Über der Zufahrt zum Elysée-Palast: Symbole der République Francaise. Bild: H.M.
Parallelgesellschaft

Wo Frankreichs Werte nicht mehr gelten

Frankreich erinnert sich: Vor zehn Jahren versanken seine Vorstädte in einer wochenlangen Welle der Gewalt. Jetzt blickt das Land wieder auf die Banlieues und erschrickt über fortschreitende Islamisierung und Radikalisierung. Die Polizei bereitet sich auf neue Krawalle vor. Die Erinnerung hat heute politische Folgen: Frankreich weiß, dass seine Banlieues neuen Migranten-Zustrom nicht vertragen.

Ausnahmezustand, Ausgangsperre, drei Wochen Gewalt in 274 Städten und Gemeinden, 10.000 abgefackelte Autos, 233 öffentliche und 74 Private Gebäude in 300 Städten zum Teil schwer beschädigt. 12.000 Polizisten im Einsatz, über 4000 Personen kurzfristig verhaftet, 1300 weggesperrt. Ein 61-jähriger Mann wurde auf der Straße mit der Faust erschlagen.

Zum zehnjährigen Gedenken: Schüsse in Marseille

Abgespielt hat sich das alles nicht in irgendeinem Drittwelt-Bürgerkriegsland, sondern mitten in Frankreich, vor genau zehn Jahren. Im Pariser Migranten-Ghetto Clichy-sous-Bois hatten sich am 27. Oktober 2005 drei Jugendliche vor der Polizei ausgerechnet in ein Transformatorenhaus geflüchtet – zwei starben prompt an einem tödlichen Stromschlag, einer erlitt schwere Verbrennungen. Die Folge: Wilde Krawalle der arabischen und afrikanischen Ghetto-Bewohner, die schon am gleichen Abend in Clichy ausbrachen, dehnten sich schnell auf andere Pariser Vorstadtsiedlungen aus und von dort auf  Stadtrand-Siedlungen – Banlieues – im ganzen Land.

Mit elf Toten seit Anfang des Jahres sind die règlements de compte in Marseille stabil – im vergangenen Jahr waren es zehn.

Pünktlich zum zehnjährigen Erinnerungstermin erschreckt neue Ghetto-Gewalt die Franzosen: Am vergangenen Wochenende wurden in einer Migranten-Problemsiedlung im Norden von Marseille drei Jugendliche mit Feuerstößen aus automatischen Waffen regelrecht hingerichtet. „Règlement de compte“ – Begleichung offener Rechnungen – im Drogenmilieu, heißt es in der französischen Presse. Das Innenministerium beruhigt: Mit elf Toten seit Anfang des Jahres seien die règlements de compte in Marseille stabil – im vergangenen Jahr waren es zehn.

Frankreichs größtes Sanierungsprogramm

Ganz Frankreich erinnert sich jetzt jener traumatischen drei Wochen, die vor zehn Jahren die Politik völlig überrascht und den Staat regelrecht erschüttert haben. Ausrufung des Ausnahmezustands – das hatte es zuletzt im Algerienkrieg gegeben. „Nichts hat sich in diesen zehn Jahren in den Außenstadt-Siedlungen verändert“, schimpft die Pariser Tageszeitung Le Figaro mit Blick auf die regelmäßigen Schießereien in Marseille.

Le Figaro hat recht und unrecht zugleich: In den Banlieues hat sich seit dem Oktober 2005 viel verändert. Vieles ist allerdings auch gleich geblieben, und manches hat sich gar verschlimmert. Der Staat hat 48 Milliarden Euro in die Hände genommen um im ganzen Land fast 600 Problemquartiere zu sanieren und verschönern – das größte Sanierungprogramm, das in Frankreichs Banlieues je umgesetzt wurde: 151.000 Wohneinheiten wurden abgerissen, 136.000 neu aufgebaut und 320.000 saniert. Das Antlitz ganzer Städte wurde völlig verändert: Neue Häuser, nagelneu Plätze und öffentliche Einrichtungen, neue Nahverkehrsverbindungen. „Die Stadtlandschaft dieser Quartiere ist  nicht mehr die gleiche“, zitiert die Pariser Tageszeitung Le Monde einen Städtebau-Professor.

Armut, Kriminalität, Schulversagen

Frankreichs Politik hat sich ins Zeug gelegt, und es hat sich etwas verändert. Aber die Probleme in den Banlieues sind die alten geblieben: „Armut, Kriminalität, Schulversagen – die Bewohner der sensiblen Viertel bleiben mit den gleichen Übeln konfrontiert. Die Radikalisierung der Jugend beunruhigt“, schreibt Le Figaro. Die der sozialistischen Regierung nahestehende Le Monde sieht es ähnlich: „Die Armut verschärft sich, der Drogenhandel blüht, und die religiöse Radikalisierung beunruhigt.“ Alle Zahlen bestätigen solche Analyse: In den sogenannten zones urbaines sensibles (ZUB) – den sensiblen urbanen Zonen – liegt die Arbeitslosigkeit doppelt so hoch wie im übrigen Frankreich. Die Jugendarbeitslosigkeit erreicht  in den Banlieue-Siedlungen 45 Prozent gegenüber 23 Prozent im Lande. Das Steueraufkommen der Vorstadt-Bewohner beträgt nur 56 Prozent des französischen Durschnitts. Die Zahl der Personen, die unter der Armutsgrenze leben ist drei Mal so hoch wie im französischen Schnitt. Die seit 2008 andauernde Wirtschaftskrise hat die Migrantensiedlungen vielfach auf eine „Überlebenswirtschaft“ zurückgeworfen, schreibt Le Monde: „Illegaler Handel aller Art, Schattenwirtschaft, Schwarzarbeit, wilde Werkstätten – und der Drogenhandel hat sich dauerhaft verfestigt.“

Die Armut verschärft sich, der Drogenhandel blüht, und die religiöse Radikalisierung beunruhigt.

Le Monde

Massenhaftes Schulversagen verschlimmert die Lage.  Die Zahl der Schüler, die die Abschlussprüfungen bestehen, liegt in den Banlieues dramatisch tiefer als im übrigen Frankreich. Mehr als die Hälfte der Schüler werden frühzeitig in die Arbeitswelt erlassen. Bezeichnend für die Situation der Schulen in den Vorstädten war im November 2014 ein großer Streik der Lehrer im Departement Seine-Saint-Denis im Nordosten von Paris. Der Protest richtete sich gegen die Praxis der verantwortlichen Behörden, ausgerechnet in den problematischen Vorstädten vielfach Arbeitslose ohne die geringste pädagogische Ausbildung oder Unterrichtserfahrung als Hilfslehrer einzustellen.

Wer die Schule verlässt, müsste zumindest lesen und schreiben können und die grundlegenden Verhaltensregeln so weit verinnerlicht haben, dass er eine reale Chance hat Arbeit zu finden. Das ist für viele Banlieue-Bewohner, insbesondere junge Männer, nicht der Fall.

Islamwissenschaftler und Soziologe Gilles Kepel

Im Gespräch mit der Neuen Zürcher Zeitung beschrieb vor drei Jahren der französische Soziologe und Islamforscher Gilles Kepel die Bildungssituation in den Einwanderer-Siedlungen – und die Folgen für das ganze Land: „Wer die Schule verlässt, müsste zumindest lesen und schreiben können und die grundlegenden Verhaltensregeln so weit verinnerlicht haben, dass er eine reale Chance hat Arbeit zu finden. Das ist für viele Banlieue-Bewohner, insbesondere junge Männer, nicht der Fall. Aus Ressentiment verteufeln sie dann mit der ‚nutzlosen‘ Schule auch die durch diese vertretenen republikanischen Werte, namentlich die Laizität. Etliche von ihnen fassen nie wirklich Fuß im Leben.“

Islamisierung: In den Banlieues definiert der Islam die Gesellschaft

Zum „düsteren Bild“ (Le Monde) von der sozialen Lage in den Banlieues tritt dort bedrohlich fortschreitende religiöse Radikalisierung und Islamisierung. Besonders darauf hat schon vor vier Jahren Kepel in seiner aufsehenerregenden Studie über die Verhältnisse in Clichy-sous-Bois und der Nachbargemeinde Montfermeil – „Banlieue de la République“ –, hingewiesen. Kepel schreibt darin von der „Allgegenwart des Islam“ in den Vorstadtsiedlungen und vom „Rückzug auf eine geschlossene religiöse Identität, beziehungsweise auf die nachdrückliche Forderung nach dem sozialen und kulturellen Bruch mit der französischen Gesellschaft“.

Forderung nach dem sozialen und kulturellen Bruch mit der französischen Gesellschaft.

Gilles Kepel

Mit der Explosion der Halal-Märkte in den  Migranten-Banlieues sei der Begriff „halal“ – was der Koran erlaubt – dort zur Beschreibung eines allumfassenden Lebens- und Verhaltenskodexes geworden: „Halal markiert die Verbote im privaten wie sozialen Leben – vom Ehebett bis zur Weigerung, die Kinder in den Listen der Schulkantinen einzuschreiben.“ Was in den Migranten-Siedlungen „die Gesellschaft“ ausmacht und definiert, so Kepel, ist „zuerst der Islam“.

Man muss die Frage stellen, ob Frankreich fortfahren kann, Jahr für Jahr 200.000 Fremde für immer auf seinem Gebiet aufzunehmen.

Xavier Lemoine, Bürgermeister von Montfermeil

Manche der Siedlungen – etwa Clichy sous-Bois – sind mit zwei Dritteln muslimischen Bewohnern im Grunde schon weitgehend islamische Städte. Le Figaro schreibt von „für die Republik verlorenen Territorien“. Der Bürgermeister der Nachbargemeinde Montfermeil, Xavier Lemoine,  erkennt im anhalten Migrantenstrom in die immer gleichen Stadtviertel die Hauptursache für die Misere der Vorstädte, für wachsende Unsicherheit und für den Vormarsch des radikalen Islam. Schon 2005, im Jahr der großen Unruhen, hatte sich der Bürgermeister aus der Problemsiedlung zu Wort gemeldet: „Man muss die Frage stellen, ob Frankreich fortfahren kann, Jahr für Jahr 200.000 Fremde für immer auf seinem Gebiet aufzunehmen.“

Die Polizei bereitet sich auf neue Krawalle vor

Wie geht es weiter in den Vorstädten und in Frankreich? „Vor dem Hintergrund der dschihadistischen Bedrohung beunruhigt die in bestimmten Vierteln um bestimmte Moscheen herum im Gang befindliche Radikalisierung die Sicherheitsbehörden“, beobachtet Le Monde. Die Ereignisse von 2005 können sich wiederholen, zitiert Le Figaro ungenannte Polizisten: „Wir wissen, dass die nächsten Aufstände noch viel gewalttätiger sein werden als alles, was wie bisher gesehen haben.“ Problem: Die französische Polizei wird dem dann personell viel weniger entgegenzusetzen haben. Denn seither werden immer mehr Polizisten abgezogen, etwa für die Jagd auf Dschihad-Aktivitäten im Internet oder für den personal-intensiven Schutz von jüdischen Schulen überall im Lande. Einen kleinen, wenn auch fragwürdigen Trost hält die die französische Bereitschaftspolizei (CRS) bereit: „Wir sind jetzt besser vorbereitet auf den Stadt-Guerilla-Kampf.“

Frankreichs Banlieues vertragen keine neuen Migrantenwellen

„Zehn Jahre nach den Krawallen versinken die Banlieues immer tiefer in der Misere“, titelt Le Figaro. Heute, während Europas großer Migranten-Krise, ist die Erinnerung an die Gewaltwelle in den Migranten-Vorstädte vom Herbst 2005 für die Franzosen aktueller denn je. Die europäischen Nachbarn – und die EU-Kommission – tun gut daran, das wahrzunehmen. Denn Frankreichs Blick auf die Gewalt vor zehn Jahren hat Folgen für die heutige Politik: Paris ist vorsichtig geworden mit massenhafter arabischer und afrikanischer Zuwanderung. Frankreichs Banlieues vertragen das nicht mehr, und die Franzosen sehen es genau. Auf keinen Fall werden sich drängen lassen – nicht von Berlin und nicht von Brüssel – jetzt Jahr für Jahr Hunderttausende Migranten aufzunehmen.