Die Götter müssen zum Restaurator: "Antigone" am Münchner Resi mit Elisabeth Trissenaar als Frau aus Theben und Norman Hacker als Kreon. (Foto: Matthias Horn/Residenztheater)
Theater

Das Lied der Vögel bleibt Gekrächz

Am Münchner Residenztheater bringt Regieveteran Hans Neuenfels die antike Tragödie "Antigone" heraus. Die gute Nachricht daran: Anders als an den heftig umstrittenen Kammerspielen bietet das Resi noch klassisches Schauspiel. Die schlechte Nachricht: Diese Sophokles-Premiere ist nicht gut gelungen.

Die Götter sind schon in Kisten verpackt, fertig zum Abtransport ins Depot. Zwei antike Statuen mit abgeschossenen Gliedmaßen. Zeus fehlen die Hände und der linke Unterschenkel, statt dem ein Metallstumpf aus dem Knie ragt. Apoll hat sein schönes Marmor-Gesicht wie in einem Laugenbad verloren. „Der Krieg ist vorbei. Das Lied der Vögel könnte beginnen“, steht auf der Wand hinter den Göttern in Kästen. In diesem Konjunktiv – „könnte“ – schlummert das Drama. Denn allenfalls dringt Möwengekreisch aus den Lausprechern, von friedlichem Gezwitscher ist nichts zu hören.

Macht ohne Götter

Der Bürgerkrieg hat dieses gottlose Theben zertrümmert, in dem am Münchner Residenztheater Sophokles‘ „Antigone“ spielt. Statt besänftigendem Vogelgesang hebt der große Imperativ an: Der neue Machthaber Kreon untersagt per „göttlichem“ Gesetz, dass einer der beiden Bürgerkriegsanführer nicht begraben werden dürfe. Aus Gründen der Staatsräson soll Polyneikes‘ Leichnam auf offenem Markt verwesen. Doch dagegen stellt sich dessen Schwester Antigone, die ihre Freiheit beansprucht, ihren geliebten Verwandten ordentlich zu bestatten. Und sie wagt es, bedeckt ihn mit Staub. So wird aus dem privaten Trauerfall eine Machtfrage auf Leben und Tod – Kreon gegen Antigone.

Für Theatergänger in der Landeshauptstadt steckt in alldem erst mal eine gute Nachricht: Während sich die Münchner Kammerspiele unter öffentlichem Aufruhr von klassischen Schauspiel entfernen, mehr auf Performance und Videoprojektions-Authentizitäts-Zirkus setzen, spielen sie auf der anderen Seite der Maximilianstraße am Resi noch richtig Theater. Mit der jüngsten Premiere die antike Tragödie des Sophokles, deren Text fast 2500 Jahre alt ist, den aber Darsteller mit psychologischer Einfühlung und ausgefeilter Sprechkunst zu heutigem Leben erwecken könnten. Noch so ein Konjunktiv, denn hier folgt auf die gute Nachricht die weniger gute: auch mit den hergebrachten Mitteln des Schauspiels gelingt dem Ensemble das in dieser Inszenierung nur mäßig. Ein recht matter Abend von zwei Stunden Länge, den Regieveteran Hans Neuenfels, 75, verantwortet.

Womöglich ist der ältere Herr, der seit den 1970er-Jahren legendäre Theaterarbeiten schuf, einfach schon ein gutes Stück zu weit über seinen Zenith hinaus. Bei den Bayreuther Festspielen gelang ihm 2010 noch eine sehr verspielte, leichtfüßige Inszenierung von Wagners „Lohengrin“, deren tanzende Mäuse manche Wagnerianer erst hassten und später zum Kult erhoben. Diese Münchner „Antigone“ jedoch kommt nicht vom Fleck.

Der antike Chor hat nur eine Stimme

Mit einem Kunstgriff versucht Neuenfels, das Drama auf höhere Umdrehung zu bringen: den antiken Chor ersetzt er durch seine Frau Elisabeth Trissenaar, die er in vielen seiner Bühnenarbeiten durchdrückt. Die Trissenaar wandelt im Gewande einer gealterten alternativen Buchhändlerin umher, kommentiert das Geschehen, ermahnt Machthaber Kreon, stellt pädagogisch wertvolle Fragen. Dieser Eingriff soll das Drama nach Neuenfels‘ Absicht für die Zuschauer persönlich erlebbar machen. Aber eigentlich kommt seine Gattin meist nur ziemlich großtantenhaft daher und erklärt den Zuschauern, was ihnen aus dem Geschehen ohnehin klar wird. Dass es für den Mensch Antigone um den Konflikt zwischen göttlicher Vorbestimmung und persönlicher Freiheit gehe, und derlei mehr. Den sprichwörtlichen Zeigefinger erhebt sie an manchen Stellen tatsächlich. Sehr lehrreich, aber auch sehr leer.

Der Chor ist ein Spiegel. Der Chor beschwört, der Chor rügt, der Chor mausert sich, der Chor rebelliert, er duckt sich, er ist ein Barometer seiner Zeit. Und er stellt den Einzelnen in besonderer, fast paradoxer Weise in den Mittelpunkt.

Hans Neuenfels, Regisseur

Mit dem Trissenaar-Trick hat Regisseur Neuenfels schon den Großteil seines Pulvers verschossen. Seine übrigen Bühnenfiguren wirken matt. Titelfigur Antigone bleibt in ihrer Darstellerin Valery Tscheplanowa eine blonde Göre, die lauthals gegen den Mächtigen rebelliert. Für sie scheint der verwesende, von Vögeln und Hunden gefledderte Körper des Bruders nur ein Anlass, sich gegen den Staat aufzulehnen. Ihre Trauer, Verzweiflung bleiben zugunsten ihrer empörten Rebellion unterbelichtet.

Staatsräson versus persönlicher Freiheit

Ihr gegenüber spielt Norman Hacker den Herrscher Kreon als leicht überforderten Machtmanager in Anzugsakko und Tempelpriesterrock. Als ihm der Leichnam Polyneikes als bestattet gemeldet wird, reagiert er fahrig, leicht hysterisch. Bei ihm wird immerhin glaubhaft, wie ein Einsamer auf dem Thron von Fehlentscheidung zu Fehlentscheidung schlittert, bis sich am Ende auch sein Sohn Haimon und dessen Verlobte Antigone umgebracht haben. Ein persönliches Drama höchster Ordnung, das den Zuschauern aber auch aufgegangen wäre ohne die Erklärungen von Chorfrau Trissenaar.

Wenn auch Neuenfels‘ Figurenführung oft fahl und unbestimmt bleibt – stellenweise gelingen ihm eindrucksvolle Momente. Etwa wenn der blinde Seher Teiresias in einem metallenen Gitterbettchen auf Rädern hereinrollt. Heftig windet sich Darsteller Michele Cuciuffo, prophezeit Kreon das tödliche Ende von Sohn und künftiger Schwiegertochter, schreit, bricht zusammen. Oder wenn der Wächter (Jörg Lichtenstein) seinem Herrscher Kreon von der unbotmäßigen Bestattung Polyneikes berichtet. Aus Angst, als Überbringer unerwünschter Nachrichten hingerichtet zu werden, verfällt er in eine wirklich komische Nummer, haspelt, hopst, hadert. Doch solche Szenen bleiben Stückwerk. Zu einem wirklich zugkräftigen Abend verdichtet Neuenfels sie nicht.