Maduros Staatsstreich
Venezuela auf dem Weg in die Diktatur: Der Oberste Gerichtshof hat das von der Opposition dominierte Parlament entmachtet und alle parlamentarischen Kompetenzen selbst übernommen. Die Parlamentarier haben zu Protesten aufgerufen. Die nächsten Tage sollen Millionen auf die Straßen gehen: Die Lage kann explodieren.
Venezuela

Maduros Staatsstreich

Venezuela auf dem Weg in die Diktatur: Der Oberste Gerichtshof hat das von der Opposition dominierte Parlament entmachtet und alle parlamentarischen Kompetenzen selbst übernommen. Die Parlamentarier haben zu Protesten aufgerufen. Die nächsten Tage sollen Millionen auf die Straßen gehen: Die Lage kann explodieren.

Nicolás Maduro tut so, als sei nichts gewesen. Er trifft sich mit dem Botschafter Saudi-Arabiens, Jamal Nasef, ein wichtiger Verbündeter im Ringen um einen höheren Ölpreis. Venezuelas Staatschef denkt gerne in großen Linien. „Das 21. Jahrhundert sollte eine große Möglichkeit für eine neue Welt sein.” Doch die neue Welt sieht in Caracas so aus, dass sie der Diktatur noch einen Schritt näher gekommen ist.

Staatsstreich gegen das Parlament

In Venezuela ist das von der Opposition dominierte Parlament entmachtet worden. Der Oberste Gerichtshof entschied, der Nationalversammlung alle parlamentarischen Kompetenzen zu entziehen und selbst zu übernehmen. Damit wird die Position von Staatspräsident Nicolás Maduro im Land mit den größten Ölreserven der Welt deutlich gestärkt und die Gewaltenteilung de facto aufgehoben. Das Gericht warf dem Parlament Respektlosigkeit gegenüber der Verfassung und unzureichende Zusammenarbeit mit den anderen Staatsgewalten vor. Das Präsidium des Parlaments nannte die Entmachtung einen Staatsstreich.

Das heißt nichts anderes als Staatsstreich und Diktatur.

Julio Borges, Parlamentspräsident

Erst langsam dämmert den Menschen in Venezuela, was das Urteil des Obersten Gerichtshofs bedeutet. Nicht wie früher per Eingreifen des Militärs, sondern über den Weg der Judikative wird die Bastion des Widerstands gegen Maduro und die Sozialistische Einheitspartei ausgeschaltet. Zuvor war bereits die Immunität der Abgeordneten aufgehoben worden, was im schlimmsten Fall den Weg für Verhaftungswellen ebnen kann.

Gewaltenteilung aufgehoben

Auslöser ist eine Forderung des Parlaments gewesen, die Sanktionen der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) gegen die Regierung forderte. Für die Sozialisten ein Vaterlandsverrat. Die Begründung für das Urteil, mit dem Entscheidungen für nichtig und die Befugnisse der Nationalversammlung auf das Gericht übertragen werden: Respektlosigkeit gegenüber der Verfassung und Missachtung der anderen Staatsgewalten. Dabei gehört nach Meinung der Opposition schon reichlich Chuzpe, den Spieß so umzudrehen. Die Gewaltenteilung werde schließlich von der anderen Seite, von Maduro, mit Füßen getreten.

„Das heißt nichts anderes als Staatsstreich und Diktatur”, betont Parlamentspräsident Julio Borges. „Das ist eine Entscheidung gegen das Volk in Venezuela.” Damit bekomme Maduro alle Macht, „er kann jetzt die Gesetze machen, auf die er Lust hat.” Die nächsten Tage sollen Millionen auf die Straße gehen: die Lage kann explodieren.

Venezuela am Ende

Das wunderschöne Land mit den größten Ölreserven der Welt steht am Rande des Ruins. Früher kamen hunderttausende Touristen zur Isla Margerita: passé. Es sammeln sich nur Negativmeldungen: Die höchste Inflation der Welt von derzeit 652 Prozent, Caracas eine der gefährlichsten Städte, die Kindersterblichkeit enorm gestiegen. Mangels Devisen kommen kaum Lebensmittel und Medikamente ins Land. Einige Krankenhäuser haben noch fünf Prozent der notwendigen Medizin. Angehörige versuchen händeringend auf dem Schwarzmarkt, Sauerstoff und Infusionen zu kaufen. Komitees der Sozialisten (CLAP) verteilen Medizin und Essen vor allem in ihren Hochburgen.

Unter den Armen, die eine neue Wertschätzung erfahren haben durch Sozialprogramme und den Bau hunderttausender Wohnungen, ist der Zuspruch zur Regierung weiterhin hoch.

Versorgungskrise: Die Endnummer auf dem Ausweis entscheidet, an welchem Tag man einkaufen darf.

Caracas hat auch eine Parallelwelt: Die Schönen und Reichen wandern aus. Oder sie ziehen sich in ihre abgeschotteten Viertel zurück, bestellen per WhatsApp völlig überteuerte Lebensmittel, die vom Schwarzmarkthändler ihres Vertrauens in die Tiefgarage geliefert werden, während die Normalbürger den Tag in Warteschlangen verbringen. Die Endnummer auf dem Ausweis entscheidet, an welchem Tag man einkaufen darf in Supermärkten. Aber die Regale sind ohnehin meist leer − daher bleibt nur der Gang zum teuren Schwarzmarkt. Aber viele können sich das nicht leisten, der Mindestlohn beträgt wegen der Geldentwertung umgerechnet keine 15 Euro im Monat. Täglich sind Frauen an der Grenze zu Kolumbien anzutreffen, die sich ihre Haare abschneiden lassen, um Geld zu verdienen. Bis zu 40 Euro gibt es, in Medellín und Cali sind sie für Haarverlängerungen begehrt.

Sozialisten abgewählt

Rückblick: Caracas, 6. Dezember 2015. Die Menschen sitzen gebannt vor den Fernsehern, viele rechnen mit Wahlbetrug, die Parlamentswahl ist zu einem Plebiszit über den von Hugo Chávez 1999 begründeten, und nach dessen Tod von Nicolás Maduro fortgesetzten „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ geworden. Um 0.30 Uhr tritt endlich die Chefin der von den Sozialisten kontrollierten nationalen Wahlbehörde vor die Kameras und verkündet eine dramatische Niederlage der Regierungspartei gegen das Parteienbündnis „Mesa de la Unidad Democrática” (MUD).

Gegenrevolution über die Justiz.

Die ganze Anspannung entlädt sich, Umarmungen, Böller knallen. Doch mit dem Tag begann auch schon die „Gegenrevolution”, vor allem über die mit Sozialisten durchsetzte Justiz, die Parlamentsentscheidungen immer wieder blockiert. Und Maduro hat das Militär bisher auf seiner Seite, auch wenn es hier zunehmend rumoren soll. Er verhängte bald einen Ausnahmezustand, regierte mit Dekreten oft am Parlament vorbei, aber gerade bei Budgetfragen und in der Gesetzgebung hatte die Wahl Einfluss.

Im Lande verschlimmert sich nach Jahren der Misswirtschaft fast täglich die dramatische Versorgungskrise. Auch die Gewalt nimmt massiv zu. Zehntausende Menschen sind bereits geflohen. Neben zunehmender Repression gegen politische Gegner wurden zuletzt auch die Daumenschrauben für die Presse angezogen, zudem wurde mehreren ausländischen Journalisten die Einreise verweigert und der US-Fernsehsender CNN in Venezuela abgeschaltet.

Referendum gegen Maduro verhindert

Eigentlich sollte dem Wahlsieg ein Referendum zur Abwahl Maduros folgen – auch hier stoppten Gerichte das wegen angeblicher Mängel bei der Unterschriftensammlung dafür. Präsident des nun im Fokus stehenden Obersten Gerichtshofs ist seit kurzem Maikel Moreno. 1987 wurde er laut El País angeklagt, als Mitglied der politischen Polizei eine Frau ermordet zu haben, dafür saß er zwei Jahre im Gefängnis. Später machte Moreno im „Chavismo” Karriere.

Als sich im Februar US-Präsident Donald Trump mit Lilian Tintori, der Ehefrau des zu fast 14 Jahren Haft verurteilten Oppositionsführers Leopoldo López traf und die sofortige Freilassung forderte, bestätigte Moreno tags darauf die harte Strafe. López wird die Anstachelung zu regierungskritischen Protesten vorgeworfen, bei denen 2014 über 40 Menschen starben.

Weltweite Proteste

In Caracas geht jetzt Protestnote um Protestnote ein. Der Generalsekretär der OAS, Luis Almagro, sprach von einem „Selbstputsch des Staates”. „Es geht um die Frage von Freiheit oder Despotismus.” Der OAS gehören die 35 Staaten Amerikas und der Karibik an. Auch das US-Außenministerium verurteilte den Akt: „Wir betrachten dies als einen schweren Rückschlag für die Demokratie in Venezuela.”

Es geht um die Frage von Freiheit oder Despotismus.

Luis Almagro, OAS-Generalsekretär

Peru zog seinen Botschafter ab, Chile rief seinen Botschafter zu Konsultationen zurück. Von Buenos Aires bis Mexiko-Stadt war von „großer Besorgnis” die Rede. Die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini ließ in Brüssel mitteilen, die EU fordere „vollen Respekt für die Verfassung, demokratische Prinzipien, den Rechtsstaat und eine Trennung der Gewalten.” Das sei entscheidend, um die gegenwärtige Lage im Land friedlich zu lösen.

Maduro kümmert das nicht. Er macht einen „ökonomischen Krieg” gegen sein Land und den niedrigen Ölpreis für die Misere verantwortlich. Er ist eng verbündet mit Russland, China und dem Iran, eine Intervention muss er nicht fürchten. Die große Frage aber ist: Werden die Bürger auch dies hinnehmen, aus Angst vor noch mehr Repression? Oder beginnt nun der finale Kampf um das mal wieder fehlgeschlagene sozialistische Experiment? (dpa/BK/H.M.)