Ansturm am Münchner Hauptbahnhof. (Bild: Wolfram Göll)
Wieder Grenzkontrollen

Ausnahmezustand

Mehr als 63.000 Flüchtlinge sind in München seit 5. September angekommen. Am Wochenende wäre das System trotz aller Bemühungen fast kollabiert. Nun zog Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) die Notbremse und hat wieder Grenzkontrollen an den deutschen Grenzen eingeführt – laut Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer auf bayerische Initiative.

Wende in der Flüchtlingskrise: Deutschland kontrolliert wieder seine Grenzen. Schwerpunkt sei „zunächst“ Österreich, sagte der Innenminister. Man müsse wieder zu einem geordneten Verfahren kommen. Viele Bundesländer sehen die Belastungsgrenze erreicht. Die Zuwanderung hatte am Wochenende noch einmal stark zugenommen. Allein nach München kamen am Wochenende mindestens 16.500 Menschen. De Maizière wollte sich nicht festlegen, wie lange Deutschland wieder Kontrollen vornehmen wird. Die Rechtslage lasse nur vorübergehende Kontrollen aus Gründen der öffentlichen Sicherheit zu, sagte der CDU-Politiker in einem ARD-„Brennpunkt“. „Das machen wir jetzt mal eine Weile.“ Man habe sich das nicht leicht gemacht, sagte der Innenminister weiter. Er versicherte, die Rückkehr zu Grenzkontrollen sei keine Abkehr von Europa, sondern ein Signal an Europa. Es zeige den dringenden Handlungsbedarf. Aus Sicht der EU-Kommission bewegt sich die Bundesregierung mit den Kontrollen innerhalb des geltenden Rechts.

Es ist ein ganz wichtiges Signal an die ganz Welt und auch nach innen, in die Bundesrepublik Deutschland.

Horst Seehofer

CSU-Chef Horst Seehofer bezeichnete die Entscheidung als dringend notwendig. „Es ist ein ganz wichtiges Signal an die ganz Welt und auch nach innen, in die Bundesrepublik Deutschland“, sagte der bayerische Ministerpräsident. Die Maßnahme sei auf Wunsch Bayerns in einem Telefonat zwischen Kanzlerin Angela Merkel (CDU), SPD-Chef Sigmar Gabriel und ihm vereinbart worden, unter Hinzuziehung des Außen- und des Innenministers. „Das war eine bayerische Initiative“, betonte Seehofer. Am Samstag Mittag habe er sich – nach einem Hilferuf seines Innenministers Joachim Herrmann – diesbezüglich an Merkel gewandt, um 17.30 Uhr habe es dann die entscheidende Telefonschalte mit den wichtigen Beschlüssen gegeben.

Da seien sich die Koalitionsspitzen sehr schnell einig gewesen, ohne große Diskussion. „Das war eher eine gegenseitige Bestätigung, dass das jetzt so sein muss“, erzählte Seehofer. Doch die Wiedereinführung der Grenzkontrollen reicht Seehofer nicht aus. Er forderte weitere wichtige Beschlüsse in der Flüchtlingspolitik spätestens im Oktober: zum Beispiel doppelt so viel Geld des Bundes für Länder und Kommunen wie noch am vergangenen Sonntag vereinbart. Die Forderung nach einer Verdoppelung der Flüchtlingshilfe des Bundes begründete Seehofer damit, dass sich die Lage in den vergangenen sieben Tagen – und damit seit dem Koalitionsbeschluss – noch einmal dramatisch verschärft habe.

Wir haben in der Flüchtlingspolitik im Freistaat Bayern derzeit einen Ausnahmezustand. Es sind alle Regeln mehr oder weniger außer Kraft. Es gibt keine Ordnung, kein System, und das ist in einem Rechtsstaat eine bedenkliche Sache.

Horst Seehofer

Und ganz akut will Bayern den Bund in die Pflicht nehmen, dass dieser die Verteilung der in Deutschland ankommenden Flüchtlinge nach dem Königsteiner-Schlüssel durch die Einrichtung eines eigenen Koordinierungsstabs übernimmt. Angesichts Zehntausender Flüchtlinge binnen weniger Tage sei dies erforderlich, um einen Kollaps des Verteilsystems in München zu verhindern. Das sei eine nationale Aufgabe, sagte der bayerische Ministerpräsident am Sonntagabend nach einer Sondersitzung seines Kabinetts in München. Er forderte eine Sonder-Ministerpräsidentenkonferenz noch in dieser Woche. Seehofer sagte mit Blick auf die Flüchtlingskrise: „Wir haben in der Flüchtlingspolitik im Freistaat Bayern derzeit einen Ausnahmezustand. Es sind alle Regeln mehr oder weniger außer Kraft. Es gibt keine Ordnung, kein System, und das ist in einem Rechtsstaat eine bedenkliche Sache.“ Er fügte hinzu: „Das ist im Grunde eine Kapitulation des Rechtsstaats.“ Dies habe man nun nicht länger hinnehmen können. Dass das ganze System nicht zusammengebrochen sei, verdanke man allein dem Engagement von Kommunen, Hilfsorganisationen, Ehrenamtlichen und vielen anderen bei der Aufnahme und Verteilung der Asylsuchenden. Seehofer betonte, das Kabinett erachte in akuten Notsituationen auch große Zeltlager für notwendig. Er kritisierte, dass das Engagement der anderen Bundesländer nicht ausgereicht habe: „Grundsätzlich war da durchaus Solidarität da – aber sie hat zum Schluss nicht mehr gereicht.“ Kanzlerin Merkel habe deshalb zuletzt auch mit einigen Ministerpräsidenten gesprochen. Bayern fordert in einem 12-Punkte-Sofortprogramm unter anderem, dass sich die Bundesregierung auf europäischer Ebene für einen umfassenden Schutz der EU-Außengrenzen einsetzt, dass die Strafen für kriminelle Schlepper und Menschenhändler verschärft und abgelehnte Asylbewerber konsequent abgeschoben und rückgeführt werden.

Seehofer: „Landkreis in Schwaben nimmt soviele Flüchtlinge auf wie ganz Frankreich“

Gerade die Verteilung der Flüchtlinge innerhalb Deutschlands müsse besser funktionieren, sagte Seehofer nach der CSU-Vorstandssitzung am Montag. „Aktuell gibt es kein System, keine Regeln. Die Verteilung der Flüchtlinge innerhalb der Bundesrepublik funktioniert schlicht und ergreifend nicht.“ Und auch im europäischen Vergleich bewältige Deutschland – und allen voran der Freistaat – einen Großteil der anstehenden Herausforderungen. „Es gibt einen Landkreis in Schwaben, der aktuell genauso viele Flüchtlinge aufnimmt wie Deutschland“, sagte Seehofer.

Tausende Bundespolizisten kommen nach Bayern

Die Bundesbehörden wiesen die Deutsche Bahn am Sonntag wegen des Flüchtlingsandrangs an, für zwölf Stunden keine Züge mehr von Österreich nach Deutschland fahren zu lassen. Die Deutsche Bahn unterbrach den Zugverkehr von Österreich bis zum Montagmorgen um 6 Uhr. Zuvor war erstmals ein regulärer ICE der Deutschen Bahn für Flüchtlinge geräumt worden. Die Passagiere dieses Zuges von München nach Berlin mussten auf andere Züge umbuchen.

Unkontrollierte Einreisen in dem Umfang der letzten Tage stellen eine ernsthafte Bedrohung für die öffentliche Sicherheit und Ordnung in Deutschland dar.

Joachim Herrmann

Die Kontrollen sollen nach Ministeriumsangaben an den früheren Grenzübergängen stattfinden. Die Bundespolizei werde „in vierstelliger Größenordnung“ an den Grenzen eingesetzt, ein Einsatz der Bundeswehr dort sei nicht geplant. Die Bundespolizei kündigte intensive Kontrollen über einen längeren Zeitraum an. Laut „Bild“ schickt der Bund 21 Hundertschaften seiner Bereitschaftspolizei nach Bayern, die bei der Grenzsicherung helfen sollen. Nach Worten von Innenminister Joachim Herrmann gilt die vorübergehende Wiedereinführung der Grenzkontrollen zunächst nur für die deutsch-österreichische Grenze. Die Kontrollen seien „gegenwärtig nicht befristet“, sagte Herrmann. Falls es „Ausweichbewegungen“ gebe, werde man aber auch über Kontrollen an weiteren Grenzen nachdenken. Dies bedeute nicht, dass kein Flüchtling mehr nach Deutschland komme. Wer einen Asylantrag stellen wolle, könne dies auch weiter tun. Dies solle aber wieder in geordneten Bahnen vonstattengehen. „Das ist auch eine Frage der inneren Sicherheit“, betonte Herrmann. „Unkontrollierte Einreisen in dem Umfang der letzten Tage stellen eine ernsthafte Bedrohung für die öffentliche Sicherheit und Ordnung in Deutschland dar. Nun muss der Zustrom der Flüchtlinge nach Deutschland wieder in geordnete Bahnen gelenkt werden, insbesondere die Asylbewerber wieder ordentlich registriert werden. Das ist die Grundvoraussetzung dafür, dass die europäischen Regeln, etwa das Dublin-Übereinkommen wieder greifen können.“ Der 12-stündige Stopp des Zugverkehrs in Österreich gab allen Einsatzkräften in München Zeit zum Durchschnaufen.

Plötzlich sind alle Asylbewerber aus Syrien

Herrmann wies auch auf ein weiteres Problem hin, das dadurch entstand, dass eine interne Weisung, Syrer möglichst unkompliziert Asyl zu gewähren, öffentlich wurde. Plötzlich waren alle Asylbewerber Syrer. Der deutsche Zoll hat mehrere Pakete mit gefälschten und echten Ausweisen aus dem Bürgerkriegsland abgefangen. Auch in Bulgarien stellte die Polizei kürzlich 10.000 falsche syrische Pässe sicher. Und in Serbien wurde eine erste Fälscherwerkstatt für syrische Pässe ausgehoben. Die EU-Grenzschutzbehörde Frontex warnte kürzlich davor, dass es in der Türkei einen gut organisierten Fälschermarkt für syrische Pässe gebe. „Wir müssen insgesamt hier eine stärkere Kontrolle haben, weil wir in den letzten Tagen festgestellt haben, dass hier viele unterwegs sind, die keine wirklichen Flüchtlinge sind. Da hat es sich in den letzten Tagen herumgesprochen, dass es erfolgreich ist, wenn jeder behauptet, Syrer zu sein“, warnte Herrmann im radioWelt-Interview. Das Abkommen von Schengen beinhalte auch die Verpflichtung, dass an den Außengrenzen um so konsequenter kontrolliert werde. „Das ist schon eine ganze Weile in einigen Ländern wie Italien, wie Griechenland überhaupt nicht mehr der Fall und das können wir nicht akzeptieren“, erklärte der Innenminister.

Ohne Ungarn ist die Lösung der Probleme nicht möglich, da muss sich jeder ein bisschen aus der Traumfabrik befreien.

Horst Seehofer

„Ich bin im Interesse unseres Landes und der Bevölkerung daran interessiert, eine Lösung zu finden“, sagte Seehofer nach der Sondersitzung seines Kabinetts am Sonntagabend. Schon an diesem Montag wird sich auch der CSU-Vorstand vorrangig mit der Flüchtlingspolitik befassen. Und es dürfte vermutlich nicht die letzte Sondersitzung des Kabinetts dazu gewesen sein. Seehofer erneuerte seine Forderung, auch mit dem ungarischen Regierungschef Viktor Orban zusammenzuarbeiten. „Ohne Ungarn ist die Lösung der Probleme nicht möglich, da muss sich jeder ein bisschen aus der Traumfabrik befreien“, sagte er. „Wir brauchen Orban zur Lösung des Problems.“ Man müsse die Staaten an den Außengrenzen der EU „stützen und nicht verteufeln“. Zugleich bekräftigte der CSU-Chef, dass man zur Lösung der Syrien-Krise auch Russland brauche. Das bayerische Kabinett verständigte sich zudem darauf, neben den beiden bereits bekannten Aufnahme- und Abschiebezentren für Balkan-Flüchtlinge noch zwei weitere Standorte zu suchen.

Seehofer hat Recht behalten

Mit den Grenzkontrollen behält Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer in der Asylpolitik wieder einmal Recht, auch wenn er zunächst für seine harten Worte gegen Merkels einsame Entscheidung bezüglich der unkontrollierten Einreise von Migranten aus Ungarn Kritik einstecken musste (der Bayernkurier berichtete). Vor gut einer Woche hatte die Bundesregierung angesichts der dramatischen Lage in Ungarn in Absprache mit der Regierung in Österreich beschlossen, Flüchtlinge aus Ungarn unbürokratisch und unregistriert einreisen zu lassen. Seither hatte die Zuwanderung noch einmal stark zugenommen und viele andere Bundesländer beklagen nun auch, sie hätten die Belastungsgrenze erreicht. Und plötzlich klingt Merkels Parteifreund fast wie Seehofer, Hans-Peter Friedrich und Joachim Herrmann, die die Kanzlerin kritisiert hatten: „Das ist auch aus Sicherheitsgründen dringend erforderlich“, sagte de Maizière nun zu den Grenzkontrollen. Dieser Schritt „wird nicht alle Probleme lösen, das wissen wir“, erklärte er. „Aber wir brauchen einfach etwas mehr Zeit und ein gewisses Maß an Ordnung an unseren Grenzen.“ De Maizière betonte, die Hilfsbereitschaft dürfe nicht überstrapaziert werden.

Wie schon bei den Asylzentren, die sich auf Balkanflüchtlinge spezialisieren, der Taschengeldkürzung, der Erweiterung der Liste der sicheren Herkunftsländer oder anderen Maßnahmen, die Bayern in der Asylkrise ergriffen oder gefordert hat, schwenken die anderen Bundesländer und Parteien – sogar bis in die Reihen der ideologisch völlig verbohrten Grünen – in immer kürzer werdenden Abständen auf Seehofers Kurs ein. Selbst die härtesten Multikultifans und „Lasst-alle-zu-uns-kommen“-Freunde werden von der Macht des Faktischen dazu gebracht, der realitätsorientierten Politik der CSU zu folgen. Es ist die „Stimme der Vernunft“, wie CSU-Generalsekretär Andreas Scheuer klar machte.

Die EU will Flüchtlinge verteilen – gerade so viele, wie in einem Monat in Deutschland ankommen

An diesem Montag wollen die EU-Staaten einen Plan zur Verteilung von 120.000 Flüchtlingen beraten. Das Vorhaben einer festen Verteilungsquote ist unter den Staaten umstritten. Einen Tag später will Ungarn die Grenze zu Serbien praktisch dicht machen. Der ungarische Regierungschef Viktor Orban begrüßte den Schritt Berlins. „Wir haben großes Verständnis für Deutschlands Entscheidung und erklären unsere volle Solidarität“, sagte er der „Bild„. Ungarn wird am Dienstag seine Flüchtlingspolitik drastisch verschärfen und die Grenze praktisch schließen. Dann tritt eine Regelung im Strafgesetzbuch in Kraft, wonach illegaler Grenzübertritt als Straftat gilt, die mit bis zu drei Jahren Haft geahndet werden kann. Das dürfte das Chaos im Grenzgebiet vergrößern und die Flüchtlinge dazu bringen, sich alternative Routen zu suchen. Bundeskanzlerin Angela Merkel stimmte sich am Sonntagabend mit dem französischen Staatspräsidenten François Hollande über das weitere Vorgehen in der Flüchtlingskrise ab. Wie eine Regierungssprecherin in Berlin mitteilte, kamen beide überein, das Sondertreffen der EU-Innen- und Justizminister gemeinsam vorzubereiten.

Nach der Einstellung des Bahnverkehrs von Österreich nach Deutschland haben Hunderte Flüchtlinge am Abend in Salzburg die Züge verlassen müssen. Sie wurden in eine geräumte Tiefgarage am Hauptbahnhof gebracht. Die Bahnsteige waren fast menschenleer. Auf Anzeigetafeln war zu lesen: „Der Zugverkehr wird auf Anweisung der deutschen Behörden bis auf weiteres eingestellt. Grund dafür ist die aktuelle Flüchtlingssituation in Deutschland.“ Der österreichische Regierungschef Werner Faymann wird am Dienstag Bundeskanzlerin Angela Merkel in Berlin treffen, um das weitere Vorgehen in der Flüchtlingskrise zu besprechen. Das sagte der Sozialdemokrat Faymann in Wien und appellierte, dass die Grenzkontrollen Deutschlands „nicht auf dem Rücken von Asylwerbern ausgetragen und humanitär ausgeführt werden“.

Barbara Stamm soll neue Konzepte zur Integration erarbeiten

Was die Integration der schon in Bayern angekommenen Flüchtlinge angeht, habe der CSU-Vorstand beschlossen, Landtagspräsidentin Barbara Stamm mit der Entwicklung neuer Ideen und Konzepte zu beauftragen, sagte Horst Seehofer nach der CSU-Vorstandssitzung. „Sie soll sich um eine bessere und schnellere Integration der Flüchtlinge Gedanken machen“.

Treffen von Ministerpräsidenten und Kanzlerin am Dienstag

Schon am Dienstag wollen sich Seehofers Worten zufolge die Ministerpräsidenten der Länder mit Bundeskanzlerin Angela Merkel treffen, um über neue Regeln zur Flüchtlingsverteilung innerhalb der Republik zu beraten. Dabei sollen die Verhandlungen soweit voran schreiten, dass beim nächsten Treffen am 24. September konkrete Beschlüsse gefasst werden könnten, teilte Bayerns Regierungschef mit.

(Quelle: dpa)

 

avd/dos