Der Eingang zur Hanns-Seidel-Stiftung in München. (Bild: HSS)
HSS-Bericht

Europa im Stresstest

Europa steht unter Druck, intern und extern. Die Gleichzeitigkeit derart großer Krisen ist neu für den Staatenbund. Im neuesten Bericht der Hanns-Seidel-Stiftung aus Brüssel wird deutlich: Die Flüchtlingskrise bringt Europa an die Grenzen der Belastbarkeit - es steht viel auf dem Spiel.

Europa steht unter Druck, intern und extern. Die Gleichzeitigkeit derart großer Krisen ist neu. Gemeinhin schätzte man, dass die EU nur zwei große Krisen gleichzeitig bewältigen kann. Wenn es wie derzeit mehr werden, dann steht Europa schnell mit dem Rücken zur Wand, organisatorisch und rhetorisch. Es ist keineswegs ausgemacht, dass die bisherige Logik des europäischen Krisen­managements auch künftig greifen wird. Bislang galt: Mit jeder Krise wird die EU stärker und das europäische Einigungswerk robuster. Doch heute nehmen die Unkenrufe zu, die Europa überfor­dert sehen. Zu den Unkenrufen gesellen sich schon Prophezeiungen des Untergangs der EU. Und die Flüchtlingskrise legt täglich die Schwachstellen bloß, hinter denen der beschämende Mangel an europäischer Solidarität nur notdürftig kaschiert wird. In der Migrationsfrage zeigen sich der Grad an Verdichtung der Europapolitik und die Konsequenzen der Globalisierung sehr viel unmit­telbarer als in der letztlich doch etwas abstrakten Währungs- und Finanzpolitik. Zwar rufen auch die Geldpolitik der Europäischen Zentralbank und das unsolide Haushaltsgebaren in nicht weni­gen EU-Mitgliedsstaaten Sorgen in der Bevölkerung hervor. Doch das sind ungewisse Wechsel auf die Zukunft, die erst später fällig werden. Die Flüchtlinge stehen jedoch heute vor der Tür, nicht nur abstrakt, sondern real in Griechenland und Italien, in Schweden, Österreich, Ungarn und vor allem Deutschland.

Schlechte Umsetzung guter Beschlüsse

Es rächt sich jetzt, dass man viele gute Beschlüsse auf europäischer Ebene nur unzureichend um­setzte. Seit Langem wurden mehr Kompetenzen für Frontex, die europäische Grenzschutzbehörde, gefordert, doch die Mitgliedsstaaten stellten kein Personal zur Verfügung oder blockierten den Frontex-Einsatz. Auch die europäische Asylbehörde EASO blieb unterbesetzt, und gegen eine Quo­tenregelung zur gerechteren Verteilung von Flüchtlingen sperrte sich lange Deutschland. Schließ­lich hatte man ja nicht nur in Berlin mit den Dublin-Verordnungen, wonach der EU-Erststaat für das Asylverfahren zuständig ist, viel Flüchtlingsdruck auf andere abgegeben und mahnte zunächst einmal die Umsetzung des bestehenden EU-Rechts an. Dies ist der Hintergrund, weswegen nun Deutschlands Ruf nach europäischer Solidarität bei der Flüchtlingsaufnahme weitgehend unge­hört verhallt. Viele Länder blicken mit Schadenfreude auf das Land, das im Gegensatz zum euro­päischen Durchschnitt gestärkt aus der Finanz- und Wirtschaftskrise hervorging und in den letzten Jahren nachhaltig für einen harten budgetären Konsolidierungskurs plädierte. Jetzt, so denkt man offensichtlich in manchen Hauptstädten, sieht Deutschland endlich einmal, wie es ist, in der Krise zu stecken und auf Hilfe von außen angewiesen zu sein. In Brüssel ist man hinter vorgehaltener Hand gar nicht unglücklich darüber, dass Deutschland seine Führungsrolle in Europa eingebüßt hat. So muss Deutschland wieder stärker auf die EU-Institutionen und die anderen EU-Staaten zugehen. Wirtschaftspolitische Forderungen wie die gemeinsame europäische Einlagensicherung, die im Grunde genommen zur Unzeit, da ohne aktuelle Regulierungsnotwendigkeit, kommen, scheinen ein Indikator dafür zu sein, dass man Junktims mit der Flüchtlingsfrage herstellt. Und da man in Brüsseler Institutionen ohnehin gerne in gesamteuropäischen Stabilisierungs- und Ver­teilungskonzepten denkt, dürften sich Politiker wie Matteo Renzi gestärkt fühlen, wenn sie Berlin auf Solidaritätshilfen verpflichten wollen. Jedenfalls läuft die italienische Position darauf hinaus, die verabredeten Zahlungen in den Türkei-Fonds nur zu leisten, wenn im Gegenzug die Defizitre­geln im Wachstums- und Stabilitätspakt geändert, sprich gelockert werden. Europa hat ein Voll­zugsproblem, zu viele Maßnahmen stehen nur auf dem Papier und werden nicht in die Praxis um­gesetzt. Dies ist Wasser auf die Mühlen europaskeptischer Populisten, die nationale Lösungswege suggerieren und Europa als Teil des Problems und nicht als Teil der Lösung sehen. Zum ehrlichen politischen Diskurs gehört aber anzuerkennen, dass wir heute in den meisten Politikfeldern mehr europäische Entscheidungen brauchen und nicht weniger. Nur müssen diese Entscheidungen auch implementiert werden.

Die in der zweiten Jahreshälfte anstehende Revision des mehrjährigen EU-Finanzrahmens bietet die Gelegenheit, Europas Prioritäten zu schärfen und für diese prioritären Handlungsfelder auch entsprechende Haushaltsmittel zu allokieren. Bei der Verabschiedung des mehrjährigen Finanz­rahmens 2014 kam es Deutschland und Großbritannien darauf an, Budgetkürzungen durchzuset­zen, um ein Signal für eine schlanke EU zu geben. Jetzt muss ein Signal folgen, dass Europa handlungsfähig bleibt und für die drängendsten Probleme auch Ressourcen zur Verfügung stehen. Die Idee einer europäischen Benzinsteuer für die Bewältigung der Flüchtlingskrise deutet in diese Richtung.

Schwächelnde Regierungen

Das Finanzkrisenmanagement der letzten Jahre brachte es fast zwangsläufig mit sich, dass das Gewicht des Rates der EU (bestehend aus den Fachministern der Mitgliedsstaaten) und insbeson­dere des Europäischen Rates (alle Regierungs- bzw. Staatschefs) als wichtigste EU-Institutionen wuchs. Es blieb aber mehr Wunsch als Realität, das Krisenmanagement im Wege der Gemein­schaftsmethode zu vollziehen, statt intergouvernemental vorzugehen.

Mit Blick auf die politische Lage in nicht unwichtigen Mitgliedsstaaten entsteht aus diesem ambivalenten Verhältnis von notwendigen europäischen Entscheidungen einerseits und schwächelnden nationalen Regierun­gen andererseits eine neue Chance für gemeinsames europäisches Handeln, sofern die EU-Kom­mission klug agiert und sich wirklich auf das Große in Europa konzentriert. Regulierungsentwürfe für Christbaumkerzen gehören nicht dazu. Spanien hat im Dezember gewählt, ohne im Anschluss eine stabile Regierung bilden zu können. Frankreich war Opfer brutaler Terroranschläge und muss sich der Gefahr einer rechtsextremen Machtübernahme durch Marine Le Pen erwehren. Matteo Renzi überreizt seine europäischen Karten und geht auf Kollisionskurs mit Angela Merkel. David Cameron ist als Gefangener seiner innenpolitischen Kalküle mit steigender Europaskepsis zu Hause konfrontiert, die er auch mit einem guten Deal für das Königreich und einem Referendum kaum im Zaum halten wird.

Dies ist die Gemengelage, die es einer starken EU-Kommission und einem starken EU-Parlament ermöglichen würde, im Krisenmanagement ihre eigene Handschrift zu entwickeln. Der Kommis­sionspräsident ist gefordert, strenge Maßstäbe an alle Mitgliedsstaaten anzulegen. Ein falsches Verständnis der politischen Kommission darf nicht dazu führen, dass der Defizitsünder Frankreich geschont wird, während andere Länder im Rahmen des Europäischen Semesters oder des Defizit­verfahrens eng an die Brüsseler Kandare genommen werden. Die Durchsetzung gleicher Regeln für alle dient Europa perspektivisch mehr als die kurzfristige politische Schonung von großen Mit­gliedsstaaten.

Man darf im Berlaymont auch vor etwaigen negativen Konsequenzen bei der Durch­setzung des EU-Regelwerks nicht zurückschrecken. Und der EU-Parlamentspräsident Martin Schulz sollte nicht nur an sich und seine eigenen Karriereperspektiven denken, wenn er richtiger­weise das EU-Parlament stärkt. Vielmehr muss das Parlament zusätzlich zu seinen legislativen Aufgaben als Mitentscheider zum verlässlichen Kompass werden, der die Umsetzung europäischer Beschlüsse durch die Mitgliedsstaaten ehrlich beurteilt. Die Mitgliedsstaaten werden immer eigene Interessen im Auge behalten und mehr oder weniger plausible Entschuldigungen ins Feld führen, warum es bei der Umsetzung hapert. Da die Kommission kein politisches Mandat hat, ob­liegt es in erster Linie dem EU-Parlament, die sachkundige europäische Stimme in die öffentliche Debatte einzubringen.

Fokus auf Rückführung und Sicherung der Außengrenzen

Der Ansatz, in der Flüchtlingsfrage eine enge Koppelung an europäische Lösungen zu suchen, ist sicherlich richtig. Der Schwerpunkt muss dabei auf die Aspekte Rückführung von Migranten und Sicherung der EU-Außengrenzen gelegt werden. Die Schengen-Grenze lässt sich notfalls mit einem Ratsbeschluss ändern, der dann im parlamentarischen Schnellverfahren bestätigt wird. Das Sze­nario, dass Griechenland aus dem Schengen-Raum ausgegliedert wird, ist real und wurde auf dem Innenminister-Rat in Amsterdam Ende Januar auch schon andiskutiert.

Ein intern gehaltenes EU-Papier listete schonungslos die Versäumnisse der griechischen Regierung auf, und spätestens bis zum Europäischen Rat am 17. und 18. März muss Abhilfe geschaffen sein. Die Fokussierung auf einen effektiven europäischen Grenzschutz ist für Deutschland der erfolgversprechendere Weg zur Reduzierung der Flüchtlingszahlen als das Festhalten an europäischen Quotenregelungen, gegen die sich nicht nur die Visegrad-Staaten sträuben. Ihre Argumente gegen die Brüsseler Flücht­lingsumverteilung sind von tief sitzender Natur. Sie unterstellen Deutschland, mit der Willkom­menskultur für Flüchtlinge sein historisches Schuldbewusstsein lindern zu wollen. Auch haben die Visegrad-Staaten vielfach keine Tradition der Integration kultureller und ethnischer Minderhei­ten, und ihre mediale Wahrnehmung von Flüchtlingen ist nicht selten geprägt durch den geschei­terten Multikulturalismus, wie er sich beispielsweise in den sozialen Spannungen in französi­schen Banlieues und den sexuellen Übergriffen in der Sylvesternacht in Köln manifestiert hat. Insbesondere wehrt man sich gegen Brüsseler Diktate in der Flüchtlingspolitik, solange es keine einvernehmliche Verständigung auf europäische Obergrenzen gibt und damit die auf die Länder zukommenden Aufnahmezahlen nach oben offen sind.

Globale Krise wird zur Krise der EU

Die EU steht vor der größten Krise seit ihrer Gründung. Man kann zwar beschwichtigend einwer­fen, dass niemand den Binnenmarkt in Frage stellt, selbst die schärfsten Europakritiker in Öster­reich, den Niederlanden oder Ungarn nicht. Auch mag es in gewisser Weise beruhigend sein, dass der viel gescholtene EU-Bürokratismus in der Krise auch eine positive Beharrungskraft entfaltet. So langsam die Dinge vorwärts gehen, so langsam mögen sie auch zurück gehen. Aber Europa steht gewaltig unter Druck. Wir sehen meist nur die interne Komponente aus wachsenden Dispari­täten, mangelnder Solidarität und zunehmendem nationalen Egoismus.

Wir vernachlässigen die externe Dimension. Europas normative Kraft als globaler Akteur und als Werte-, Rechts- und Wirt­schaftsgemeinschaft kommt nur durch gemeinsames Handeln zur Geltung. Weltweite Instabilitä­ten und regionale Spannungen mahnen Europa zu geschlossenem Auftreten in der Außen- und Sicherheitspolitik. Wenn europäische Grundfreiheiten wie der Schengen-Raum ohne Grenzen bedroht sind, wird dies über kurz oder lang auch Konsequenzen für den Wirtschaftsraum haben und den europäischen Handel negativ beeinflussen. Wirtschaftseinbußen wären unvermeidlich. Diese Negativspirale darf nicht in Gang kommen.

Es steht für Europa viel auf dem Spiel, es geht um die Grundsatzfrage, ob man die europäische Integration als bessere Freihandelszone oder als politische und wirtschaftliche Schicksalsgemeinschaft begreift. Früher hieß die Gretchenfrage „Was macht Europa stärker: Vertiefung oder Erweiterung?“ Heute geht es um „Weitere Vertiefung oder bloßer Handelsverbund?“ Wer letzteres will, hat aus der Finanzkrise der letzten Jahre nichts gelernt und ignoriert die Konsequenzen der Globalisierung. Wenn der britische Sonderweg Schule macht, wird Brüssel die EU mit ihren 28 Mitgliedsstaaten nicht beisammen halten können. Mit dem Festhalten an einer Erweiterungsagenda, die die EU perspektivisch auf über 30 Mitglieds­staaten anwachsen ließe, würde man Europa ebenfalls einen Bärendienst erweisen.