In Deutschland gelten knapp vier Prozent der Menschen als arm. (Foto: Imago/Ralph Peters)
Ungleichheit

Wohltaten verteilen genügt nicht

Gastbeitrag Wer die Ungleichheit erfolgreich bekämpfen will, darf nicht nur auf Sozialleistungen setzen, sondern muss Aufstiegschancen schaffen – etwa durch die gezielte Wirtschaftsförderung ärmerer Regionen, erklärt Allianz-Chefvolkswirt Michael Heise.

Spätestens seitdem Thomas Piketty seine Studie „Das Kapital im 21. Jahrhundert“ vor vier Jahren veröffentlichte, ist „Ungleichheit“ – die ungleiche Verteilung von Einkommen und Vermögen – zum Topthema der Ökonomie avanciert. Kaum ein wirtschaftliches oder politisches Problem – vom schwachen Wachstum und stagnierender Produktivität über zunehmenden Populismus bis hin zum Brexit-Votum und der Wahl Trumps zum amerikanischen Präsidenten –, das nicht mit einem Rückgriff auf wachsende Ungleichheit erklärt wurde.

Die Verteilung der Vermögen oder Einkommen sagt über den Zustand einer Gesellschaft oft weniger aus als gedacht.

Michael Heise, Allianz-Chefvolkswirt

Dabei gibt es kaum einen Begriff, der schillernder wäre. Denn während auf der einen Seite die Idee der absoluten Gleichverteilung eine Utopie – oder vielmehr Dystopie – ist, bleibt auf der anderen Seite das „richtige“ Maß an Ungleichheit unbestimmbar: Eine „natürliche Rate der Ungleichheit“, eine anerkannte Benchmark, gibt es nicht. Zur Beurteilung der Verteilung werden stattdessen häufig Vergleiche zwischen Ländern und Zeiten herangezogen. Aber auch dieses Vorgehen hat seine Tücken. So ist die Vermögensverteilung in den USA bekanntermaßen besonders ungleich; ähnlich hohe Vermögenskonzentrationen gemessen am sogenannten Gini-Koeffizienten erreichen aber beispielsweise auch Dänemark und Schweden.

Sozialsysteme dämpfen Konflikte

Niemand käme auf die Idee, diese beiden skandinavischen Länder mit Blick auf die soziale Gerechtigkeit mit den USA in einen Topf zu werfen. Tatsächlich belegen sie im aktuellen „Inclusive Development Index“ des World Economic Forums Spitzenplätze – im Gegensatz zu den USA. Die Verteilung der Vermögen oder Einkommen sagt über den Zustand einer Gesellschaft also oft weniger aus als gedacht. Letztlich kommt es vor allem auf den sozialen, kulturellen und politischen Kontext an, ob eine bestimmte Verteilungssituation als problematisch einzustufen ist. Bei sehr stark ausgebauten Sozialsystemen beispielsweise ist eine hohe Vermögenskonzentration gesellschaftlich sicher weniger konfliktfördernd als ohne sie.

Aber dies ist nicht der einzige Kurzschluss in der gegenwärtigen Debatte. Besonders bei Fragen der Vermögensverteilung sind viele Halbwahrheiten mit im Spiel. Das häufig zu hörende Narrativ der Re-Feudalisierung entspricht nicht den Tatsachen. Vielmehr gilt es, vier Punkte festzuhalten.

Erstens: Die Welt ist in den letzten Jahrzehnten gleicher, nicht ungleicher geworden.

Dies wird deutlich, wenn die Vermögensverteilung im globalen Maßstab untersucht wird. Danach gehören alle Haushalte/Personen mit einem Netto-Geldvermögen zwischen 30 Prozent und 180 Prozent des weltweiten Durchschnitts – in 2016er-Zahlen: von EUR 7.700 bis EUR 45.900 – zur globalen Vermögensmittelschicht. Diese Vermögensklasse ist in den letzten Jahren und Jahrzehnten stark gewachsen, von rund 450 Millionen (2000) auf über eine Milliarde Menschen 2016. Mehr als 80 Prozent von ihnen sind Chinesen. Die Verdopplung der globalen Vermögensschicht spiegelt also im Wesentlichen den Aufstieg Chinas wider – der mittlerweile auch nicht mehr vor der globalen Vermögensoberklasse Halt macht: Mehr als 100 Millionen Chinesen gehören ihr bereits an. Auch diese Vermögensklasse ist daher zahlenmäßig gewachsen, seit dem Jahr 2000 um etwa 130 Millionen oder 30 Prozent auf heute insgesamt 550 Millionen Personen.

Unterm Strich stellt sich die Entwicklung der globalen Vermögensverteilung durchaus positiv dar.

Michael Heise

Unterm Strich stellt sich die Entwicklung der globalen Vermögensverteilung also durchaus positiv dar, insbesondere der starke Anstieg der Vermögensmittelschicht zeigt, dass im globalen Maßstab immer mehr Menschen am weltweiten Wohlstand partizipieren können. Trotz dieser positiven Entwicklung ist die Vermögenskonzentration weltweit noch sehr groß. Die reichsten zehn Prozent der Weltbevölkerung vereinen immer noch knapp 80 Prozent der Netto-Geldvermögen auf sich; im Jahr 2000 lag dieser Wert allerdings bei über 90 Prozent.

Zweitens: Was für die Welt als Ganzes gilt, trifft für viele Industrieländer leider nicht zu: In der Tendenz steigt die Vermögensungleichheit.

Die globale Entwicklung verläuft uneinheitlich. In etwas mehr als der Hälfte der Länder hat die Vermögenskonzentration – der Vermögensanteil des reichsten Bevölkerungsdezils – seit dem Jahr 2000 abgenommen, in den übrigen hat sie zugenommen. Vor allem in den Schwellenländern ist die Vermögenskonzentration über die letzten Dekaden zurückgegangen – wobei es gewichtige Ausnahmen gibt: Indien und Indonesien in Asien, Russland in Osteuropa und Südafrika. In den Industrie ländern ergibt sich dagegen ein anderes Bild: In der Mehrzahl der Länder ist der Vermögensanteil der reichsten zehn Prozent gestiegen, besonders stark zum Beispiel in den USA oder auch Frankreich. Diese Entwicklung hat dabei bereits weit vor der Jahrtausendwende eingesetzt, bereits seit Ende der 1970er-Jahre ist wieder ein Anstieg der Vermögensungleichheit zu konstatieren. Weiter zurückgehende Daten sind für viele Länder – auch Deutschland – leider nicht verfügbar. Für die Handvoll an Ländern aber, für die die Vermögensdaten bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts zurückreichen – unter anderem die USA, Frankreich, Großbritannien, Schweden oder die Niederlande –, zeigt sich jedoch: Die hohen Werte der Vermögenskonzentration von vor 100 Jahren werden längst nicht wieder erreicht, der jüngste Anstieg hat die große Nivellierung durch zwei Weltkriege und anschließenden Wiederaufbau nicht rückgängig gemacht. Lediglich in den USA bewegt sich das Niveau der Vermögensungleichheit wieder in Richtung der 1920er-Jahre.

Drittens: Die USA sind die Ausnahme, nicht die Regel.

Häufig wird die wieder wachsende Ungleichheit als Zerfallserscheinung des Kapitalismus westlicher Prägung verstanden. Kronzeuge dieser Entwicklung sind die USA (nicht zuletzt da vor allem amerikanische Ökonomen die Debatte dominieren). Dies ist jedoch aus zwei Gründen irreführend: Zum einen ist eine große Vermögenskluft ebenso ein Problem für viele asiatische Länder, nicht zuletzt in jüngster Zeit auch China, und zum anderen stehen die USA keineswegs exemplarisch für den westlichen Kapitalismus. Im Gegenteil, sie sind im Hinblick auf die Vermögensverteilung sehr unterschiedlich zu europäischen Ländern, wie zum Beispiel der Vergleich zwischen Durchschnitt und Median des Netto-Geldvermögens zeigt: Während das durchschnittliche Netto-Geldvermögen eines US-Amerikaners 177.210 Euro erreicht, sind es in der Mitte der Verteilung gerade einmal 28.540 Euro, das heißt das Vermögen von 50 Prozent der Amerikaner ist geringer als dieser Wert. Der Durchschnittswert übertrifft den Medianwert also um den Faktor 6,2; für Westeuropa beläuft sich dieser Faktor im Durchschnitt auf 2,5.

Die sehr hohe Ungleichheit in den USA spiegelt dabei nicht nur enorme Einkommens- und Vermögenssteigerungen einer kleinen Elite wider (die neuen „Internet-Milliardäre“ des Silicon Valley), sondern vor allem auch die Stagnation in der breiten Mitte: Für die überwiegende Mehrheit der Amerikaner haben die realen Haushaltseinkommen in den letzten zwei Dekaden – im besten Fall – stagniert. Im Gegensatz zu früheren Generationen gab es daher auch keine nennenswerte Verbesserung des Lebensstandards. Es ist daher kein Wunder, dass viele Amerikaner dem tiefgreifenden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wandel dieser Zeit skeptisch bis ablehnend gegenüberstehen.

Viertens: Die jüngsten Zahlen deuten darauf hin, dass der Anstieg der Ungleichheit ausläuft.

Mit dem Anziehen der globalen Wirtschaftsleistung in den letzten beiden Jahren hat sich der Zug in Richtung ungleichere Verteilung wieder deutlich verlangsamt. Dies gilt beispielsweise auch für Deutschland, wo der Vermögensanteil des obersten Bevölkerungsdezils nur noch minimal gestiegen ist. In den USA konnte der Trend sogar (vorläufig?) gestoppt werden. Wachstum bleibt also die beste Medizin für eine „gerechtere“  Gesellschaft.

Aufstiegschancen statt Umverteilung

Damit wird auch deutlich, dass die naheliegende politische Antwort auf steigende Ungleichheit – mehr Umverteilung – in die Irre führt. Staatliche Alimentierung ist kein Ersatz für eine nachhaltige Einkommensentwicklung und gesellschaftliche Teilhabe, die bei wirtschaftlichem Wachstum möglich ist. Erfolgversprechende Maßnahmen zielen nicht in erster Linie auf die Verteilung der Einkommen und Vermögen per se, sondern auf Aufstiegschancen für die unteren Einkommens- und Vermögensklassen sowie auf die Revitalisierung ärmerer Regionen. Dazu ist ein ganzes Bündel an Maßnahmen erforderlich: eine konsequente Wachstumspolitik – unter anderem Strukturreformen zur Förderung von hoher Beschäftigung und gute Investitionsbedingungen; Bildungspolitik, vor allem mit Blick auf die frühen Jahre und die Berufsausbildung; Innovationspolitik, zum Beispiel durch Förderung von Unternehmensgründungen; regionale Wirtschaftsförderung, zum Beispiel durch Industrieansiedlung, gezielte Einwanderung und den Aufbau von Bildungseinrichtungen (Universitäten); und schließlich eine effektive Stadtplanung für bezahlbaren Wohnraum und zur Förderung der Mobilität.

Die letzten Dekaden der Globalisierung und des gesellschaftlichen Wandels haben viele Mensche überfordert, ökonomisch und kulturell.

Michael Heise

Letztlich lenkt die Fixierung auf die Frage, wie groß das Stück vom Einkommens- und Vermögenskuchen einzelner Bevölkerungsgruppen ist, von den eigentlichen Problemen ab. Die letzten Dekaden der Globalisierung und des gesellschaftlichen Wandels haben viele Menschen überfordert, ökonomisch und kulturell. Für diese Menschen muss die Politik ein neues Angebot der „sozialen Zugehörigkeit“ formulieren, das Aufstiegschancen eröffnet und sich nicht in einfachen Abwehrreaktionen – keine Zuwanderung, Protektionismus, Nationalismus – erschöpft. Dies ist eine schwierige und große Aufgabe, der man allein durch Drehen an der Steuerschraube und das Verteilen neuer Wohltaten nicht gerecht werden kann.