund gehen oder nicht.“ Darum hatte Kardinal von Hartmann völlig recht. Gleich, ob nun deutsche Militärs im Dienst der Osmanen am Völkermord direkt oder nur indirekt beteiligt waren, worüber die Forschung noch streitet. Aber als Mitwisser und Mitverschweiger des Völkermordes an den Armeniern haben wir Deutsche uns mitschuldig gemacht. Umso ­größer ist unsere Verantwortung, jetzt endlich für Aufklärung zu sorgen und dem leidgeprüften armenischen Märtyrervolk zu Gerechtigkeit zu verhelfen: Der Völkermord an den Armeniern ist eine schreckliche und traurige historische Tatsache, auch wenn die moderne Türkei, allen voran Erdogan, eben dies noch immer bestreitet und zu vertuschen versucht.

Bayernkurier: Auf welche Weise?

Hesemann: Etwa indem sich Ankara in den Inhalt deutscher Geschichtsbücher und Lehrpläne einmischt! So geschehen 2005 in Brandenburg, was sogar zu einer Bundestagsdebatte führte.

Bayernkurier: Die Türkei behauptet, es habe sich um kriegsbedingte Umsiedlungsmaßnahmen gehandelt. Zudem habe es eine armenische Kollaboration mit dem Feind, den Russen, und diverse Aufstände gegeben. Und schließlich seien auch nicht 1,5 Millionen Armenier, wie Sie behaupten, sondern nur 300000 durch Krankheiten und Missstände bei der Versorgung ums Leben gekommen.

Hesemann: Ja, diese drei türkischen Lügen widerlege ich in meinem Buch. Denn das ist, was die Vatikandokumente zum Armenozid, oder, in offizieller vatikanischer Sprachregelung, der „Verfolgung der Armenier“, zweifelsfrei belegen:
1. Es gab nie einen armenischen Aufstand. „Die Behauptung, die Armenier hätten sich Waffen besorgt und planten einen Aufstand, ist eine reine Verleumdung“ heißt es ganz deutlich in einem Bericht, den das armenisch-katholische Patriarchat im Herbst 1915 an den Vatikan schickte. Das wird auch von den deutschen Konsulen und Missionaren vor Ort bestätigt.
2. Wären nur die Armenier aus den Frontgebieten evakuiert worden, hätte man ja noch an „kriegsbedingte Umsiedlungsmaßnahmen“ glauben können. Doch die Armenier aus den Provinzen Aleppo oder Diyarbekir im äußersten Südosten der Türkei wurden ebenso deportiert wie die Armenier von Angora, dem späteren Ankara im Herzen des Landes. Bevor sich die Deportationsmärsche in Bewegung setzten, wurden meist sämtliche armenische Männer zwischen 17 und 70, die noch nicht einberufen worden waren, ermordet; nur Frauen, Kinder und Greise wurden auf die wochenlangen Todesmärsche geschickt. Die zogen so lange kreuz und quer durch das Land, bis ein großer Teil der Unglücklichen an Erschöpfung, Krankheit oder Misshandlung durch die türkischen Gendarmen zugrunde gegangen war. Für die wenigen, die diese Strapazen überlebten, gab es keine Zukunft: Nur Konzentrationslager in der syrischen Wüste, in denen sie unter freiem Himmel bei Hitze und Kälte, mit völlig unzureichenden Lebensmittelrationen und fehlender medizinischer Versorgung dahin­siechen mussten. Das hat mit Umsiedlung nichts zu tun, das war geplanter Völkermord. Mit den Worten des armenisch-katholischen Patriarchen: Ein „Projekt zur Vernichtung des armenischen Volkes in der Türkei.“
3. Tatsächlich scheint es gar nicht einmal um die orthodoxen Armenier gegangen zu sein, denen man offiziell die Kollaboration mit dem Feind vorwarf, sondern um die „Reinigung“ des Landes von seinen nichtislamischen Elementen gemäß der islamofaschistischen, „pantürkischen“ Ideologie der Jungtürken und ihrer Chefideologen. So stellte der Kapuziner-Superior Norbert Hofer in einem Bericht an den Vatikan deutlich fest, dass hinter den Deportationen die Absicht stand, „alle christlichen Elemente im Land ungestraft vernichten zu können.“ Tatsächlich wurden ja neben den orthodoxen Armeniern auch die Katholiken und Protestanten, ja sogar die völlig unbeteiligten aramäischen (syrischen) Christen und orthodoxe Griechen ebenfalls verfolgt, deportiert und ermordet – und das trotz wiederholter Versprechen an den Vatikan, die Katholiken zu verschonen. So erklärte auch der armenisch-katholische Patriarch in einem Bericht an den Vatikan: „Es ist sicher, dass die osmanische Regierung beschlossen hat, das Christentum aus der Türkei zu beseitigen, bevor der Weltkrieg zu Ende geht.“ Und nicht nur das Christentum: nur knapp entgingen die jüdischen Palästina-Siedler einem ähnlichen Schicksal!
4. Zur Zahl der Opfer ist zu sagen, dass schon in einem Vatikandokument aus dem Herbst 1915 von „beinahe 1 Million Opfer“ die Rede ist – bevor das Massensterben und Morden an den Deportierten in der syrischen Wüste überhaupt begonnen hatte. In meinem Buch weise ich nach, weshalb die Zahl von 1,5 Millionen ermordeten Armeniern realistisch ist – insgesamt fielen sogar 2,5 Millionen Christen der Verfolgung der Jahre 1915-1922 zum Opfer, die nach dem Sturz der Jungtürken von Kemal Atatürk munter fortgeführt wurde.

Bayernkurier: Also ist die offizielle türkische Version der Geschichte nicht haltbar?

Hesemann: Die Vatikandokumente widerlegen sie eindrucksvoll und liefern Beweise, dass es ein geplanter Völkermord war. Stellen Sie sich doch mal bitte vor: Vor dem 1. Weltkrieg war jeder fünfte Bewohner des Osmanischen Reiches Christ. Heute sind es nur noch 0,2 Prozent. Die größte Christenverfolgung der Geschichte hat also zu dem von den Ideologen gewünschten Ergebnis geführt.

Bayernkurier: Sie spinnen in Ihrem Buch auch den Faden weiter zu Hitler. Wieso

Hesemann: Hitler selbst berief sich mehrfach auf den Armenozid. Der Gründer der DAP hatte vor dem Krieg in jungtürkischen Kreisen gewirkt, zu Hitlers frühesten Kampfgefährten zählten Augenzeugen des Armenozids. „Wer redet heute noch von der Vernichtung der Armenier“ soll er gesagt haben, als er seine Generäle auf den Einmarsch in Polen einschwor. Mit seinen Deportationen, den Todesmärschen und Konzen-trationslagern ist der Armenozid das historische Vorbild für den Holocaust, und doch war dieser ganz anders: industrialisierter, entmenschlichter.

Bayernkurier: Im April jährt sich der Völkermord zum hundertsten Mal. Was erwarten Sie von diesem Ereignis?

Hesemann: Ich hoffe, dass die von mir veröffentlichten Dokumente dazu beitragen, die Diskussion um den Armenozid neu zu entfachen. Wenn der Erste Weltkrieg die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts war, dann war der Völkermord im Osmanischen Reich das Urverbrechen.