Raue See: Flüchtlinge erreichen mit letzter Not die Küste der griechischen Insel Lesbos. Bild: Imago/Zuma Press
Deutschland

Eine Million Flüchtlinge – mindestens

Die Zahl der in diesem Jahr nach Deutschland eingereisten Flüchtlinge bewegt sich geradewegs auf eine Million zu. Kanzlerin Angela Merkel befürchtet wegen der fehlenden finanziellen Hilfe für Flüchtlingslager im Nahen Osten eine neue große Migrationswelle Richtung Europa im kommenden Jahr. Und die SPD? Sie verzögert weiter das so wichtige Asylpaket.

Die Bundesländer registrierten nach Angaben aus Koalitionskreisen vom Dienstag bis zum vergangenen Sonntag insgesamt 953.000 Migranten. Seit Ende Oktober kamen damit fast 200.000 neue Flüchtlinge hinzu. Zwar ebbte der Zustrom nach Deutschland und Österreich in den vergangenen Tagen deutlich ab. Dies sei wohl eine Folge des schlechten Wetters in der Ägäis, hieß es von deutschen Behörden. Am Montag zählte die Bundespolizei bei Kontrollen 3725 Einreisen in Deutschland, davon 3180 in Bayern. Einige der Flüchtlinge und Migranten sind nur auf der Durchreise, etwa nach Skandinavien. Die Angaben der Länder von bislang 953.000 Migranten beziehen sich auf registrierte Flüchtlinge, die in der sogenannten Easy-Datenbank aufgenommen wurden. Die Zahl gilt als wichtige Rechengröße für die Politik und die Verteilung der Menschen. Allerdings sind Doppel-Registrierungen nicht ausgeschlossen. Auf der anderen Seite befinden sich Experten zufolge bis zu 300.000 Menschen ohne eine Registrierung im Land.

Weniger Ankünfte wegen rauer See

Seit Freitag hat sich die Zahl der Ankünfte pro Tag mit weniger als 4000 im Vergleich zu den vorherigen Wochen in etwa halbiert. Auch in den Aufnahmelagern in Österreich herrscht relative Ruhe. In Spielfeld an der slowenischen Grenze kamen am Vormittag nach Behördenangaben 750 Schutzsuchende an, die in Notquartiere gebracht wurden. Wegen schlechten Wetters scheuen viele Menschen offenbar die Überfahrt von der türkischen Küste auf die griechischen Inseln. Aber auch Grenzbarrieren entlang der Balkanroute, etwa in Mazedonien, könnten ein Grund sein. Zudem geht die Türkei nach der Übereinkunft mit der EU über die Begrenzung des Flüchtlingsstroms offenbar gegen Schlepper vor und hindert Migranten an der Weiterreise.

Der Rückgang liegt vor allem am schlechteren Wetter in der Ägäis und dem Vorgehen der Türkei gegen Schleuser.

William Spindler, UNHCR

Nach UN-Angaben sind im November erstmals weniger Flüchtlinge über das Mittelmeer gekommen als im Vormonat. Schätzungsweise 140.000 Schutzsuchende hätten im vergangenen Monat über den Seeweg Europa erreicht, teilte das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) in Genf mit. Dies seien zwar deutlich weniger als die 220.000 Flüchtlinge im Oktober. Es sei aber immer noch eine hohe Zahl, sagte Sprecher William Spindler. „Der Rückgang liegt vor allem am schlechteren Wetter in der Ägäis und dem Vorgehen der Türkei gegen Schleuser“, so Spindler. Insgesamt seien dieses Jahr bereits mehr als 880.000 Flüchtlinge an Europas Küsten gelandet, rund vier mal mehr als im gesamten Jahr 2014.

Wegen Geldmangel wurden die Lebensmittelrationen in den Flüchtlingslagern gekürzt.

Bundeskanzlerin Merkel warnte, es drohe erneut die Flucht von sehr vielen Menschen. Die Unterfinanzierung des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR und des Welternährungsprogramms für das kommende Jahr sei „nicht akzeptabel“, sagte sie nach einem Treffen mit dem neuseeländischen Ministerpräsidenten John Key am Dienstag in Berlin. „Wir haben weiter eine Unterfinanzierung von fast 50 Prozent. Es droht wieder die Flucht von sehr vielen Menschen“, sagte Merkel. Die Kürzung der Lebensmittelrationen in den Lagern für Syrer in der Türkei, Jordanien und dem Libanon gilt als einer der Gründe dafür, dass 2015 so viele Flüchtlinge in die EU und vor allem nach Deutschland kamen. US-Präsident Barack Obama zeigte Verständnis für die Forderung der EU nach einem geordneten Prozess und strengeren Kontrollen an der türkischen Grenze zu Syrien, insbesondere auch aus Sicherheitsgründen.

SPD verzögert das Asylpaket, CSU will Einzelfallprüfung

Das von der Koalition geplante Asylpaket II verschiebt sich nach Einschätzung Merkels unterdessen bis ins nächste Jahr. Sie sei aber optimistisch, dass es eine Einigung geben werde. CDU, CSU und SPD konnten sich bislang nicht einigen, wie die Beschlüsse der drei Parteivorsitzenden etwa zur Einrichtung neuer Aufnahmeeinrichtungen und beschleunigter Verfahren umzusetzen sind. Vor Weihnachten hätte das Paket nur verabschiedet werden können, wenn es am Dienstag vom Kabinett auf den Weg gebracht worden wäre. Die schwarz-rote Bundesregierung will unter anderem bestimmte Flüchtlingsgruppen künftig in „besonderen Aufnahmeeinrichtungen“ unterbringen und deren Asylanträge dort im Schnellverfahren abwickeln. Vorgesehen sind außerdem Einschränkungen beim Familiennachzug für bestimmte Schutzsuchende und schärfere Vorgaben bei Abschiebungen. Wegen Unstimmigkeiten innerhalb der Koalition verzögert sich die Verabschiedung des Pakets jedoch. Differenzen gibt es vor allem in der Frage des Familiennachzugs und der Gesundheitsversorgung für schwangere und schwer kranke Flüchtlinge. „Dieser enge Zeitplan wird wohl nicht mehr zu halten sein“, sagte am Dienstag auch die CSU-Landesgruppenvorsitzende im Bundestag, Gerda Hasselfeldt. Die Union wirft der SPD vor, sie verzögere eine Einigung über das zweite Asylrechtspaket dadurch, dass sie die gesundheitliche Versorgung von Schwangeren, Kindern und Behinderten unter den Flüchtlingen durch die Umsetzung von EU-Richtlinien verbessern wolle. Teile der Union lehnen dies ab, weil sie darin einen Anreiz zur Flucht nach Deutschland sehen.

 

Der Vorteil einer Einzelfallprüfung mit Identitätsfeststellung wäre, dass wir sehr genau wissen, wer sich bei uns im Land aufhält.

Roger Lewentz, SPD

Die CSU im Bundestag forderte, für alle Asylbewerber zur Einzelfallprüfung mit mündlichen Anhörungen zurückzukehren, die derzeit beispielsweise für Syrer nicht gilt. Dies müsse schon aus Sicherheitsgründen geschehen, da derzeit jedermann in der Türkei oder in den Balkanstaaten für wenig Geld einen gefälschten syrischen Pass erhalten könne. Im Streit um den Flüchtlingsstatus für Syrer zeichnet sich eine Bund-Länder-Einigung ab. „Wir werden mit dem Bund beraten, ob und wie wir zu Einzelfallprüfungen zurückkehren können“, sagte jetzt auch der Chef der Innenministerkonferenz (IMK), Roger Lewentz (SPD), der dpa vor einer Tagung mit seinen Amtskollegen an diesem Donnerstag und Freitag in Koblenz. Die ebenfalls umstrittene Frage, ob der Familiennachzug für Syrer eingeschränkt werde, „muss dagegen innerhalb der Bundesregierung beantwortet werden“, betonte der rheinland-pfälzische Innenminister. Derzeit müssen Syrer keine persönliche Anhörung durchlaufen, sondern können ihre Fluchtgründe schriftlich erklären und bekommen ohne Einzelfallprüfung fast durchweg Flüchtlingsschutz nach der Genfer Konvention. Der Sozialdemokrat Lewentz sagte nun: „Der Vorteil einer Einzelfallprüfung mit Identitätsfeststellung wäre, dass wir sehr genau wissen, wer sich bei uns im Land aufhält.“

Stau bei der Antragsbearbeitung bleibt

Frühestens in einem halben Jahr wird der Stau unbearbeiteter Asylanträge beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge BAMF zurückgehen. Der Präsident des Amts, Frank-Jürgen Weise, sagte, mit einem signifikanten Abbau sei erst bis Ende 2016 zu rechnen, obwohl die Produktivität bei der Antragsbearbeitung um 60 Prozent erhöht worden sei. Rund 300.000 Flüchtlinge warten auf den Bescheid über ihr Asylverfahren und ebenfalls rund 300.000 warten darauf, überhaupt erst den Antrag stellen zu können. Nicht die Entscheider müssten laut Weise schneller arbeiten, sondern die Zuarbeit müsse beschleunigt werden. Zeitverlust gibt es nach Weises Worten beispielsweise bei den Überweisungen von einer Dienststelle zur nächsten und bei der Suche nach Dolmetschern.