Sterbende bis zuletzt liebevoll begleiten und umsorgen, das ist das Ziel der Palliativmedizin. (Bild: openlens - Fotolia)
Katastrophen und Religion

Das Zeichen Gottes gegen die Kultur des Todes

Nach dem Germanwings-Absturz überwältigt Trauer die Menschen. Ganz Deutschland, Frankreich und Spanien stehen unter Schock, durch die weltweite Medien-Verflechtung ist sogar in aller Welt die Betroffenheit groß. Fassungslosigkeit. Und immer wieder die Frage: Warum?

Fassungslos reagieren die Menschen erst recht, als der Leitende Staatsanwalt in Marseille bekanntgibt, dass der erst 27 Jahre alte Copilot die Katastrophe bewusst herbeigeführt haben soll. Das legen die Sprachaufzeichnungen aus der sogenannten Black Box nahe, sagt der Ermittler. Zeitungen und Fernsehsendungen sind seither voller Spekulationen, an welcher psychischen Krankheit der Copilot gelitten haben soll. Manche Medien nennen seinen vollen Namen, zeigen sein Gesicht unverpixelt, ja sogar sein Elternhaus, zusammen mit der ganzen Medienmeute davor. Manche Medien nennen die Tat einen „erweiterten Selbstmord“, einen „Amoklauf“, gar ein „Selbstmordattentat“. Diese Art der Berichterstattung und Kommentierung wiederum stößt bei vielen Medienkritikern auf Ablehnung, sie wenden sich gegen diese „Stigmatisierung“ sowohl von psychisch Kranken als auch der Eltern des Copiloten – und verwenden dabei bewusst oder unbewusst eine Vokabel des Karfreitags.

Wäre es zu verhindern gewesen?

Fassungslosigkeit. Bei all dem Abgründigen dieses Flugzeugabsturzes, der für 150 Menschen den Tod und für viele, viele Familien einen bleibenden Karfreitag brachte, stelle ich mir immer wieder die spekulative Frage: Was wäre gewesen, wenn noch um 9.00 Uhr morgens, vielleicht kurz vor Abflug, noch jemand freundlich mit dem Copiloten gesprochen hätte – vielleicht auch noch um 10.00 Uhr, ehe er wohl den fatalen Sinkflug einleitete. Was wäre, wenn er einen freundlichen Handschlag oder einfach ein paar gute Worte bekommen hätte? Wäre dann vielleicht der Tod ausgeblieben? Wir wissen es nicht.

Den Karfreitag, die Sendung Jesu in den Tod am Kreuz, sehe ich genau in dieser Bedeutung. Es ist diese ungeheure und unbegreifliche Entäußerung Gottes, die für die Menschheit den Tod abwendet. Das Johannesevangelium interpretiert diese grenzenlose Zuwendung Gottes zu den Menschen in einem der schönsten Sätze, die uns im dritten Kapitel begegnen: „Denn so sehr hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen einzigen Sohn hingab, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht zugrunde geht sondern das ewige Leben hat. Denn Gott hat seinen Sohn nicht in die Welt gesandt damit er die Welt richtet, sondern damit die Welt durch ihn gerettet wird.“

Im Alphabet des Evangeliums ist das Kreuz die Liebe, die den Tod aufhält. Es ist diese liebende Begegnung, die hingereichte Hand Gottes an die Menschen, die die Wendung bringen könnte, und den fatalen Gang der Ereignisse aufhält. Als Christen leben wir in der Nachfolge des Gekreuzigten. Auch unser Leben sollte in unserer Zeit und in unserem Lebensumfeld einer solchen Kultur des Todes Einhalt gebieten. Unsere Existenz sollte solche liebende Begegnung sein, die für andere Menschen Leben ermöglicht.

Ich denke im Blick auf die großen Lebensrettungsaufgaben unserer Zeit an unser Nachbarland Belgien. Vor kurzem stimmte die Abgeordnetenkammer über die gesetzliche Freigabe von aktiver Sterbehilfe für Minderjährige ab. Belgien wäre damit weltweit das erste Land, das für aktive Sterbehilfe keine Altersgrenze mehr vorgibt. Welch eine Vorstellung, dass Kinder im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte, wenn sie den Sterbenswunsch freiwillig, überlegt und wiederholt geäußert haben und eine Hoffnung auf Linderung nicht besteht, für die aktive Tötung vorgesehen sind. Welch ein ungeheurer Einbruch in die Kultur des Lebens mitten auf europäischem Boden! Gerade bei Kindern und Minderjährigen müsste doch die Fürsorgepflicht und die Verantwortung für das Lebensrecht und die Würde ins Unermessliche steigen!

Sterbehilfedebatte: Der Damm ist längst gebrochen

Und wer verhindert, dass diese fatale Bewegung weitergeht? Wann wird sich die Euthanasiedebatte auch auf andere nicht einwilligungsfähige Personenkreise ausdehnen? Wann wird sie zu einer evidenten Bedrohung für Menschen mit Behinderung und psychisch kranke Menschen? Müsste man in der Analyse der Sterbehilfedebatte unserer Tage vielleicht sogar den eingefahrenen Begriff vom gesellschaftlichen Dammbruch verlassen? Der Damm ist doch längst gebrochen. Wir bewegen uns auf einer schiefen Ebene, in der sich eine lebensfeindliche Initiative stetig beschleunigt. Unsere christliche Verantwortung und Aufgabe muss darin bestehen, nicht Hilfe zum Sui­zid, sondern Hilfe zum Leben bereitzustellen. Viele Bitten um aktive Sterbehilfe sind angstgetrieben: Angst vor Schmerzen, Angst vor dem Pflegefall.

Da sollten doch all die guten Möglichkeiten der Palliativmedizin in der Schmerzlinderung und der Gedanke der Hospizbewegung noch deutlicher bekanntgemacht werden. Menschen in ihrer letzten Lebensphase, die vielleicht die wichtigste Phase ihres Lebens sein kann, sollten sie in einer humanen Gesellschaft, in freiheitlicher und liebevoll begleiteter Umgebung verbringen können. Nicht die schiefe Ebene der aktiven Sterbehilfe, sondern die liebevolle Begleitung und Stützung in der letzten Lebensphase, ohne ökonomischen und sozialem Druck von außen sollte die Maxime unseres Handelns sein.

Bei der Diskussion um organisierte Sterbehilfe geht es um den Wasserstand einer Kultur des Lebens in unserer demokratischen Gesellschaft.

Anton Losinger

Diese Frage der aktiven Sterbehilfe begegnet uns auch im Bundestag, wo verschiedene Gesetzesvorlagen zu einem Verbot der organisierten oder gar kommerziellen Sterbehilfe zur Debatte stehen. Hier geht es um nicht mehr und nicht weniger als um den Wasserstand einer Kultur des Lebens in unserer demokratischen Gesellschaft, die sich Lebensrecht und Würde in den ersten Artikel des Grundgesetzes gesetzt hat. Wenn es in dieser Debatte lebende Argumente bräuchte, dann ist es für mich der berühmte Tübinger Rethorikprofessor Walter Jens. Inge Jens, seine einfühlsame Ehefrau brachte die Überlebensfrage der Sterbehilfedebatte in einem Interview mit dem Zeit-Magazin auf den Punkt. Über ihren schwer demenzkranken Mann sagte sie: „Als Gesunder hat er für Sterbehilfe plädiert, und als Kranker hat er leben wollen. Mit dieser Erkenntnis bin ich noch lange nicht fertig. Doch wer hätte das Recht gehabt, ihn umzubringen?“ Dies sollte auch uns über die Frage der Freiheit der Entscheidung zu aktiver Sterbehilfe nachdenken lassen. Es ist geradezu die Pflicht einer humanen Gesellschaft, Menschen in existentieller Angst und Verzweiflung zum Leben zu puschen statt zum Tod.

Liebevolle Sterbebegleitung

Niemand von uns weiß, welche Richtung der eigene Lebensbogen nehmen wird, und welchem Tod wir selber einmal entgegen gehen werden. Zwei Geschenke, die in ihrer Größe unbezahlbar sind, möchte man sich in dieser Stunde für jeden Menschen wünschen: Erstens eine liebevolle Begleitung von Menschen, die einem die Hand reichen. Das lateinische Wort pallium, von dem sich die moderne Palliativmedizin ableitet bedeutet ja auf Deutsch: der Mantel. Solche Menschen und solche Begleiter benötigen wir, die Sterbenden in einen bergenden Mantel einhüllen, wenn sie die wichtigste und entscheidende Lebensphase am Ende des Lebens in Freiheit und Würde tragen sollen. Der zweite Wunsch ist der Trost, der im Kreuz liegt.

Romano Guardini, einer der Größten der Theologie des 20. Jahrhunderts, versucht in seinem unvergleichlichen Buch „Der Herr“ eine Interpretation des Lebens Jesu. Als er zu dem letzten dunklen Buch der Heiligen Schrift gelangt, zum Buch der geheimen Offenbarung des Johannes, und als er die beängstigenden Bilder des Untergangs und der Bedrängnis der Apokalypse betrachtet, da stellt er die Frage: Wie tröstet Gott? Seine Antwort lautet:

Gott tröstet nicht so, wie wir es gerne mit kleinen Kindern machen. Er tröstet „nicht so, dass er sagte, die Not sei im Grunde gar nicht so schlimm. Sie ist schlimm und wird auch schlimm gesehen. Gott verheißt auch keine wundersamen Eingriffe. Die Geschichte hat ihre Zeit und ihre Macht, auch wo sie sich wider Gott richtet, und die Schwerkraft und die Not der Geschichte werden nicht aufgehoben. Doch so tröstet Gott. Über der irdischen Wirklichkeit wird die himmlische gezeigt. Über den bedrängenden Mächten der Geschichte erscheint der gekreuzigte Christus.“

Der Autor ist Weihbischof der Diözese Augsburg sowie Mitglied im Deutschen Ethikrat und in der Bioethik-Kommission der Bayerischen Staatsregierung. Außerdem ist er Stiftungsratsvorsitzender der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt.