Erneut legte die GDL große Teile des deutschlandweiten Zugverkehrs lahm. Für die Wirtschaft entwickelt sich das zunehmend zum Problem. Bild: Fotolia, Patrick Poendl
Streik-Welle

Immer mehr Streiks lähmen das öffentliche Leben

Erzieher, Piloten, Postboten und immer wieder die Lokführer: Kommt Deutschland noch mal heraus aus dem gefühlten Dauerstreik? Warum noch keine Entwarnung gegeben werden kann und warum das alles noch harmlos ist im Vergleich zu den Verhältnissen der frühen Neunziger, erklärt Tarifexperte Hagen Lesch vom Institut der Deutschen Wirtschaft (IW).

Im zweiten Halbjahr wird es ruhiger, verspricht Tarifexperte Hagen Lesch vom arbeitgebernahen Institut der Deutschen Wirtschaft (IW), doch erst einmal steuert die deutsche Volkswirtschaft auf ein seit Jahren nicht mehr gekanntes Streikniveau zu.

Dem IW zufolge hat sich die Streikkultur geändert: Während große Gewerkschaften wie die IG Metall ihre Mitglieder nur noch punktuell zu kurzen Warnstreiks aufrufen, werden Arbeitskämpfe wie bei der Bahn, an denen nur wenige Beschäftigte beteiligt sind, immer härter und länger geführt.

Harmlos im Vergleich zu Dänemark, Frankreich, Belgien

Beklagen brauchen sich die Deutschen dennoch nicht – das zeigt sich immer wieder beim Blick ins Ausland. So wird in Deutschland im internationalen Vergleich weiterhin wenig gestreikt, egal, ob man Streiktage oder Streikteilnehmer als Vergleichszahl heranzieht: Deutschland liegt in den Statistiken regelmäßig auf den hinteren Rängen mit großem Abstand zu streikfreudigen Republiken wie Dänemark, Frankreich oder Belgien.

Dass die Dauerstreiks vor allem bei Verkehrsunternehmen statistisch nur wenig ins Gewicht fallen, liegt daran, dass sie naturgemäß von relativ kleinen Berufsgruppen geführt werden. Die Pilotengewerkschaft Vereinigung Cockpit bringt bei einer Urabstimmung nur gut 5000 Leute an die Urnen, die GDL vertritt bei der Bahn gut 15 000 Lokführer und noch einige Mitarbeiter aus dem weiteren Zugpersonal.

Es waren daher auch eher die Warnstreikwellen in den Großbranchen Metall/Elektro (3,7 Millionen Beschäftigte) und Öffentlicher Dienst der Länder (845 000), die nach IW-Schätzung bis Mitte Mai 2015 für den streikbedingten Ausfall von 350 000 Arbeitstagen gesorgt haben. So viel wurde zuletzt 2006 mit 430 000 Ausfalltagen gestreikt – immer noch weit entfernt von den 1,5 Millionen Tagen im Jahr 1992, als ein großer Streik im Öffentlichen Dienst tobte.

Warum die aktuellen Streiks uns besonders weh tun

Die Auswirkungen der aktuellen Streiks bei Kitas, Lufthansa oder Bahn sind allerdings nah an vielen Kunden und damit äußerst öffentlichkeitswirksam. Dass diese Arbeitskämpfe mit zunehmender Härte ausgetragen werden, liegt daran, dass es meist nicht um ein paar zusätzliche Lohn-Euros, sondern um Grundsätzliches geht. Die GDL kämpft angesichts des Tarifeinheitsgesetzes um das Überleben als tariffähige Gewerkschaft, und die zweifellos gut bezahlten Piloten wehren sich dagegen, dass die Lufthansa ihre Besitzstände bei der Ruhestandsversorgung radikal beschneiden will. Die Post will Tarifbeschäftigte in schlechter zahlende Tochtergesellschaften auslagern. Und wenn Verdi das Gehalt der Erzieher gleich um drei Stufen steigern will, ist das eben auch keine normale Tarifrunde.

Reinhard Bispinck, Tarifexperte der gewerkschaftsnahen Böckler-Stiftung, nennt das Beispiel des US-Versandhändlers Amazon, bei dem Verdi nur um den Einstieg in Tarifverhandlungen kämpft. Die immer größere Zahl der Konflikte sei auch den realen Problemen und der zunehmenden Zersplitterung der Tariflandschaft geschuldet.

Noch keine „englischen Verhältnisse“

In der Argumentation gegen die Spartengewerkschaften schwingt immer wieder die Warnung vor «englischen Verhältnissen» mit – einer gefährlichen Konkurrenz Hunderter Minigewerkschaften, die sich gegenseitig überbieten wollen und dabei den wirtschaftlichen Niedergang ganzer Branchen in England in Kauf genommen hätten.

Mit Blick auf die deutschen Spartengewerkschaften – streikfähig sind gerade einmal sechs Organisationen – kommt Böckler-Mann Bispinck zu einem milden Urteil: Von 2006 bis 2014 waren GDL, Cockpit und Co. nach seiner Zählung nur für 46 Tarifkonflikte mit Streiks verantwortlich, die DGB-Gewerkschaften NGG mit 140 und Verdi mit 800 jeweils für ein Vielfaches. „Von englischen Verhältnissen kann also nicht die Rede sein“, resümiert Bispinck.

Doch der Druck durch die Spartengewerkschaften hat IW-Experte Lesch zufolge auch die Tarifpolitik der Einheitsgewerkschaft Verdi geändert: Sie habe ihre moderate Lohnpolitik etwa 2008 aufgegeben und seitdem auch für Sonderinteressen von durchsetzungsstarken Berufsgruppen zum Mittel des Arbeitskampfes gegriffen. So sollten Erzieher und Sicherheitskontrolleure an den Flughäfen erst gar nicht auf die Idee kommen, sich in einer Spartengewerkschaft selbst zu organisieren, meint Lesch. (tw/dpa)