Panzerwrack in Eritrea: Reste des Krieges mit Äthiopien. Bild: Imago/Photoshot/Construction Photography
Asylbewerber

Eritrea: Kein dolce vita am Roten Meer

Was ist los in Eritrea? Aus dem kleinen ostafrikanischen Land am Roten Meer kommen besonders viele Migranten nach Europa. Menschenrechtsorganisationen verweisen auf Diktatur und Armut und nennen das Land „Afrikas Nordkorea“. Das ist sicher übertrieben. Ein näherer Blick zeigt: Eritreas Regime ist unerfreulich. Aber im afrikanischen Vergleich steht das Land so schlecht nicht da.

Ein Phänomen: Eritrea hat nur knapp 6,4 Millionen Einwohner. Trotzdem kommt aus dem kleinen ostafrikanischen Land am Roten Meer das größte Kontingent an afrikanischen Flüchtlingen nach Europa. UN-Angaben zufolge sind schon etwa 360.000 Eritreer als Flüchtlinge in europäischen Ländern registriert – etwa fünf Prozent der Bevölkerung. Dazu kommen noch 200.000 eritreische Flüchtlinge, die in den Nachbarländern Äthiopien und Sudan leben, schreibt das US-Politikmagazin Foreign Policy. Ebenfalls nach UN-Angaben verlassen jeden Monat etwa 5000 weitere Eritreer ihr Land, das mit 117.600 Quadratkilometern Fläche etwa anderthalb mal so groß ist wie Bayern.

In Deutschland stellten die Eritreer 2014 mit 13.198 Asylanträgen das drittstärkste Kontingent.

In der aktuellen Migranten-Krise macht sich das bemerkbar: Von 131.000 Migranten, die dieses Jahr schon in Italien ankamen, waren 26 Prozent Eritreer – doppelt so viele wie aus Nigeria, das etwa 30 Mal mehr Einwohner zählt. In Deutschland stellten die Eritreer 2014 mit 13.198 Asylanträgen das drittstärkste Kontingent – nach Syrern (39.332) und Serben (17.172). Erst mit deutlichem Abstand folgten 9115 Afghanen auf Rang vier. In der Schweiz stellten die Eritreer im ersten Halbjahr 2015 mit 3800 Asylgesuchen ein Drittel aller Bewerber. Damit sind sie in der Schweiz mit großem Abstand auf Platz eins aller Herkunftsländer, berichtete im August die Neue Zürcher Zeitung.

1998 noch touristischer Geheim-Tipp

Was ist los in Eritrea? Noch Anfang 1998 pries etwa die Londoner Tageszeitung The Daily Telegraph die ehemalige italienische Kolonie (1889-1941) fast glühend als touristischen Geheimtipp: „Dolce Vita am Roten Meer“, bei ganzjährig idealem Klima. Die Lufthansa flog Eritreas Hauptstadt Asmara (650.000 Einwohner, 2300 Meter über dem Meeresspiegel) drei Mal die Woche aus Frankfurt an – Hin- und Rückflug für etwa 1300 D-Mark.

Dass viele anerkannte Flüchtlinge vorübergehend nach Eritrea reisen, etwa um Verwandte zu besuchen oder eine Frau zu finden, ist in eritreischen Kreisen ein offenes Geheimnis.

Die Weltwoche

Seither ist vieles anders geworden. Der Eritrea-Tourismus dürfte sich erledigt haben – außer vielleicht für Eritrea-Flüchtlinge. Denn unter den in der Schweiz anerkannten Flüchtlingen stellten die Eritreer seit 2011 die mit Abstand meisten Reiseanträge: 15.158. Das populäre Schweizer Gratisblatt 20 Minuten (mit einer Auflage von 493.000 die meistgelesene Schweizer Tageszeitung), deutet an, dass die reisenden Eritreer vielfach in der Heimat Urlaub machen und dort Verwandte besuchen, obwohl sie in Eritrea angeblich an Leib und Leben bedroht sind. „Im Sommer sind die Flüge in die Hauptstadt Asmara jeweils ausgebucht”, zitiert auch die Schweizer Wochenzeitung Weltwoche einen Insider und fügt hinzu: „Dass viele anerkannte Flüchtlinge vorübergehend nach Eritrea reisen, etwa um Verwandte zu besuchen oder eine Frau zu finden, ist in eritreischen Kreisen ein offenes Geheimnis.”

Sparta der Moderne

Wie auch immer. Von Dolce Vita in Eritrea redet heute niemand mehr. Heute gilt Eritrea in der Presse meist als „Afrikas Nordkorea“. Das unfreundliche Etikett verdankt das kleine Land am roten Meer vor allem einem grotesk ausgeuferten Militärdienst. 1995 führte Diktator Isaias Afwerki einen verpflichtenden Militärdienst ein für beide Geschlechter. Auf dem Papier dauert der Dienst 18 Monate lang: Einer sechs Monate langen militärischen Ausbildung folgen 12 Monate „nationaler Aufbauarbeit“ – Straßenbau oder andere Dinge – für umgerechnet 30 Dollar im Monat (The Economist).

Das kleine Eritrea leistet sich mit 320.000 Soldaten die größte Armee in Subsahara-Afrika.

Auf Grund einer „nationalen Krise“, die Afewerki 1998 verkündete, kann seither jeder Eritreer bis zum 50. Lebensjahr jederzeit auf unbegrenzte Zeit eingezogen werden. Das Ende des Dienstes bestimmen allen Berichten zufolge militärische Vorgesetzte, so wie es ihnen gerade passt. Was dazu führt, dass der Dienst jahrelang dauern kann und dass etwa fünf Prozent der Eritreer in riesigen Kasernenanlagen in der Wüste leben müssen, wie die britische Wochenzeitung The Economist vor anderthalb Jahren schrieb. Eritrea habe 320.000 Soldaten unter Waffen, wusste schon 2010 Foreign Policy. Das kleine Eritrea leistet sich damit die größte Armee in Subsahara-Afrika. Zum Vergleich: In der Endphase des Kalten Krieges unterhielt die Bundesrepublik Deutschland bei mit 64 Millionen Bürgern ziemlich genau zehnmal größerer Bevölkerung eine etwa 600.000 Soldaten große Bundeswehr. Eritrea ist ein Militär-Staat. Weshalb auch The Daily Telegraph heute nicht mehr vom süßen Leben am Roten Meer titelt, sondern von Eritrea als „Sparta der Moderne“.

Nationale Dauerkrise

Diktator Afwerki und sein Regime begründen die andauernde „nationale Krise“ und den gewaltigen militärischen Aufwand mit anhaltender, latenter Sicherheitsbedrohung durch den großen Nachbarn Äthiopien. Da ist sogar etwas dran. Nach dreißigjährigem Bürgerkrieg, der wohl 200.000 Menschenleben kostete, gewann Eritrea 1991 seine Unabhängigkeit von Äthiopien. 1993 stimmten die Eritreer per Referendum für die vollständige Souveränität. Was dazu führte, dass Äthiopien seinen Zugang zum Roten Meer verlor. Mit 1,1 Millionen Quadratkilometern ist Äthiopien seither nach der Mongolei das zweitgrößte Binnenland der Erde.

Eritrea versperrt dem zehnmal größeren Äthiopien (Bevölkerung: knapp 100 Millionen) den Zugang zum Roten Meer.

„Landlocked“ nennt man die geopolitisch unerfreuliche und wirtschaftlich ungünstige Lage auf Englisch treffend: Eritrea versperrt dem zehnmal größeren Äthiopien (Bevölkerung: knapp 100 Millionen) den Zugang zum Roten Meer. Kein Wunder, dass sich die Beziehungen zwischen dem Zwerg und dem Riesen schnell verschlechterten. Ein zweijähriger Grenzkrieg, der 1998 ausbrach, forderte auf beiden Seiten etwa 70.000 Tote. Bis 2008 war in der Grenzregion eine UN-Beobachtermission stationiert. Den Schiedsspruch einer unabhängigen internationalen Kommission, der Eritrea strittige Gebiete zusprach, erkennt Äthiopien bis heute nicht an. Zwischen den Ländern herrscht seither ein Zustand zwischen Krieg und Frieden.

Einparteien-Diktatur und Schlusslicht auf der Rangliste der Pressefreiheit

Aber nicht nur der absurde Militärdienst macht Eritreas Regime unerfreulich. Der starke Mann des Landes, Isaias Afwerki, erhielt als 20-Jähriger seine militärische Ausbildung in China. Fast zwei Jahre lang studierte er in Maos Reich „politische Ideologie und Guerilla-Krieg“. Aus China hat er seine Sicht auf Staat und Politik mitgebracht: Sein Regime ist eine Ein-Parteien-Diktatur. Staatspartei ist die aus der Eritreischen Volksbefreiungsfront (EPLF) hervorgegangene Volksfront für Demokratie und Gerechtigkeit (PFDJ). Andere Parteien dürfen sich gar nicht organisieren. Parteichef Afwerki ist Staatspräsident und Chef der Übergangsregierung. Seit 1997 gibt es immerhin eine Verfassung und ein Übergangsparlament. Nationale Wahlen, die für 2001 anberaumt waren, wurden wegen des Konfliktes mit Äthiopien auf unbestimmte Zeit verschoben. Die Eritreer seien noch für eine „sehr, sehr, sehr lange Zeit“ nicht bereit für Wahlen, erläuterte Afwerki selber vor sechs Jahren der US-Tageszeitung Washington Post.

Noch sehr, sehr, sehr lange Zeit nicht bereit für Wahlen.

Isaias Afwerki

Ende Mai 2013 warf ein 21-seitiger Bericht des in Genf ansässigen UN-Menschenrechtsrats dem eritreischen Regime schwerste Menschenrechtsverletzungen vor: Darin war nicht nur von der „exzessiven Militarisierung“ des Landes die Rede, sondern auch von „illegalen Tötungen“, willkürlichen Verhaftungen und systematischer Folter sowie von Todesschuss-Politik an der Grenze und von schätzungsweise 10.000 politischen Gefangenen in unterirdischen Gefängnissen „oder in anderen geheimen Haftorten“. Die Organisation Reporter ohne Grenzen weiß von 20 derzeit verhafteten Journalisten und sieben weiteren, die seit 2001 in eritreischen Gefängnissen gestorben sind und macht das Land zum Schlusslicht auf der Rangliste der Pressefreiheit: „Damit ist das Land das größte Gefängnis für Medienschaffende auf dem afrikanischen Kontinent.“

Überzeichnete Berichte

Das klingt nicht gut. Aber die Berichte müssen wohl mit einer Prise Salz genossen werden: Dem Genfer UN-Menschenrechtsrat gehören unter anderem Länder wie Saudi-Arabien, China und Kuba an. Eben erst übernahm ausgerechnet Saudi-Arabien den Ausschuss eines wichtigen Gremiums. Die Bilanz des Menschenrechtsrates wirkt auch leicht verdreht: Zwischen 2006 und 2015 hat er etwa Israel 61 Mal verurteilt, Nordkorea nur acht und den Iran nur zwei Mal.

Exil-Eritreer haben ein Interesse daran, das Land so schlecht wie möglich darzustellen: Hängt doch der Erfolg ihrer Asylanträge vom schlechten Image ihrer Heimat ab.

Frankfurter Rundschau

Sonderberichterstatterin Sheila Keetharuth war jahrelang Aktivistin bei Amnesty International − die Organisation hat sich schon an Aktionen in Eritrea versucht − und durfte für ihren Bericht nicht nach Eritrea einreisen. Ihr Bericht beruht ausschließlich auf Aussagen von Exil-Eritreern. „Die haben jedoch ein Interesse daran, das Land so schlecht wie möglich darzustellen: Hängt doch der Erfolg ihrer Asylanträge vom schlechten Image ihrer Heimat ab“, überlegte Anfang August ausgerechnet die linke Tageszeitung Frankfurter Rundschau in einem überraschend informativen Artikel aus und über Eritrea.

Enge Beziehungen zu China

Afrikanisches Nordkorea – das ist wohl eine Übertreibung. Was eigentlich schon eben jene riesigen Flucht- oder Ausreisezahlen vermuten lassen. Aber eine wirklich erfreuliche Heimat ist Eritrea darum nicht. Das zeigt auch ein Blick auf seine sieche Kommandowirtschaft, deren Konzept Staatschef Afwerki in den 70er Jahren wohl auch aus China mitbrachte: 80 Prozent der Bevölkerung sind Bauern, die von Subsistenzwirtschaft leben. Aber weil soviele Söhne endlosen Militärdienst leisten müssen, kommen ihre Familien kaum mit der Ernte nach. Folge: Das Land kann sich nicht selbst ernähren.

Im Jahr 2004 lebten 50 Prozent der Bevölkerung unter der Armutslinie.

Das durchschnittliche Jahreseinkommen liegt bei umgerechnet etwa 600 Euro. Im Jahr 2004 lebten 50 Prozent der Bevölkerung unter der Armutslinie. Die Staatsverschuldung lag 2014 bei 101 Prozent des Bruttoinlandsproduktes (2013: 124 Prozent), und das Haushaltsdefizit bei 12,8 Prozent. Ohne Afwerkis gute Beziehungen zu China sähe es in Eritrea wahrscheinlich noch düsterer aus: 2013 gab China einen Kredit über 100 Millionen Dollar zum Aufbau der Infrastruktur. Eine chinesische Firma wird für 400 Millionen Dollar im Hafen von Massawa ein neues Fracht-Terminal bauen.

Vergleichsweise gute Infrastruktur

Auf der anderen Seite steht Eritrea im afrikanischen Vergleich so schlecht auch nicht da. Das Land profitiert noch immer vom beachtlichen Aufwand, den die italienische Kolonialmacht am Roten Meer einst trieb: Die Infrastruktur ist besser als in anderen afrikanischen Elendsländern – obwohl im Zweiten Weltkrieg und dann im Unabhängigkeitskrieg viel zerstört wurde. In Eritrea gibt es immerhin noch 306 Kilometer Eisenbahnlinie – im über zehn Mal größeren Nachbarland Äthiopien sind es 681 Kilometer. Man kann hier allerdings auch noch uralte Dampfloks fahren sehen.

Die Kluft zwischen Arm und Reich ist in Eritrea auffallend gering, die Korruption hält sich in Grenzen, so sicher wie in Asmara lebt es sich in keiner anderen Hauptstadt des Kontinents.

Frankfurter Rundschau

Dazu gibt es positive Tendenzen, berichtete kürzlich die Schweizer Wochenzeitung Weltwoche: Die Kindersterblichkeit ist seit der Unabhängigkeit um zwei Drittel gesunken, die Zahl der Frauen, die bei einer Geburt sterben, sogar um 78 Prozent. Malaria-Fälle sind um über 85 Prozent zurückgegangen und die Zahl der Tuberkulosetoten um 61 Prozent. Die Aids-Rate von 0,93 Prozent liegt für afrikanische Verhältnisse tief. Fast zu einem Lob verstieg sich die linke Frankfurter Rundschau: „Die Kluft zwischen Arm und Reich ist in Eritrea auffallend gering, die Korruption hält sich in Grenzen, so sicher wie in Asmara lebt es sich in keiner anderen Hauptstadt des Kontinents.“ Auffällig: In Eritrea liegt die Analphabeten-Rate bei 26 Prozent − in Äthiopien bei 51 Prozent fast doppelt so hoch.

Der Massen-Exodus aus Eritrea wird sich beschleunigen

Also, warum derzeit soviele Migranten aus Eritrea, und warum setzte ihre massenhafte „Flucht“ 2013 und 2014 so plötzlich ein? Das hat wohl vor allem mit Sogwirkung zu tun. Denn zum einen wurde erst seit ein paar Jahren für jedermann auf dem Globus sichtbar, dass die Europäische Union im Grunde keine Grenzen mehr hat und sperrangelweit offen ist. Zum anderen hat nun die eritreische Diaspora in Europa eine kritische Größe erreicht – allein in London leben etwa 40.000 Eritreer. Flüchtlinge tendieren dazu, in Länder zu fliehen, in denen schon viele ihrer Landsleute sind, erläutert die Neue Zürcher Zeitung: „Das führt zu einem Schneeballeffekt: Wenn eine Diaspora groß ist, zieht sie weitere Flüchtlinge an und diese noch mehr.“ In Eritrea sieht jeder, wie gut es ihren Landsleuten in Europa geht: Die Gelder, die die Emigranten nachhause schicken, machen über 30 Prozent der eritreischen Wirtschaft aus (NZZ).

Das führt zu einem Schneeballeffekt: Wenn eine Diaspora groß ist, zieht sie weitere Flüchtlinge an und diese noch mehr.

Neue Zürcher Zeitung

Kein Wunder, dass immer mehr Eritreer ebenfalls nach Europa aufbrechen wollen. Noch etwas kann zu den hohen Zahlen beitragen: „Hochrangige Diplomaten in westlichen Staaten gehen davon aus, dass sich viele Äthiopier als Eritreer ausgeben, weil nach Eritrea nicht abgeschoben werden darf“, zitiert die Tageszeitung Die Welt eine Ostafrika-Expertin der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik.

Seit 1950 hat sich Eritreas Bevölkerung von 1,14 Millionen auf heute 6,4 Millionen fast versechsfacht.

Eine entscheidende Rolle für den Massenexodus spielt natürlich auch in Eritrea das übliche afrikanische Phänomen: dramatische Bevölkerungsexplosion. Seit 1950 hat sich Eritreas Bevölkerung von 1,14 Millionen auf heute 6,4 Millionen fast versechsfacht. Für das Jahr 2050 erwartet eine UN-Bevölkerungsprojektion 14,3 Millionen Eritreer. Im Jahr 2100 werden es, wiederum der UN-Berechnung zufolge, 21,7 Millionen sein. Keine wirtschaftliche Entwicklung kann da mithalten, und die Eritreas schon gar nicht. Wer in Eritrea bleibt, kann eigentlich nur ärmer werden. Und Europa ist so verlockend, so erreichbar und so offen wie noch nie. Die Migration aus Eritrea, heißt das, wird so schnell nicht enden − „afrikanisches Nordkorea” hin, „dolce vita am Roten Meer” her.

90 Prozent der Eritreer in der Schweiz leben von Sozialhilfe.

Die Weltwoche

Für Europa wird die große Zahl der Migranten aus Eritrea – oder Äthiopien – in jedem Fall zum Problem, resümiert etwa die Weltwoche: „Weil die meisten Eritreer die Integration in die Schweizer Arbeitswelt nicht schaffen, führen 90 Prozent von ihnen ein trostloses Dasein als Sozialrentner.“