Nicht nur in Berlin hat die Wiedervereinigung vieles zum Positiven verändert. Bild: Fotolia, Kameraauge
25 Jahre Deutsche Einheit

Eine Erfolgsgeschichte? Ja!

Das Ausland wundert sich, wie missmutig die Deutschen auf das eigene Land schauen. 25 Jahre nach der Deutschen Einheit lässt sich eine stolz Bilanz ziehen: Die Altlasten der SED-Diktatur sind beseitigt, Wohlstand, Lebenserwartung, Lebensqualität und Einkommen steigen steil an. Nur zwei Schattenseiten gibt es. Eine Analyse von Prof. Eckhard Jesse.

Ist die deutsche Einheit eine ­Erfolgsgeschichte? Diese Frage bewegte lange die Gemüter. Haben wir in den neuen Ländern „blühende Landschaften“, wie einst von Helmut Kohl prophezeit? Sind die Deutschen zwar staatsrechtlich vereinigt, aber gesellschaftspolitisch geteilt? Welche Veränderungen haben sich in den letzten 25 Jahren vollzogen?

Im Herbst 1989 brach die SED-Diktatur durch das indirekte Zusammenspiel von Flucht- und Demonstrationsbewegung wie ein Kartenhaus zusammen. Der „große Bruder“ war im Gegensatz zu früher nicht mehr zur militärischen Intervention bereit. Nach dem Fall der Mauer hieß es auf den Straßen bald nicht mehr: „Wir sind das Volk“, sondern: „Wir sind ein Volk“. Die Freiheitsrevolution ging schnell in eine Einheitsrevolution über. Am 3. Oktober 1990, kein Jahr nach dem von den Granden des Regimes gefeierten 40. Jahrestag der DDR, gab es den „Arbeiter- und Bauernstaat“ nicht mehr.

SED-Diktatur war politisch, militärisch und moralisch am Ende

Die SED-Diktatur war nicht nur politisch, sondern auch wirtschaftlich am Ende. Der marode Zustand wirkte nach. Deutlich mehr Ostdeutsche sind in den Westen gegangen als umgekehrt. Heute wohnen auf dem Gebiet der DDR zwei Millionen Menschen weniger als vor 25 Jahren. Mittlerweile ist der Prozess fast gestoppt, wobei die Überalterung dem Osten zu schaffen macht. Es war eine beträchtliche, nicht immer hinreichend gewürdigte Lebensleistung Ostdeutscher, sich in den neuen Verhältnissen zurecht zu finden.

Zwar ist die Arbeitslosigkeit in den neuen Bundesländern weiterhin fast doppelt so hoch wie in den alten, aber sie beträgt nur noch 10,2 Prozent (West: 6,2 Prozent), anders als 2005 (Ost: 20,6 Prozent; West: 13,0 Prozent). Die Arbeitsproduktivität in den neuen Ländern hat sich verdoppelt, liegt allerdings erst bei zwei Dritteln des Westens. Besser sieht es bei den Einkommen aus, die sich bis auf einen Unterschied von etwa zehn Prozent angeglichen haben. Hingegen sind die Ostdeutschen mit Blick auf Erbschaften klar im Hintertreffen. Es ist an der Zeit, den im Westen wie im Osten entrichteten Solidaritätsbeitrag nach dem Auslaufen der „Ostförderung“ 2019 zu streichen. Die Infrastruktur hat sich im Osten massiv verbessert. Wer viel in den neuen Bundesländern unterwegs ist, freut sich, auf den meist dreispurigen Autobahnen fahren zu können.

Im Osten hat sich alles zum Positiven verändert

Die Umweltbedingungen haben sich in den neuen Ländern deutlich zum Positiven entwickelt. Mit der besseren Lebensqualität hängt die gestiegene Lebenserwartung zusammen. Sie erhöhte sich im Osten bei den Männern in den letzten 20 Jahren um durchschnittlich 6,1 Jahre (West: 4,6 Jahre), bei den Frauen um 4,4 Jahre (West: 2,9 Jahre). Die Lebenserwartung in den neuen Bundesländern liegt nur noch knapp hinter der in den alten. Hingegen starben die Menschen in der DDR im Schnitt knapp drei Jahre früher als im Westen. Was kaum jemand weiß: War die Selbstmord­rate in der DDR fast doppelt so hoch wie in der alten Bundesrepublik, besteht heute kaum mehr ein Unterschied.

Die Zahl der „Ossi“- und „Wessi“-Witze hat nachgelassen, das böse Wort von „Dunkeldeutschland“ gehört – hoffentlich – der Vergangenheit an. Im vereinigten Deutschland gibt es, anders als etwa in Belgien, Großbritannien oder Spanien, keinerlei sezessionistische Anflüge. Selbst der schärfste Kritiker der deutschen Einheit strebt keine Abspaltung des Ostens vom Westen an. Kaum jemand erwähnt – positiv oder negativ – den folgenden Sachverhalt: Das oberste und das mächtigste Staatsamt bekleiden Politiker aus den neuen Ländern. Dies ist ebenso ein schönes Zeichen der Normalität wie die Zunahme des Patriotismus in Deutschland, nicht zuletzt dank der Einheit, wie etwa das weniger verkrampfte Verhältnis zu nationalen Symbolen zeigt.

Negative Folge der Einheit: Staatsgläubigkeit steigt an

Gewiss, die Menschen in den neuen Bundesländern schätzen Gleichheit höher ein als die im Westen, aber auch hier ist die Zahl der „Freiheitsfreunde“ gesunken. Noch in einem anderen wesentlichen Punkt gibt es Differenzen. Die ostdeutsche „Konsenskultur“ färbt auf den Westen ab, der sich bequem im Besitzstandsdenken eingerichtet hat. Häufig ist von „alternativlosen“ Entscheidungen die Rede, weniger von einer offenen Streitkultur, die die Gesellschaft voranbringt. Wer mit mutigen Anstößen aufwartet, gilt zuweilen als anstoßerregend. Wir brauchen mehr Konkurrenz, um Stillstand zu vermeiden.

Der beträchtliche Wandel auf den unterschiedlichsten Feldern in den letzten 25 Jahren geht nur zum Teil auf die deutsche Einheit zurück, sondern wesentlich auf die Globalisierung mit der digitalen Revolution. Die Bundesrepublik Deutschland ist keine „Berliner Republik“ geworden, blieb die verfassungspolitische und wirtschaftliche Struktur doch erhalten. Die Veränderungen in der Außenpolitik sind allerdings mit Händen zu greifen. Zwar besteht die Westbindung nach wie vor, aber Deutschland trägt mehr – akzeptierte – Verantwortung, selbst militärische. Die Zeit der „Scheckbuchdiplomatie“ ist vorbei. Der politische Extremismus von rechts und links ist durch die Wiedervereinigung stärker geworden, nicht zu vergessen das gestiegene Ausmaß des Islamismus.

1990 hielten alle die SED für tot

Wohl niemand hätte der aus der SED hervorgegangenen PDS 1990 eine verheißungsvolle Zukunft prophezeit. Heute ist sie in Thüringen der Seniorpartner und in Brandenburg der Juniorpartner innerhalb der Regierung. Der Verlust des anti­ex­tremistischen Konsensus geht nicht nur auf „den“ Osten zurück. Die 68er, die einerseits die Gesellschaft gewandelt haben und die andererseits die Gesellschaft gewandelt hat, nehmen in Medien eine tonangebende Rolle ein. Sie wollen von Äquidistanz gegenüber Rechts- und Linksaußen wenig wissen.

Der Wandel beim Parteiensystem und beim Wahlverhalten ist zum Teil eine Reaktion auf die deutsche Einheit. Bei den Bundestagswahlen 2002, 2005 und 2013 hätte es eine schwarz-gelbe Mehrheit im Westen gegeben, dasselbe Votum vorausgesetzt. Ost ist allerdings nicht gleich Ost. Brandenburg stellt ein „rotes“ Bundesland dar, Sachsen ein „schwarzes“. Die Ergebnisse der Sachsen-CDU bei den Landtagswahlen 1994 (58,1 Prozent) und 1999 (56,9 Prozent) sind von der CDU in keinem alten Bundesland jemals erreicht worden. Wenn die SPD seit 1990 über 500000 Mitglieder verloren hat (und die CDU im gleichen Zeitraum über 300000), so ist der Osten damit kein Vorreiter für den Westen. Zwar fällt die Rekrutierungsfähigkeit der Parteien im Osten um über die Hälfte niedriger aus als im Westen, aber die schrumpfende Zahl der „Parteibürger“ ist eine Reaktion auf gesamtgesellschaftliche Prozesse, die in keinem Zusammenhang mit der deutschen Einheit stehen.

Das Ausland wundert sich über den deutschen Missmut

Das Ausland, das vielfach bewundernd nach Deutschland blickt, kann nicht recht den hiesigen Missmut begreifen. Betont wird weniger das Erreichte als das noch nicht Erreichte. Die Vereinigung zweier völlig unterschiedlicher Gesellschaftssysteme von heute auf morgen war ein präzedenzloser Vorgang. Vor diesem Hintergrund muss das Urteil ungeachtet einiger Defizite lauten: Die deutsche Einheit ist eine Erfolgsgeschichte!