Blick von oben auf das Zentrum von Breslau, einer der beiden europäischen Kulturhauptstädte des Jahres 2016. (Foto: imago / Westend61)
Kulturhauptstadt 2016

Breslau – Boomtown mit Brückenfunktion

Das polnische Breslau boomt. Dass dieses Jahr die Stadt an der Oder – neben dem spanischen San Sebastian – europäische Kulturhauptstadt ist, verleiht dieser Entwicklung zusätzlichen Anschub. Hierbei kommt Breslau mehr denn je eine Brückenfunktion zwischen Ost und West zu, nachdem die einst deutsche Stadt nach dem Zweiten Weltkrieg polnisch wurde.

In kaum einer anderen Stadt kam es durch den Zweiten Weltkrieg zu einem so radikalen Umbruch: Das deutsche Breslau endete im Mai 1945, das polnische Wroclaw musste seine Identität erst finden und den Menschen, die aus dem ostpolnischen Lwow – heute Lwiw in der Westukraine – angesiedelt wurden, eine Heimat werden.

Jahr des Mitmachens und Mitfeierns

Das ist 70 Jahre her; mittlerweile sind drei Generationen herangewachsen. Für die jungen Einwohner der Stadt ist daher die Grenzfrage, die ihren Großeltern und auch noch Eltern einst so viele Ängste vor einer „Rückkehr der Deutschen“ bereitete, längst kein Problem mehr. Das Deutsche wird aber nicht verdrängt, es gehört zum vielschichtigen kulturellen Erbe der Stadt. Und deutsche Besucher stehen nicht unter Revanchismusverdacht, sondern werden auch außerhalb des Kulturjahres, das Breslau neben dem spanischen San Sebastian heuer in Europa begehen darf, mit deutschsprachigen Angeboten umworben.

In seinem Kulturjahr lockt Breslau jedenfalls mit einem umfangreichen Veranstaltungsprogramm, das sich an Besucher und Einwohner der Stadt richtet, wie Magdalena Babiszewska, Sprecherin der Organisatoren der Kulturhauptstadt, betont. Es soll ein Jahr des Mitmachens und Mitfeierns werden – mit bewährten Festivals, die dieses Jahr noch größer und umfangreicher sein werden. Aber auch neue Projekte, die Performance, Musik und Literatur nicht nur auf die große Bühne, sondern auch in die einzelnen Stadtteile bringen, werde es laut Babiszewska geben.

Klein-Venedig Niederschlesiens

Mit einigen Programmteilen haben die Breslauer schon vor dem offiziellen Start am 17. Januar begonnen: Das Kunstprojekt „Mosty“ – zu deutsch „Brücken“, in Anlehnung an die vielen Brücken der Stadt – gab beispielsweise schon letzten Sommer einen Ausblick auf das Kulturjahr und soll nun wiederholt werden. Einen Tag lang wurden dabei 26 Brücken der Stadt in Kunstprojekte verwandelt.

Außerdem probten schon jetzt tausende Freiwillige, damit am Eröffnungswochenende bei Chris Baldwins großer Performance „Przebudzenie“ – zu deutsch „Erwachen“ – alles klappt. Baldwin, der auch einer der acht Kuratoren des Kulturjahres ist, will aus allen Himmelsrichtungen vier Menschenzüge mit riesigen Figuren in Bewegung setzen, die für die religiöse Vielfalt, den Wiederaufbau, das Hochwasser und die Innovation stehen, symbolisch damit die Geschichte der Stadt erzählen und am Ende zu einer Gesamtinstallation vereint werden sollen. Und eine lange, komplizierte und auch tragische Geschichte habe Breslau definitiv zu erzählen, sagt Babiszewska. Von der Performance verspricht sie sich daher einen starken Auftakt und ersten Höhepunkt des Kulturjahres, das gleichzeitig die geschichtsträchtige Verbindung zwischen Ost und West stärken solle.

Insgesamt knapp 1.500 Veranstaltungsangebote

Insgesamt knapp 1.500 Veranstaltungen unterschiedlichster Art und Größe werden die Breslauer und ihre Besucher dann ab 17. Januar durch das Jahr hindurch begleiten. Von kleinen Kulturinitiativen, veranstaltet von Kindergärten oder Seniorengruppen, bis hin zu größeren, spektakuläreren Projekten ist dabei alles geboten. Zu letzteren zählt etwa, wenn am 1. Mai tausende Gitarrenspieler auf dem Marktplatz von Breslau gemeinsam den berühmten Jimi-Hendrix-Song „Hey Joe“ anstimmen; mitmachen kann jeder, der das Lied beherrscht und mit Gitarre in die Oder-Metropole reist.

Gegen Ende des Jahres steht auch ein Großereignis für Cineasten an: Am 10. Dezember werden in Breslau die Europäischen Filmpreise vergeben. Bereits von September an wird infolgedessen eines der Breslauer Kinos nicht nur die für 2016 nominierten Filme zeigen, sondern auch die preisgekrönten der Vergangenheit. Mit dabei ist der polnische Film „Ida“ von Pawel Pawlikowski, der 2014 den Europäischen Filmpreis erhielt und als bester fremdsprachiger Film mit dem Oscar ausgezeichnet wurde.

Gleichzeitig Welt-Buch-Hauptstadt

Breslau ist heuer aber nicht nur Kulturhauptstadt, sondern obendrein noch Welt-Buch-Hauptstadt der Weltkulturorganisation UNESCO. Im April wird im Zuge dessen das Museum über die 1834 erschienene polnische Adelsgeschichte „Pan Tadeusz“ geöffnet, das sich ganz dem in Versform geschriebenen bekanntesten Werk des polnischen Nationaldichters Adam Mickiewicz (1798-1855) widmet. Mit einer Nacht der Literatur sollen zudem Büchermuffel an ungewöhnliche Orte, in Keller, Kirchen und auf Türmen zu Lesungen gelockt werden.

Musikalisch darf hierbei natürlich auch polnischer Jazz nicht fehlen: An drei Wochenenden im Frühjahr und Sommer wird dieser im Mittelpunkt stehen. Einer der Höhepunkte dürfte dabei ein Konzert des „Pink Floyd“-Gitarristen David Gilmour mit dem polnischen Jazzpianisten Leszek Mozder vor dem neu gebauten Nationalen Musikforum sein.

 

Europäische Kulturhauptstadt Breslau 2016:

  • Der Info-Punkt des Festival-Jahres ist schon jetzt im Veranstaltungszentrum „Barbara“ geöffnet. In den 70er Jahren traf sich hier die „Orange Alternative“, eine Künstlergruppe, die mit anarchistischen Happenings die Staatsmacht gegen sich aufbrachte. Mittlerweile ist dort eher ein Treffpunkt hipper, junger Kreativer, die im durchgestylten Zentrum am Laptop ihre neuesten Projekte planen.
  • „Meiner Meinung nach kann es das beste Jahr in der Nachkriegsgeschichte Wroclaws werden. Wir wünschen und bemühen uns, dass die Teilnahme an der Kultur größer wird und rechnen dabei auch mit dem Anstieg des Tourismus. Wir möchten, dass Wroclaw zu einer sehr offenen Metropole auf der Karte Europas und der Welt wird.“ Das sagte bei der Vorstellung des Programms im Stadion von Breslau der Präsident der Stadt, Rafał Dutkiewicz.
  • 2008 hatte Breslau beschlossen, am Wettbewerb um den Titel der Europäischen Kulturhauptstadt (ESK) 2016 teilzunehmen. Die Bewerbung unter dem Motto „Räume für die Schönheit“ erwies sich 2011 als die beste und gewann neben San Sebastian in Spanien den Wettbewerb.
  • Nach acht Jahren Vorbereitungszeit wartet Breslau nun mit rund 400 Projekten und 1.000 Kulturveranstaltungen auf. Acht Kuratoren legten das Programm der verschiedenen Kulturbereiche fest.
  • Hinter dem Titel Kulturhauptstadt Europas (von 1985 bis 1999 Kulturstadt Europas) steht die Idee des gegenseitigen Kennenlernens, der Annäherung und des interkulturellen Dialogs der Europäer. Die jeweiligen nominierten Städte sollen dabei nach Maßgabe der Jury auch ein wichtiges Element bei der Suche nach der neuen Identität des vereinten Europas bilden.
  •  Vergeben wird der Titel jährlich von der Europäischen Union (EU) – seit 2004 an mindestens zwei Städte. Letztes Jahr trugen den Titel Mons in Belgien und Pilsen in Prag; nächstes Jahr werden sich Aarhus in Dänemark und Paphos auf Zypern mit dem Titel schmücken können.

 

(dpa/dia)