Die sozialen Unterschiede in Deutschland und das Armutsrisiko haben in den vergangenen Jahren zugenommen (Foto: imago/Mika).
Sozialstaat

Armut bekämpfen – aber richtig

Gastbeitrag Der Generalsekretär des Deutschen Caritasverbandes, Georg Cremer, warnt vor einer Skandalisierung der Debatte und fordert im aktuellen BAYERNKURIER-Magazin, vor allem die Chancen auf Bildung und Beruf zu erhöhen.

Was bedeutet es eigentlich, wenn die Zeitungen schreiben, 15 Prozent der Bevölkerung in Deutschland, also 12 Millionen Menschen, seien arm? Arm im Sinne der bei uns verwandten Definition ist jeder, dessen verfügbares Einkommen weniger als 60 Prozent des Mittelwerts (Median) beträgt. In einem reichen Land wie Deutschland ist es völlig angemessen, Armut im Vergleich zu den Lebensverhältnissen der Mitte zu erfassen. Wir sprechen daher von relativer Armut. Ein Alleinstehender wird derzeit als arm (genauer gesagt als im Armutsrisiko lebend) erfasst, wenn er netto über weniger als 917 Euro pro Monat verfügt.

Empfinden von Mangel geht zurück

Bei anderen Erhebungen liegt die Armutsschwelle bei 1000 oder 1050 Euro. Somit zählen auch viele Studierende und Auszubildende statistisch zu den Armen. Sie haben momentan wenig Geld, aber viele von ihnen haben nicht wirklich ein Problem. Wer aber dauerhaft von 900 Euro leben muss, ist von vielem ausgeschlossen, was in unserer Gesellschaft als normal gilt und das Leben lebenswert macht.

Es gilt als feste Gewissheit, dass die soziale Schere in Deutschland immer weiter auseinandergeht. Das scheint selbstverständlich zu sein. Aber auch hier sind die Dinge nicht so einfach. Relative Armut und Einkommensungleichheit hängen eng zusammen. Wenn wir den Vergleich ziehen zu den 1970er oder 1980er Jahren, so hat die Einkommensungleichheit in der Tat deutlich zugenommen. Die Armutsrisikoquote stieg besonders stark in den Jahren von 1998 bis 2005, im Prozess der Anpassung an die Herausforderungen der Wiedervereinigung und die Öffnung der Märkte in Osteuropa. Danach war die Entwicklung wieder mehr oder weniger stabil. Infolge der deutlich verbesserten Beschäftigungssituation gibt es sogar wichtige Lichtblicke: So haben sich die Werte verbessert, wenn Menschen nach dem materiellen Mangel befragt werden, den sie empfinden. Auch der Anteil derer, die sich große Sorgen um ihren Arbeitsplatz machen, ist deutlich zurückgegangen. Dennoch sollte man sich nicht zufrieden geben. Aber es ist doch ein Unterschied in der Betrachtung, ob etwas kontinuierlich schlimmer wird oder ob die Lage einigermaßen stabil ist oder sich in Teilen sogar verbessert hat. Es gibt einen anwaltschaftlich motivierten Niedergangsdiskurs, der aufrütteln will. Aber er schadet, denn er befördert die Panik in der Mitte und verstärkt damit die Gefahr, dass diese sich nach unten hin abschottet.

Es ist ein Unterschied in der Betrachtung, ob etwas kontinuierlich schlimmer wird oder ob die Lage sich in Teilen verbessert hat.

Wo liegt dringender Handlungsbedarf? Zuerst zum Transfersystem selbst. Die Hilfe muss so bemessen sein, dass sie das durch unsere Verfassung gebotene Mindestmaß an sozialer Teilhabe sichert. Nach Berechnungen des Deutschen Caritasverbandes führt eine faire Berechnung von Hartz IV zu einem deutlichen Anstieg (ca. 60 bis 80 Euro pro Monat). Dies würde Grundsicherungsempfängern mehr Flexibilität in ihrer Lebensführung geben, Armut würde so besser bekämpft.

Was aber würde passieren, wenn die Politik diesem Vorschlag folgte? Zwangsläufig würde die Zahl der Empfänger von Hartz IV deutlich zunehmen. Denn mehr Beschäftigte mit niedrigen Löhnen bekämen dann ergänzende Hilfe. Die Zahl stiege natürlich nicht, weil die sozialen Verhältnisse schlechter würden, sondern weil unser Hilfesystem besser würde. Dieser Januscharakter der Sozialdaten wird in der Armutsdebatte häufig missachtet. Daher ist der Sozialstaat verwundbar gegen unfaire Skandalisierung.

Grundsicherung für Kinder und Alte

Wer im Niedriglohnsektor arbeitet und seinen eigenen Lebensunterhalt sichert, sollte nicht deswegen zum Jobcenter müssen, weil er Kinder hat. Um das zu verhindern, gibt es den Kinderzuschlag, aber dieses sinnvolle Instrument hat Konstruktionsmängel. Er sollte zu einer verlässlichen einkommensabhängigen Kindergrundsicherung weiterentwickelt werden, die auch Alleinerziehende einbezieht.

Auch bei der Grundsicherung im Alter gibt es Reformbedarf. Derzeit hat die Rentnergeneration in Deutschland kein überdurchschnittliches Armutsrisiko. Aber es gibt deutliche Indizien, dass das Risiko der Altersarmut steigen wird, insbesondere wenn vermehrt Personen mit unterbrochenen Berufsbiographien ins Rentenalter kommen.

Das System der Grundsicherung im Alter kann Altersarmut zielgerichtet bekämpfen, muss hierfür aber weiterentwickelt werden. Die derzeitige Debatte zur Rentenreform – Vorbote eines zu erwartenden Rentenwahlkampfes – geht in eine andere Richtung. Die diskutierte Anhebung des Rentenniveaus um zwei oder drei Prozentpunkte wird den Armen nicht helfen. Diejenigen, die gute Renten haben, werden vergleichsweise viel, die Bezieher von Minirenten jedoch nur wenig mehr erhalten. Alle, die weiterhin auf ergänzende Grundsicherung im Alter angewiesen sind, haben von der Erhöhung Nullkommanichts. Denn der kleine Mehrbetrag, den sie als Rentner erhalten, wird ihnen bei der Berechnung der Grundsicherung in gleicher Höhe wieder abgezogen. Die allermeisten Armen gehen also leer aus.

Wir brauchen eine Politik der Armutsprävention. Sie muss sich am Prinzip der Befähigungsgerechtigkeit orientieren.

Auch ist es ein Unding, dass alle privat ersparten Ansprüche wie Erträge einer Riesterrente bei der Berechnung der Höhe der Grundsicherung in Abzug gebracht werden. Riestern wird dadurch für Niedrigeinkommensbezieher zwecklos. Es gibt Chancen, dass dieser Konstruktionsfehler im Rahmen der Stärkung der Betriebsrenten noch in dieser Legislaturperiode behoben wird.

Aber Armutspolitik muss mehr sein als die faire und kluge Ausgestaltung von Transfersystemen (so unverzichtbar diese sind). Wir brauchen eine Politik der Armutsprävention. Sie muss sich am Prinzip der Befähigungsgerechtigkeit orientieren. Der Befähigungsansatz fokussiert auf die Erweiterung individueller Verwirklichungschancen, auf die Erschließung von Freiheits- und Teilhabespielräumen. Er stellt die Potentiale jedes Menschen in den Mittelpunkt und betont, dass jeder zur Entfaltung und Verwirklichung seiner Fähigkeiten auf bestimmte Grundbedingungen angewiesen ist, die er nicht selbst sicherstellen kann. Sie zu entwickeln, obliegt nicht allein seiner Selbstsorge.

Langzeitarbeitslosigkeit bleibt bestehen

Die größte Herausforderung für die Armutspolitik ist es, unseren starken Sozialstaat auf Befähigung auszurichten. Ein Bildungssystem, das den engen Zusammenhang von sozialer Herkunft und Bildungserfolg nicht überwindet, ist nicht zukunftstauglich. Auch das Hilfenetz des Sozialstaats ist nur ungenügend auf die Prävention sozialer Notlagen und die Befähigung der Bürgerinnen und Bürger ausgerichtet. Der Sozialstaat steht sich oft selbst im Weg. Gegenüber Menschen aus prekären Milieus verhindern aufgesplitterte Zuständigkeiten die Hilfe aus einer Hand. Unterschiedliche Fachlogiken, etwa von Medizinern und Sozialarbeitern, erschweren die Kooperation. Hemmend wirken auch Konflikte um die Kostenverteilung zwischen den politischen Ebenen. Sie können neue Ansätze der Hilfe auch dann blockieren, wenn alle von ihrer Wirksamkeit überzeugt und ihre direkten Mehrkosten gering sind (sie mittelfristig sogar zu Einsparungen führten könnten).

Der Sozialstaat steht sich oft selbst im Weg.

Auch die Arbeitsmarktpolitik ist gefordert: Sie war seit 2005 sehr erfolgreich, aber sie hat den harten Kern der verfestigten Langzeitarbeitslosigkeit nicht erreicht. Hier bräuchte es mehr Mut zu einer aktiven Arbeitsmarktpolitik, die nicht in praxisfernen Parallelwelten verharrt, sondern durch sinnhafte Arbeit Teilhabe ermöglicht. In einem sozialen Arbeitsmarkt können Menschen unterstützt werden, die weder heute noch in naher Zukunft den Sprung in den ersten Arbeitsmarkt schaffen können, aber dennoch ein Recht auf Teilhabe haben. Uns stecken noch die schlechten Erfahrungen mit großen Arbeitsbeschaffungsprogrammen nach der Wiedervereinigung in den Knochen, als öffentlich geförderte Beschäftigung reguläre Beschäftigung verdrängte. Bei richtiger Zielgruppenauswahl ist diese Gefahr jedoch beherrschbar. Handwerk und Gewerkschaften vor Ort können das Jobcenter dabei unterstützten.

Unsere Bildungs- und Sozialpolitik stärker auf Befähigungsgerechtigkeit auszurichten, sollte Teil der Agenda für die nächste Legislaturperiode des Bundestags werden.