„So kann es nicht weitergehen“
"Wir müssen zeigen, wie dramatisch hier die Situation vor Ort ist", sagt Deggendorfs Landrat Christian Bernreiter über die Flüchtlingskrise. In einem Brief lädt er die Bundeskanzlerin nach Niederbayern ein – sie solle sich selbst ein Bild machen. Außerdem: Die bayerische Staatsregierung fordert eine Begrenzung der Flüchtlingszahlen auf europäischer Ebene. Eine Woche der Entscheidungen steht an.
Asylpolitik

„So kann es nicht weitergehen“

"Wir müssen zeigen, wie dramatisch hier die Situation vor Ort ist", sagt Deggendorfs Landrat Christian Bernreiter über die Flüchtlingskrise. In einem Brief lädt er die Bundeskanzlerin nach Niederbayern ein – sie solle sich selbst ein Bild machen. Außerdem: Die bayerische Staatsregierung fordert eine Begrenzung der Flüchtlingszahlen auf europäischer Ebene. Eine Woche der Entscheidungen steht an.

Die Worte von Bundeskanzlerin Angela Merkel in Flüchtlingskrise rufen mitunter Kritik in einigen betroffenen Regionen aus. Für die grenznahen Regionen in Niederbayern meldete sich jetzt der Deggendorfer Landrat und niederbayerische Landkreispräsident Christian Bernreiter zu Wort. In einem offenen Brief an die Kanzlerin lädt der CSU-Politiker Merkel nach Niederbayern ein – bei einem solchen Besuch könne sich die CDU-Chefin ein genaues Bild von der aktuellen Realität in den Grenzregionen machen – denn dort, so betont Bernreiter, sei die Belastungsgrenze längst erreicht und teilweise überschritten. Wenn der Ansturm anhalte, so Bernreiter, sei das Land bald überfordert.

„Bayern setzt die Folgen dieser Haltung Tag für Tag um und ist dabei längst über dem Limit“, betonte Bernreiter. Der Freistaat brauche Unterstützung und ein klares Konzept. Die Kanzlerin müsse daher vollständig über die Lage vor Ort im Bilde sein. „Wir müssen ihr zeigen, wie dramatisch die Situation ist“, betonte der Deggendorfer Landrat. Gemeinsam mit anderen Landräten aus der Region lade man Angela Merkel deshalb zu einem Besuch ein.

Kritik an Bund und manchen Bundesländern

Die Wiedereinführung der Grenzkontrollen in der vergangenen Woche begrüßt Bernreiter ausdrücklich. „Doch seither wiederholen sich die Szenen, die sich zuletzt am Hauptbahnhof München abgespielt haben, an den Grenzübergängen im Süden und Osten des Freistaats“, beklagt Bernreiter. Nach Simbach am Inn, eine Grenzstadt mit 9.000 Einwohnern, seien in der Vorwoche an einem Tag 1000 Flüchtlinge gekommen, ähnlich sehe es im oberbayerischen Freilassing aus, betonte der Landkreispräsident. Dass der Bund und die anderen Bundesländer die Dramatik der Situation noch immer nicht in vollem Ausmaß zu erkennen scheinen, zeigt sich laut Bernreiter einerseits im zögerlichen Handeln des Bundes, andererseits an der mangelnden Solidarität der Länder.

„Wir brauchen einen Masterplan“

Bernreiter fordert einen „Masterplan“, mit dem man der Flüchtlingskrise Herr werden könne. Hierfür sieht er einen persönlichen Besuch der Bundeskanzlerin in den betroffenen Regionen als unerlässlich an. „Die Sorgen und Ängste unser Bürger würden wir gerne an die Frau Bundeskanzlerin weitergeben“, so Bernreiter. „Wir hoffen sehr, dass sie die dringende Einladung der bayerischen Landrätinnen und Landräte annimmt.“

Scheuer kritisiert „unkontrollierte Migration“

CSU-Generalsekretär Andreas Scheuer sagte, aktuell seien „alle europäischen Regeln“ faktisch außer Kraft gesetzt. „Deutschland hat nicht nur massenhaften Flüchtlingszustrom, sondern mittlerweile einfach unkontrollierte Migration. Das geht so nicht! Menschen kommen zu uns, die registriert sind, sicher untergebracht waren in anderen europäischen Staaten und jetzt einfach nach Deutschland wollen.“

Das sei in dieser Menge einfach nicht zu schultern, so der Generalsekretär. „Wir sind ja schon richtig froh, wenn mal ein Tag unter 3000 Neuankömmlinge dabei ist. Rechnen Sie das hoch auf 365 Tage. An einer Obergrenze führt kein Weg vorbei“, sagte Scheuer.

Bayern will Flüchtlingszahlen begrenzen

Die bayerische Staatsregierung fordert eine Begrenzung der Flüchtlingszahlen auf europäischer Ebene. Das sagte Staatskanzleichef Marcel Huber am Montag nach einer Kabinettssitzung in München. Eine deutsche oder bayerische Lösung könne es nicht geben. Deutschland sei „fast gezwungen“ zur Begrenzung der Flüchtlingszahlen, „weil wir sonst in Schwierigkeiten geraten, die wir nicht mehr bewältigen können“.

Notwendig sind mehr Lehrer, mehr Polizisten, mehr Menschen in den Ausländerbehörden, mehr Sozialarbeiter.

Marcel Huber, Staatskanzleichef

Ministerpräsident Horst Seehofer und sein Kabinett diskutierten außerdem die Prioritäten der Staatsregierung bei der Integration der Flüchtlinge, die in Bayern bleiben werden. Huber nannte mehrere Punkte von der Vermittlung der deutschen Sprache über die „kulturelle Integration“ in die Gesellschaft bis zum Wohnungsbau. Notwendig seien dazu „mehr Lehrer, mehr Polizisten, mehr Menschen in den Ausländerbehörden, mehr Sozialarbeiter“.

Kosten wegen unkontrollierbaren Flüchtlingszahlen unklar

Konkrete Beschlüsse gab es jedoch nicht, auch der Finanzrahmen ist noch unklar. Denn der bayerische Geldbedarf hängt von mehreren Faktoren ab: So gibt es bisher keine Flüchtlingsprognose des Bundes für 2016, die als Grundlage für die Finanzplanung der Länder dient. Ein weiterer Faktor ist die in Berlin geplante Reduzierung der Leistungen für abgelehnte Asylbewerber. In diesem Jahr wird Bayern voraussichtlich zwischen 120.000 und 150.000 Asylbewerber aufnehmen. Etwa die Hälfte muss voraussichtlich wieder ausreisen, so dass von den diesjährigen Flüchtlingen mutmaßlich etwa 60.000 bis 75.000 Menschen dauerhaft in Bayern bleiben werden. Wie viele im nächsten Jahr kommen werden, ist jedoch völlig offen.

Die Zuwanderung muss deutlich begrenzt werden.

Markus Söder

Am Donnerstag soll bei der Ministerpräsidentenkonferenz entschieden werden, ob der Bund seine Zuschüsse an die Länder ein weiteres Mal erhöht. Bayern fordert für dieses und nächstes Jahr eine Verdopplung. Sofern Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) zustimmt, könnte Bayern dann mit 1,2 Milliarden anstelle von 600 Millionen Euro rechnen. „Das ist die Woche der Entscheidungen in Brüssel und Berlin“, sagte deswegen Finanzminister Markus Söder (CSU). „Die Zuwanderung muss deutlich begrenzt werden. Außerdem brauchen wir eine deutlich stärkere finanzielle Beteiligung des Bundes.“ Söder warnte davor, Entscheidungen auf die lange Bank zu schieben: „Wenn diese Woche nichts passiert, haben wir nicht nur ein finanzielles, sondern auch ein kulturelles und gesellschaftliches Problem.“

Aigner gegen Gesundheitskarte

Bayerns Wirtschaftsministerin Ilse Aigner lehnt eine Gesundheitskarte für Flüchtlinge ab. „Wir dürfen keine weiteren Abwanderungsgründe schaffen“, sagte Aigner am Montag in München. Eine elektronische Gesundheitskarte führe zu „nicht kontrollierbaren Leistungsausweitungen“ und erwecke in den Herkunftsländern den Eindruck einer umfassenden kostenlosen Gesundheitsversorgung in Deutschland. Die Staatsregierung verfolge eine klare Linie: „Ja zu humanitärer Hilfe und Nein zu unbegrenztem Zuzug“. Bisher müssen Flüchtlinge sich jeden Arztbesuch vorher behördlich genehmigen lassen. Da das mit großem Verwaltungsaufwand verbunden ist, haben mehrere SPD-geführte Länder eine Gesundheitskarte eingeführt. Aigner hält den Aufwand für vertretbar: „Das bisherige System mit Berechtigungsscheinen des Sozialamts für die medizinische Behandlung von Flüchtlingen hat sich bewährt, und wir sollten dabei bleiben.“

Flüchtlingsansturm geht weiter

In Bayern sind am Sonntag wieder mehr Flüchtlinge angekommen. Am Sonntag reisten nach Angaben des Innenministeriums 5374 Asylsuchende ein, tags zuvor waren es 2800 gewesen. Allein im Bereich Rosenheim wurden laut Bundespolizei 1300 Menschen gezählt, ein Großteil von ihnen im Grenzort Freilassing. Dort fuhren am Abend zwei Züge mit mehr als 800 Menschen ein. Die Flüchtlinge wurden registriert und anschließend in Erstaufnahme-Einrichtungen in ganz Deutschland verteilt. Fünf Schleuser seien festgenommen worden, sagte der Sprecher.

Koalition beschließt Maßnahmenpaket

Die große Koalition hat sich unterdessen nach den Worten von Innenminister Thomas de Maizière  auf ein Maßnahmenpaket als Reaktion auf die Flüchtlingskrise verständigt. Zum vorgelegten Gesetzentwurf sei „eine Einigung in allen Punkten erzielt“ worden, sagte der CDU-Politiker am Montag in Berlin. Der überarbeitete Entwurf sei nun an die Länder verschickt worden.

Das Gesetzespaket wurde an einer entscheidenden Stelle verändert. Bislang war vorgesehen, dass über ein EU-Mitgliedsland eingereiste Flüchtlinge und Asylbewerber weder Geld- noch Sachleistungen bekommen, sondern Proviant und eine Fahrkarte zur Rückkehr in das EU-Land, über das sie erstmals in die Europäische Union eingereist sind. Diese Regelung soll nach den Worten de Maizieres nun nur für diejenigen gelten, die nach einem Asylverfahren ausreisen oder sich über einen EU-Verteilmechanismus eigentlich in einem anderen Land aufhalten müssten. Die Regelung gelte aber nicht für sogenannte Dublin-Fälle.

Der Entwurf sieht zudem Lockerungen im Bauplanungsrecht vor, um die Schaffung von Flüchtlingsunterkünften zu beschleunigen. Menschen, die bleiben dürfen, sollen möglichst schnell in Gesellschaft und Arbeitswelt integriert werden, andere schneller abgeschoben werden. Außerdem sollen in Erstaufnahmeeinrichtungen künftig stärker Geld- durch Sachleistungen ersetzt werden, teilte de Maizière mit.

Merkel und Hollande vor dem EU-Parlament

Bundeskanzlerin Angela Merkel und Frankreichs Präsident Francois Hollande planen angesichts wachsender Spannungen in der EU einen gemeinsamen Auftritt vor dem Europäischen Parlament. Der demonstrative deutsch-französische Schulterschluss ist nach Angaben des Präsidenten des EU-Parlaments, Martin Schulz, für den 7. Oktober vorgesehen.

(dpa/dos/avd)