Die Abgeordneten der 19. Legislaturperiode verfolgen die Debatte im Plenum des Deutschen Bundestags. (Foto: picture alliance)
Debatte

Anfällig für Vereinfacher

Gastbeitrag In einer Welt, die immer komplexer wird, erwarten die Menschen, dass die etablierten Parteien ihnen Orientierung geben. Sonst wenden sie sich Populisten zu, sagt der Politologe Prof. Werner Weidenfeld. Aus dem aktuellen Bayernkurier-Magazin.

Ein Erdbeben hat die Parteienlandschaft erfasst. Die großen Volksparteien verlieren deutlich an Anhängern. Die kleinen Parteien breiten sich weiter aus. Die Liberalen kehren in den Bundestag zurück – und erstmals etabliert sich dort kraftvoll eine rechtspopulistische Protestpartei. Und dann tun sich die Parteien in diesem sehr bunt gewordenen Parlament sehr schwer, eine Regierung zu bilden. Warum passiert das alles? Auf dieses große Fragezeichen zur politischen Kultur gilt es Antworten zu finden.

Die Parteien verhandeln um unendlich viele Details, meist pekuniärer Art: Steuern, Haushalt, Klima, Energie, Umwelt, Migration, Landwirtschaft, Sozial- und Rentenpolitik, Sicherheits- und Rechtspolitik. In all diesen Details – begleitet von inszenierten Macht-Spielen und Profilierungsdramen – vermisst der Bürger die Erklärung, die Deutung, die Orientierung. Man kann all dies unter der Überschrift zusammenfassen: strategische Sprachlosigkeit. Das fluide Stimmungsmilieu ist das Ergebnis einer Ära der Komplexität, die in ein Zeitalter der Konfusion mündet. Damit bietet sich ein großer Markt für populistische Slogans: Die Anfälligkeit für jede Art der groben Vereinfachung ist gegeben. Die Wahlergebnis in praktisch allen europäischen Ländern liefern Belege dafür.

Wo früher Zufriedenheit, Zuversicht, Selbstgewissheit dominierten, sind nun Verunsicherung, Besorgnis, Frustration festzustellen.

Prof. Werner Weidenfeld

Fragen ohne Antworten

Ein merkwürdiger Wahrnehmungsteppich legt sich über die Republik. Wo früher Zufriedenheit, Zuversicht, Selbstgewissheit dominierten, sind nun Verunsicherung, Besorgnis, Frustration festzustellen. Dies ist ein Prozess, der seit etwa 15 Jahren zu beobachten ist. Das politisch-kulturelle Unterfutter der Gesellschaft hat sich tiefgreifend verändert. Es ist nicht mehr jener Parteienstaat von vor 10, 20, 30 Jahren – und auch nicht mehr jene Medienlandschaft und jene Zivilgesellschaft. Das Bild von der Zukunftsgesellschaft , die Konzeption des künftigen Zusammenlebens, die Beschaffung von Legitimation, die Regelung der neuen weltpolitischen Risikostrukturen – alle diese Megathemen bleiben ohne präzise Behandlung.

Die punktuelle Sprunghaftigkeit des Blicks auf die Megathemen wird zudem begleitet von den üblichen politischen Machtspielen. Wer wird wen aus der politischen Führung abräumen? Wenn schon keine Klärung der Grundfragen ansteht, dann will man wenigstens Punktgewinne im Wettkampf der Parteien oder der Kandidaten registrieren. Die Traditionsparteien praktizieren routiniert ihre immer wieder geübten Spiele: Da gehört Sticheln zum Geschäft und da gehört Pokern um Punkte zum Geschäft. Sprachkämpfe werden ausgetragen – und sei es um einzelne Symbolbegriffe. Emotionen sind dabei kaum noch zu bremsen. Die Lage der Republik ist verwirrt und verunsichert. Sie ist aufgeregt und fluide.

Halten wir fest: In einer Epoche, in der wegen dramatisch wachsender Komplexität der Sachverhalte ein immenser Bedarf an Orientierung besteht, sind die Quellen des Orientierungswissens versiegt. Ein Land in der Orientierungslosigkeit ist ein Land in Not. Als Produzenten von Orientierungen sind gegenwärtig alle gleichermaßen gefordert: Politik, wie Medien und Wissenschaft – oder anders formuliert Parteien wie Universitäten, Zeitungen und Akademien. Sie alle sollten aufpassen, dass die moderne Gesellschaft nicht aus den Fugen gerät.

Ratlosigkeit wird zur politischen Alltagsware, die durch den häufigen Ausruf der ‚Alternativlosigkeit’ mühsam kaschiert wird.

Prof. Werner Weidenfeld

Die USA fallen aus

Zudem wird klar, dass der letzte Ersatzlieferant politischer Orientierung ausfällt: die USA. Über viele Jahrzehnte war Amerika als positives Vorbild oder als negativer Antipode der Orientierungsort für viele Deutsche. Man wollte das Vorbild nachahmen oder in antiamerikanischen Affekten dagegen angehen. Angesichts der dramatisch anwachsenden Spannung und Polarisierung der amerikanischen Gesellschaft und der damit verbundenen Blick- und Norm-Veränderung wird dies zunehmend unmöglich.

Inzwischen vollzieht sich die Erosion der Tiefendimension der transatlantischen Beziehungen mit wachsender Geschwindigkeit. Nicht ohne Grund spricht man inzwischen vom Kulturbruch mit Amerika, vom Ende der transatlantischen Selbstverständlichkeiten.

Diese Lücke könnte Europa füllen – als strategischer Entwurf, als normativer Horizont, als Narrativ von Vergangenheit und Zukunft, als Erfolgsgeschichte. Aber bisher lässt das Europa-Thema mit seinem bürokratischen Klein-Klein, mit seiner Intransparenz diesen Bedarf unbefriedigt.

Es liegt auf der Hand, was den Parteien zu raten ist: heftige, intensive Arbeit an den strategischen Zukunftsperspektiven!

Prof. Werner Weidenfeld

Vor diesem Hintergrund wird die eigentliche, tiefgründige Herausforderung der Parteien in ihrem Schwierigkeitsgrad begreifbar: Wir orientieren unser Handeln an dem vermuteten Verhalten des anderen. Jede Gesellschaft lebt insofern von einem Vorschuss an historisch und politisch abgesichertem Vertrauen. Wo dieses Vertrauen fehlt und wo dieses Vertrauen in Misstrauen umschlagen muss, dort büßen die politischen und sozialen Beziehungen ihre Kalkulierbarkeit ein. Ratlosigkeit wird zur politischen Alltagsware, die durch den häufigen Ausruf der ‚Alternativlosigkeit’ mühsam kaschiert wird.

Wir wissen inzwischen: Die alten Deutungsversuche scheitern. Die bisherigen Interpretationshilfen von ‚rechts’ und ‚links’, von ‚konservativ’ und ‚progressiv` helfen nicht mehr weiter in einem Zeitalter der neuen Komplexität und der neuen Konfusion. Es liegt auf der Hand, was den Parteien zu raten ist: heftige, intensive Arbeit an den strategischen Zukunftsperspektiven!

Der Autor:

Prof. Dr. Dr. h.c. Werner Weidenfeld ist Direktor des Centrums für angewandte Politikforschung der Ludwig-Maximilians-Universität München und Rektor der Alma Mater Europaea der Europäischen Akademie der Wissenschaften und Künste (Salzburg).