Um Schaden für Bayern durch ungebremsten Massen-Zuzug abzuwenden, ergreift die Staatsregierung unter Ministerpräsident Horst Seehofer Notmaßnahmen. (Foto: Imago/Christian Thiel)
Flüchtlingskrise

Bayern droht dem Bund mit Verfassungsklage

Der Freistaat Bayern droht mit einer Klage vor dem Bundesverfassungsgericht, falls die Bundesregierung den ungebremsten Flüchtlings-Zuzug nicht begrenzt. Das beschloss das Kabinett auf einer Sondersitzung. Ministerpräsident Seehofer fordert, die Migranten direkt an der österreichischen Grenze zurückzuweisen. Zudem kündigt er ein bayerisches Integrationsgesetz und massive Investitionen an.

Der Freistaat Bayern droht dem Bund in der Flüchtlingskrise mit einer Klage vor dem Bundesverfassungsgericht, um eine Begrenzung der Flüchtlingszahlen durchzusetzen. Wenn die Bundesregierung nicht selbst die Initiative ergreift, um die Rekordzahl der Flüchtlinge zu begrenzen, will die Staatsregierung das vor dem Bundesverfassungsgericht durchsetzen. Das kündigten Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer und Innenminister Joachim Herrmann (beide CSU) nach einer Sondersitzung des Kabinetts an.

Die Staatsregierung will sich für diesen Fall auf das Argument berufen, der Bund gefährde durch Untätigkeit in der Flüchtlingskrise die „eigenstaatliche Handlungsfähigkeit der Länder“. Seehofer und sein Kabinett fordern darüber hinaus als Notmaßnahme die Zurückweisung von Flüchtlingen direkt an der deutschen Grenze. „Falls der Bund hier nicht tätig werden sollte, behält der Freistaat Bayern sich vor, anlassbezogen eigene Maßnahmen zu ergreifen“, sagte Herrmann. Seehofer erklärte: „Dann tun wir das, was notwendig ist.“ Als eine denkbare Möglichkeit gilt, dass die bayerische Polizei Flüchtlingszüge direkt in andere Bundesländer weiterleitet.

„Schnelles, klares und international beachtetes Signal“ vom Bund gefordert

Herrmann forderte die Bundesregierung auf, ein „schnelles, klares und international beachtetes Signal zu setzen, dass Deutschland die Grenzen der Belastbarkeit erreicht hat“. Bund und EU werden außerdem aufgefordert, die EU-Außengrenzen zu schützen. „Bund und EU müssen dafür Sorge tragen, dass das Dublin-Verfahren von allen Mitgliedsstaaten wieder konsequent eingehalten wird.“ Wenn das nicht der Fall sei, dann müssen „als Notmaßnahme Zurückweisungen von Flüchtlingen unmittelbar an der Grenze erfolgen“. Das sei sowohl nach europäischem als auch nach deutschem Recht möglich, so Herrmann.

Kapitulation gehört nicht zum Instrumentenkasten der bayerischen Staatsregierung.

Ministerpräsident Horst Seehofer (CSU)

Die Bundesregierung soll außerdem dafür sorgen, dass Deutschland nach dem Dublin-Abkommen Asylbewerber wieder in die europäischen Länder zurückschickt, die sie zuerst erreicht haben. Bis November soll die Bundesregierung dafür sorgen, dass in Griechenland und Italien die von der EU beschlossenen „hot spots“ zur Erfassung der Flüchtlinge eingerichtet werden.

Darüber hinaus fordert die Staatsregierung, den Nachzug der Familienangehörigen von Bürgerkriegsflüchtlingen einzuschränken, sonst drohe allein über den Familiennachzug eine Verdoppelung, Verdreifachung oder gar Vervierfachung des Zustroms. Die schutzbedürftigen Bürgerkriegsflüchtlinge sollten über klare Kontingente EU-weit verteilt werden, so Herrmann.

Freistaat investiert 500 Millionen in Integrations-Initiative

Angesichts der immensen Flüchtlingszahlen schafft der Freistaat im kommenden Jahr mehr als 3700 neue Stellen in der Verwaltung, bei der Polizei, in der Justiz und an den Schulen, kündigte Seehofer an. Allein im Jahr 2016 hat das Sonderprogramm „Zusammenhalt fördern, Integration stärken“ ein Volumen von 489 Millionen Euro. 1700 neue Lehrer sollen eingestellt werden. „Die Bildung ist das Tor für eine gelingende Integration“, sagte Seehofer.

Darüber hinaus kündigte Seehofer ein eigenes bayerisches Integrationsgesetz an. Dort sollten Rahmen und Ziele der bayerischen Integrationspolitik verankert werden. Seehofer betonte, dazu gehöre „ein Kanon“ der Grundregeln und gemeinsamen Werte des Zusammenlebens.

Wenn Integration nicht gelingt, trifft das vor allem die kleinen Leute.

Horst Seehofer

„Integration wird nur gelingen, wenn wir das Ausmaß der Zuwanderung begrenzen“. Auch um „unsere innere Sicherheit zu gewährleisten“. Es gehe nicht nur um Terror, sondern um Kriminalität in allgemeinen Sinne. „Die Begrenzung der Zuwanderung ist unerlässlich.“

Auch der Wohnungsbau werde gefördert: 240 Millionen Euro wird der Freistaat hier investieren. Bayern will ein neues staatliches Wohnungsprogramm auflegen, um bis 2019 jedes Jahr 6000 bis 7000 staatliche oder staatlich geförderte Mietwohnungen neu zu schaffen. Angestrebt wird zudem, bis Ende 2016 insgesamt 20.000 Flüchtlingen ein Praktikums-, Ausbildungs- oder Arbeitsplatzangebot zu machen. Bis 2019 sollten 60.000 Menschen erfolgreich in den Arbeitsmarkt integriert werden.

Merkel sendet völlig falsche Signale aus

Bereits zuvor hatte Seehofer in der „Bild“-Zeitung mit Blick auf Kanzlerin Merkel erklärt: „In den Flüchtlingslagern in Nahost ist durch falsche Signale aus Deutschland eine Sogwirkung entstanden mit der Botschaft: Die Deutschen wollen ja, dass wir kommen.“ Viele Gesten aus Berlin seien als Einladung verstanden worden. „Deshalb muss Angela Merkel jetzt auch ganz klar sagen: Wir bleiben human, wir helfen, aber unsere Möglichkeiten sind begrenzt“, forderte der CSU-Vorsitzende.

An einer Begrenzung der Zuwanderung führe kein Weg vorbei, sagte Seehofer: „Einfach sagen: Wir haben Völkerwanderung und kriegen das hin – das wird nicht gelingen. Nicht bei der Zahl von Flüchtlingen, und nicht bei der Geschwindigkeit, mit der sie kommen.“

Auch Sachsen-Anhalt ächzt unter dem Ansturm

Auch andere Bundesländer haben erhebliche Probleme mit dem Flüchtlings-Ansturm: Der Ministerpräsident Sachsen-Anhalts, Reiner Haseloff (CDU), erklärte, er sehe sein Land in der Flüchtlingsfrage an der Grenze der Leistungsfähigkeit. „Unsere Belastungsgrenze ist definitiv erreicht. Das sagen mir alle Landräte und Bürgermeister“, sagte Haseloff der Magdeburger Volksstimme. „Die Aufnahmefähigkeit in den Kommunen ist erschöpft.“

Die für dieses Jahr erwartete Zahl von 30.000 Asylsuchenden und Flüchtlingen hält Haseloff nicht dauerhaft für verkraftbar. „Das wäre viel zu hoch, wenn wir eine vernünftige Integration hinbekommen wollen.“ Er sprach sich für Obergrenzen bei den Kriegsflüchtlingen sowie für schnellere Asylverfahren und zügige Rückführungen von abgelehnten Asylbewerbern aus.

Stimmung kippt: Mehrheitsverhältnisse drehen sich binnen zwei Wochen

Unterdessen droht die Stimmung in der Bevölkerung zu kippen: Eine Mehrheit der Deutschen hat laut einer Umfrage Zweifel, dass der Zustrom der Flüchtlinge im Land noch zu bewältigen ist. Nur noch 45 Prozent der Befragten glauben, dass Deutschland die große Zahl an Flüchtlingen verkraften könne, ergab das neue ZDF-„Politbarometer“. 51 Prozent sehen das nicht so. Damit haben sich die Mehrheitsverhältnisse gedreht. Vor zwei Wochen seien noch 57 Prozent der Deutschen der Meinung gewesen, dass Zahl der Flüchtlinge verkraftet werden können und nur 40 Prozent in dieser Hinsicht skeptisch.

Die gewachsene Skepsis hat auch zu Unzufriedenheit mit der Arbeit von Bundeskanzlerin Angela Merkel in dieser Frage geführt. Nur noch 46 Prozent (minus 4) sind demnach der Meinung, dass die Bundeskanzlerin im Bereich von Flüchtlingen und Asyl ihre Arbeit eher gut macht, 48 Prozent (plus 5) stellen ihr da ein eher schlechtes Zeugnis aus.

Bei Nachfragen zeigt sich, dass 74 Prozent aller Befragten meinen, dass wegen der Ausgaben für die Flüchtlinge in anderen Bereichen gespart werden müsse, ergab die Umfrage. Sehr skeptisch sind die Deutschen mittlerweile auch, wenn es um die Frage der Integrationsbereitschaft der Flüchtlinge geht. So glauben 44 Prozent, dass sich die meisten bei uns integrieren wollen. 50 Prozent meinen aber, dass sie diese Bereitschaft nicht haben. Dass durch die Flüchtlinge die gesellschaftlichen und kulturellen Werte in Deutschland bedroht werden, glaubt hingegen nur eine Minderheit (33 Prozent).

Kommentatoren mahnen Merkel zur Vernunft

Immer mehr Kommentatoren ermahnen Merkel, endlich die Realität zu betrachten und zu einer vernünftigen Politik zurückzukehren. So schreibt Redakteur Christian Geyer-Hindemith im FAZ-Feuilleton: „Gerade wenn man keine ethnische, deutschtümelnde, xenophobe Debatte will, muss man über Zahlen reden. Eine Flüchtlingspolitik, die sich nicht um Zahlen schert und das auch noch ohne Wenn und Aber zum Programm erhebt, ist keine Politik mehr. Sie ist Traum, Vision, Abenteuer, Nährboden fürs Ressentiment, Steilvorlage für alle, die nicht übers Machbare und seine Grenzen reden wollen, sondern über völkischen Irrsinn beispielsweise (den man auch dadurch herbeireden kann, dass man ihn in abgehobenen Paralleldebatten zur kommunalen Wohnungs-, Job- und Bildungswirklichkeit zu entkräften sucht). Mit anderen Worten: Demonstrative Zahlenvergessenheit ist in der Flüchtlingspolitik gleichbedeutend mit einer Absage an politische Rationalität, ist dasselbe wie verordnete Perspektivlosigkeit.“

dpa/wog