Im Tiefenrausch: Wingsuit-Star Uli Emanuele in den Dolomiten. (Foto: Mediaart Production)
Bergfilme

Männer, die durch Felswände fliegen

Im Sommer starben binnen fünf Tagen die zwei Wingsuit-Piloten, die mit einem Flug durch enge Felslöcher weltberühmt wurden. Das „Bergfilm-Festival“ in Tegernsee erinnert mit einer Dokumentation an den waghalsigeren der beiden: den Südtiroler Uli Emanuele. Insgesamt fanden in der hochgefährdeten Szene dieses Jahr bereits 37 Extremsportler den Tod, darunter auch einer aus Bayern.

Fünf Tage. Es ist schwer, keinen Zusammenhang zwischen dem Ableben der beiden Italiener zu vermuten, die zum inoffziellen Hochadel ihres Risikosports zählten. Denn den Südtiroler Uli Emanuele und den Mailänder Alexander Polli einte die Art, wie sie in der an waghalsigen Gefahrensuchern ohnehin nicht armen Wingsuit-Szene zu Ruhm gelangten: Beide waren mit ihrem Kunstfaser-Flügelanzug mit etwa 200 km/h durch ein enges Felsloch geflogen – und sind im August 2016 bei vergleichsweise harmlosen Sprüngen ums Leben gekommen. Innerhalb von weniger als einer Woche.

Zwei höchst unterschiedliche Risiko-Charaktere

Emanuele und Polli, unterschiedlicher hätten die beiden kaum sein können. Der Tiroler – eher introvertiert, finanziell unprivilegiert – zog eigens ins Schweizer Wingsuit-Mekka Lauterbrunnen, wo er in einem Gipfelrestaurant als Abspüler jobbte, nur um jeden Abend nach der Arbeit mit seinem Anzug ins Tal rauschen zu können. Der Mailänder, ein schriller, schwerreicher Textilfabrikantensohn ohne Geldsorgen, der die Grenzen der Selbstverantwortlichkeit mit clownesker Realitätsverachtung ausreizte. „Morals Arrivederci“, heißt seine selbst gegründete Mode-Marke. Beide waren unbestritten Könner in diesem Metier, in dem die Sportler von hohen Steilwänden oder aus dem Hubschrauber springen, den Wingsuit mit leichten Gewichtsverlagerungen steuern, knapp über der Baumgrenze dahinjagen und am Ende mit dem Fallschirm am Rücken landen.

Polli hatte als erster den atemberaubenden Stunt gewagt, mit dessen Videoaufnahme er im Internet zum Star wurde: Mehr als 14 Millionen Klicks für die Aufnahme, bei der er 2013 über dem Montserrat in Katalonien aus einem Helikopter startet, etwa zwanzig Sekunden auf eine gewaltige Felswand zuhält und – dem Betrachter stockt der Atem – unfallfrei durch eine Öffnung von fünf Metern Breite fliegt. Landsmann Emanuele verschob das Limit des Machbaren 2015 noch einmal wesentlich, indem er durch eine gerade mal 2,60 Meter breite Felsspalte schoss, wenig breit als die Spannweite seiner Arme. Sein Web-Video erreichte inzwischen fast acht Millionen Klicks.

Posthumer Auftritt am Tegernsee

Beim „Bergfilm-Festival“ in Tegernsee, das noch bis zum 23. Oktober läuft, ist unter vielen anderen spektakulären Dokumentationen auch ein 19-minütiger Film über Emanuele zu sehen: „Fliegen ist Freiheit“, den der Bozener Filmemacher Markus Frings noch im Mai mit ihm gedreht hat. Er habe den zu diesem Zeitpunkt 30-Jährigen als „sehr besonnenen und vorsichtigen Menschen“ kennengelernt, sagt der Regisseur. Dabei gibt Frings zu: „Das mag seltsam klingen in Anbetracht der Tatsache, dass er einer der weltbesten Basejumper war.“ Für seine Kurz-Doku hat der TV-Journalist gefilmt, wie Emanuele als erster Mensch durch einen „Feuerring“ fliegt. Eine runde Metallkonstruktion, bei der Propangas aus Flaschen verbrannt wird. „Das war sein großer Traum, wie ein Löwe im Zirkus durchs Feuer zu springen“, behauptet Frings.

Uli hat seinen großen Lebenstraum erfüllt. Für ihn gab es nur das Fliegen und sonst nichts.

Doku-Regisseur Markus Frings

Kritiker der sich ständig mit neuen gefährlichen Aktionen überbietenden Wingsuit-Gemeinde wenden ein, dass der Druck zu immer neuen Spektakeln zur steigenden Zahl von Toten in diesem Extremsport führe. Für 2016 listet die „Base Fatality List“, eine Art Totenregister der Szene im Netz, bereits 37 im Wortsinn Gefallene dieses großen Nervenkitzels auf – im gesamten Vorjahr waren es 27 gewesen. Darunter auch der erfahrene Springer Ulli Wambach von einem Flugplatz im mittelfränkischen Thalmässing. Emanuele und Polli belegen die traurigen Listenplätze 300 und 303.

Grenzen überschreiten

Die Zahl der Verunglückten steigt, weil die Szene wächst, weil immer mehr ungeübte Springer sich mit dem Wingsuit in die Luft wagen. Aber auch, weil die Cracks immer neue Best- und Höchstleistungen suchen. „Die Sachen werden schnell langweilig, und ein neuer, noch heftigerer Stunt muss her“, analysiert Szene-Veteran Peter Gambs aus Lenggries. Der Extrembergsteiger Thomas Huber aus Berchtesgaden, mit Bruder Alexander bekannt als die „Huberbuam“ und gelegentlich auch Basejumper, sagt: „Eine lebensgefährliche Sportart, da geht es um alles oder nichts.“ Viele seien Aussteiger, „die kriegen von Sponsoren bisschen Kohle“, meint Huber. Deren Hauptmotivation sei: „Ich hab da Bock drauf, da fühle ich mich lebendig. Ich geh an die Grenze, um den perfekten Tag zu haben.“

Eine lebensgefährliche Sportart, da geht es um alles oder nichts.

Extremkletterer Thomas Huber

Ursprünglich wollte Filmemacher Frings bei dem Festival am Tegernsee zusammen mit Emanuele auftreten. Doch daraus wird nun nichts. Am 17. August jagte der erfahrene Wingsuit-Pilot gegen eine Steilwand bei Lauterbrunnen. Frings glaubt, der Tod seines Film-Protagonisten sei darauf zurückzuführen, „dass er sich nicht hundertprozentig auf seinen eigenen Flug konzentrierte“. Emanueles Aufmerksamkeit sei bei einer anderen Fliegerin gewesen, „die vor ihm herflog und die Uli mit seiner Helmkamera verfolgte“. Berichten zufolge touchierte Emanuele die Mit-Fliegerin im Flug leicht, so dass er aus der Bahn geworfen wurde. Die Jagd nach spektakulären Bildern steigert die ohnehin hohe Gefahr – tragisches Ende eines Risikosuchers.

Mysteriös mutet an, dass schon am 22. August auch Alexander Polli tödlich verunglückte. Augenzeugenberichten zufolge schoss er mit dem Flügelanzug über einen Wald am Mont-Blanc bei Chamonix/Frankreich dahin und wagte dabei eine Flugrolle. Bei einem solchen Manöver verliert der Akrobat schnell einige Meter an Höhe. Polli schlug in die Baumkronen und starb.

Zusammenhang zwischen den zwei Unglücken?

Polli und Emanuele – zwei höchst unterschiedliche Wingsuiter finden innerhalb kurzer Zeit den Tod. Ein extrovertierter Millionärssprössling der eine, ruhiger Outdoofreak der andere, der für seine Passion am Berg arbeiten musste. Spekulationen, Polli könnte nach Emanueles Ableben in selbstmörderischem Überschwang bewusst seinen Tod riskiert haben, bezweifelt Regisseur Frings: „Ob der Tod von Polli mit dem von Uli zusammenhängt, ist schwer zu sagen. Ich denke nicht, dass es da eine Verbindung gibt. Außer dass beide etwas gemacht haben, das vor ihnen noch keiner geschafft hat: als erster Mensch durch ein Felsloch zu fliegen.“