Konstituierende Sitzung des 19. Deutschen Bundestages: Mit 709 drängen sich so viele Abgeordnete wie noch nie im Plenum. (Foto: Picture alliance)
AfD

Vorgetäuschte Bürgerlichkeit

Gastbeitrag Die AfD fällt im Bundestag vor allem durch Lautstärke auf und durch ihre Versuche, den parlamentarischen Betrieb zu stören. Eine Zwischenbilanz aus dem aktuellen BAYERNKURIER-Magazin vom parlamentarischen Geschäftsführer der CSU-Landesgruppe.

Wäre Lautstärke ein Maßstab für die Wirksamkeit und Qualität parlamentarischer Oppositionsarbeit, dann wären die 94 Abgeordneten der AfD im Deutschen Bundestag wirklich unschlagbar. Zum Glück ist Lautstärke im parlamentarischen Betrieb aber genau dies nicht. Das haben selbst Grüne und Linke längst begriffen – und verzichten wegen langfristiger Wirkungslosigkeit inzwischen weitgehend darauf.

Es ist nur eine der Erfahrungen, die wir seit acht Monaten mit den Parlamentsneulingen vom rechten Rand machen müssen: Inhaltlichem Dissens verleihen sie nicht zuerst durch inhaltliche Gegenrede Ausdruck, so wie es parlamentarischer Zweck, Nutzen und guter Brauch ist, sondern durch kollektives Zwischenrufen, das nicht selten in lautstarken Beschimpfungen der anderen Fraktionen und ihrer Redner gipfelt – und unweigerlich immer wieder in Ordnungsrufen des Präsidenten endet.

Nun gehören Zwischenrufe zu Parlamentsdebatten wie das Salz in der Suppe. Aber bekanntlich macht die Dosis das Gift. So auch hier: Die AfD-Abgeordneten setzen Zwischenrufe erkennbar bewusst und systematisch dazu ein, die Reden von Abgeordneten anderer Fraktionen zu unterbrechen und dadurch so sehr zu stören, dass es einem mitunter schwerfällt, der Argumentation der Kollegen noch zu folgen. Das perfide Prinzip dahinter lautet „Debatten behindern und verhindern.“

Aufmerksamkeit über alles

Das andere Prinzip hinter diesem Verhalten ist simpel. Es heißt „Aufmerksamkeit durch Provokation“. Dieses Rezept befolgen vor allem die wenigen, redegewandteren Galionsfiguren, die für die AfD als größte Oppositionsfraktion regelmäßig im Bundestag und außerhalb des Parlaments sprechen.

Da fabuliert beispielsweise die Co-Fraktionsvorsitzende Weidel mit bewusst unklarem Bezug über „Burkas, Kopftuchmädchen und alimentierte Messermänner und sonstige Taugenichtse“. Natürlich kassiert sie den erwarteten und sehr wahrscheinlich einkalkulierten Ordnungsruf, nur um diesen tags darauf öffentlichkeitswirksam anzufechten. So maximiert man in einer auf derart oberflächlichen Krawall allzu leicht anspringenden Umgebung die Aufmerksamkeit der Leser, Hörer, Zuschauer und User. Dass ihr allzu fadenscheiniger Einspruch in einer demokratischen Abstimmung von der großen Mehrheit des Hauses abgelehnt wird, das interessiert dann schon niemanden mehr.

Das Prinzip, nach dem AfD handelt, heißt „Aufmerksamkeit durch Provokation“.

Stefan Müller, parlamentar. Geschäftsführer der CSU-Landesgruppe

Ein anderer exemplarischer Fall ist der Abgeordnete Curio, der immer wieder durch äußerst scharfe Formulierungen und Forderungen von sich reden macht. Nicht selten bewegt er sich dabei am Rand des rechtlich Zulässigen und meist am Rand des politisch Erträglichen. So etwa geschehen aus Anlass der Freilassung des Journalisten Deniz Yücel aus türkischer Haft: Von der Bundesregierung im Bundestag allen Ernstes zu verlangen, die Arbeit eines Journalisten öffentlich zu verurteilen, ist de facto ein Anschlag auf die grundgesetzlich garantierte Pressefreiheit.

Die Presse- und Meinungsfreiheit ist aus gutem Grund einer der Eckpfeiler unserer Verfassungsordnung. Auch Journalisten müssen selbstverständlich öffentliche Kritik an Ihrer Arbeit hinnehmen, für Verfassungsorgane und Politiker gilt dabei aber nach allgemeinem Verständnis und jahrzehntelanger Übung eine Verpflichtung zu besonderer Zurückhaltung.

Indem sie solche demokratischen Grundkonstanten fortgesetzt in Frage stellt, begeht die AfD bewussten Tabubruch. Der Gewinn, den sie dafür leider allzu reichlich einfährt, bemisst sich in Druckzeilen, Sendeminuten und Klickzahlen.

Parlamentarische Bräuche werden ignoriert

Ein weiteres offenkundiges Handlungsprinzip der AfD-Fraktion ist die gezielte Ausnutzung von Spielräumen parlamentarischer Verfahren und das Ignorieren parlamentarischer Gepflogenheiten zum eigenen Vorteil.

Der Deutsche Bundestag versteht sich von jeher als Arbeitsparlament. Der Schwerpunkt der parlamentarischen Arbeit liegt in den Ausschüssen und anderen parlamentarischen Gremien, nicht nur in Plenardebatten. Das führt immer wieder dazu, dass parallel zu Plenardebatten auch andere Gremien tagen, sodass der Plenarsaal bei normalen Debatten selten voll besetzt ist. Häufig verfolgen Kollegen Debatten auch in ihren Büros, um parallel anderen Abgeordnetenaufgaben nachzukommen, eilen aber zu Abstimmungen in den Plenarsaal. Dieser Umstand sorgt immer wieder einmal für Kritik, die aber sofort verstummt, sobald die Arbeitsweise des Parlaments erläutert wird.

Vor diesem Hintergrund konnte es der AfD im Januar gelingen, die anderen Fraktionen in einer Plenarsitzung regelrecht vorzuführen, indem sie beantragte die Beschlussfähigkeit des Hohen Hauses festzustellen. Tatsächlich waren damals nur 312 statt der erforderlichen 355 Kollegen anwesend. Der Antrag auf Feststellung der Beschlussfähigkeit ist nicht zu kritisieren, denn das Parlament hatte seine eigenen Regeln verletzt. – Soweit, so schlecht.

Revanche anstelle von Argumenten

Aufhorchen ließ allerdings die offizielle Begründung, die der AfD-Co-Fraktionsvorsitzende Gauland für den Antrag abgab: Es sei seiner Fraktion um „Revanche“ gegangen, verkündete er damals. Revanche dafür, dass die anderen Fraktionen vorher einem AfD-Kandidaten für das Parlamentarische Kontrollgremium mehrheitlich die Zustimmung verweigert hatten.

„Revanche“ ist indes keine Kategorie parlamentarischer Gepflogenheiten. Sie kann es nicht sein, sie darf es nicht sein. Im Gegenteil: Der Parlamentarismus ist gerade darauf angelegt, Konflikte argumentativ auszutragen und zu verbindlichen Mehrheitsentscheidungen, gegebenenfalls und idealerweise zu guten Kompromissen, zu kommen, die auch diejenigen akzeptieren, die in der Minderheit geblieben sind.

Ein rachsüchtiges Verhalten nach dem unverhohlenen Motto „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ führt diesen Grundkonsens des Parlamentarismus ad absurdum. Wer also, wie Gauland, im Bundestag sein Handeln allen Ernstes damit begründet, dass er laut „Revanche“ ruft, zeigt damit, worum es ihm eigentlich geht: Um Krawall. Um Spaltung. Um die Aufkündigung des Grundkonsenses der Demokraten zum eigenen kurzfristigen Vorteil.

Demontage der Arbeitsfähigkeit des Parlaments

Wer es darauf anlegt, kann die Arbeit des Parlaments aber nicht nur durch derart gezielte Missachtung der Gepflogenheiten stören, sondern auch durch trickreiche Nutzung der Möglichkeiten, welche die parlamentarischen Spielregeln eröffnen. Mit Geschäftsordnungsanträgen oder der Einreichung von Anträgen sehr kurz vor Ablauf von Antragsfristen kann man eine Menge Unruhe stiften und den geregelten Betrieb aufhalten.

Weil bislang alle Fraktionen im Deutschen Bundestag das Interesse an der Arbeitsfähigkeit des Parlaments über den kleinteiligen, situativen Vorteil stellten, haben sich eine Reihe von ungeschriebenen Regeln des interfraktionellen Umgangs etabliert. Dazu gehört insbesondere unter den Parlamentarischen Geschäftsführern auch die einfache Anstandsregel, dass man sich gegenseitig mit angemessenem Vorlauf informiert, wenn man Themen auf die Tagesordnung setzen will. Die AfD missachtet diese ungeschriebenen Regeln des guten, kooperativen Umgangs unter Parlamentariern.

So ließ sie März beispielsweise eine ganze Reihe von Gelegenheiten ungenutzt verstreichen, bei denen sie die anderen Fraktionen darüber hätte informieren können, dass sie eine Abstimmung über eine Subsidiaritätsrüge gegenüber der EU außerplanmäßig auf die Tagesordnung setzen möchte. Stattdessen reichte sie ihren entsprechenden Antrag dazu in allerletzter Minute beim Parlamentssekretariat ein, sodass den anderen Fraktionen jede Möglichkeit versperrt war, sich damit noch angemessen zu befassen. Die unvermeidliche Geschäftsordnungsdebatte verlief dann wieder nach dem schon beschriebenen Muster, mit Krawall und Provokation ein Maximum an Aufmerksamkeit zu generieren.

Grundkonsens unter Beschuss

So hat sich in der kurzen Anfangsphase der 19. Wahlperiode des Deutschen Bundestages mit dem Einzug der AfD nicht nur der Charakter der Plenardebatten grundlegend verändert, sondern die parlamentarische Arbeit insgesamt.

Die Organisation des Parlamentsbetriebs dauert länger und ist komplizierter geworden, sinnvolle, lange tradierte parlamentarische Umgangsformen stehen unter Beschuss, Gepflogenheiten werden bewusst missachtet, um ein Maximum an öffentlicher Aufmerksamkeit zu erzeugen. Kurz: Die AfD versteht sich nicht als Teil dieses Parlaments, nicht als konstruktive Opposition. Sie tritt vielmehr als dünnhäutig-destruktive Truppe auf, die sich ganz im Gauland‘schen Sinn auf die Fahnen geschrieben hat, die anderen Fraktionen zu „jagen“. Dabei nimmt die AfD auch die Beschädigung guter und wertvoller parlamentarischer Traditionen billigend in Kauf, weil sie die Traditionen des demokratischen Deutschland mindestens geringschätzt – in einem nicht geringen Teil der Fraktion wohl sogar verachtet.

Wer derartiges Verhalten wohlwollend auf die parlamentarische Unerfahrenheit der AfD schiebt, ist naiv. Denn die AfD hatte derartige antidemokratische Manöver, die nur zum Ziel haben, den Bundestag als Ganzes bei den Bürgern zu diskreditieren, schon im Bundestagswahlkampf angekündigt und offenbar auch akribisch vorbereitet. Und sie plant ganz offensichtlich, diesen Weg konsequent weiter zu gehen.

Anschein der Bürgerlichkeit

Niemand sollte sich täuschen lassen: Die AfD im Bundestag handelt – allem gepflegten Äußeren zum Trotz – nicht nach den Maßstäben bürgerlicher Wertvorstellungen und Tugenden, wie Höflichkeit, Fairness, Verlässlichkeit, Toleranz oder Kooperationsbereitschaft.

Gentleman wird man aber nicht allein durch ostentatives Tragen von Tweedsakkos und englischen Hundekrawatten. Und die Grundtugenden der respektvollen demokratischen Auseinandersetzung demonstriert man primär durch innere Haltung und vor allem durch entsprechendes Verhalten.

Das gezielte Vorführen anderer, die gezielte Verunglimpfung anderer Meinungen und die gezielte Störung der parlamentarischen Debatten sind das glatte Gegenteil von bürgerlichem Verhalten.

Stefan Müller, MdB

Das gezielte Vorführen anderer, gezieltes Ausreizen von Spielräumen zum eigenen Vorteil, die gezielte Verunglimpfung anderer Meinungen und die gezielte Störung der parlamentarischen Debatten sind das glatte Gegenteil von bürgerlichem Verhalten. Wer sich verhält wie die AfD im Deutschen Bundestag, der täuscht seine Bürgerlichkeit nur vor und versucht damit, die Menschen im Land hinters Licht zu führen.

Wir werden dieses Verhalten nicht akzeptieren und nach Kräften dagegenhalten. Und wir müssen als CSU diese Strategie demaskieren wo wir können, denn sie läuft letztlich auf den Versuch hinaus, das ganze Land zu spalten.

Stefan Müller ist CSU-Bundestagsabgeordneter. Seit 2002 vertritt er den Wahlkreis Erlangen und Erlangen-Höchstadt in Berlin. Er war von 2009 bis 2013 Parlamentarischer Geschäftsführer der CSU-Landesgruppe im Deutschen Bundestag. Seit Oktober 2017 hat er dieses Amt erneut inne.