„Kindermörder Israel“ und „Hamas, Hamas, Juden ins Gas“ brüllte im Sommer 2014 ein aufgepeitschter Mob, meist aus jungen Moslems. Hier ein Bild aus München, wo sich ebenfalls hunderte moslemische Antisemiten zusammenrotteten. Die „Gaza-Proteste“ fanden in ganz Europa statt. (Foto: Youtube-Screenshot wog)
Charlotte Knobloch

Neue Welle des Antisemitismus in Europa

Kommentar Der Antisemitismus war nie weg und ist auch in Deutschland fest verwurzelt. Besonders bedrohlich: Der sich immer stärker ausbreitende und radikaler werdende Judenhass unter in Deutschland lebenden Muslimen. Hier zeigt sich, dass die jahrelang praktizierte, von einem romantischen Multikulti-Ideal geprägte Integrationspolitik – die ihren Namen nicht verdient – völlig versagt hat.

Gibt es eine neue Welle des Antisemitismus in Deutschland und Europa und überrascht mich das? Fragen, die mich dieser Tage immer wieder erreichen. Meine Antwort: Neu ist der Antisemitismus, den wir erleben, mitnichten und überraschend nur für jene, die den Polizeischutz vor jüdischen Einrichtungen für Staffage halten.

Antisemitismus ist keine deutsche Erfindung. Judenfeindlichkeit existiert überall – auch dort, wo es gar keine Juden gibt. Der Antisemitismus war nie weg und ist auch in Deutschland fest verwurzelt – nicht nur an den Rändern der Gesellschaft, sondern auch und gerade in ihrer breiten Mitte. Besonders bedrohlich: Der sich immer stärker ausbreitende und radikaler werdende Judenhass unter in Deutschland lebenden Muslimen.

Hier zeigt sich, dass die jahrelang praktizierte, von einem romantischen Multikulti-Ideal  geprägte Integrationspolitik – die ihren Namen nicht verdient – völlig versagt hat. Mehr als das: Sie hat großes Unheil angerichtet. In nennenswerten Teilen der muslimischen Community hat keine Integration in unsere Werte stattgefunden – die da insbesondere wären: der unbedingte Respekt vor der Würde und den Freiheitsrechten des „Anderen“ sowie die gegenseitige Akzeptanz als Fundament des zwischenmenschlichen Miteinanders.

Nicht nur in Bayern bekennen wir uns zu der liberalen Formel „leben und leben lassen“. Sie fand ebenso Einzug in das Wertetableau der Bundesrepublik, wie die Erkenntnis, dass eine kluge Erinnerungskultur unerlässlich ist – als Basis des heutigen  verantwortungsbewussten gesellschaftlichen Miteinanders und als Mahnung vor neuen menschenverachtenden Verfehlungen.

Die Lehren aus den Grauen zweier Weltkriege und aus dem Holocaust als singuläres, präzedenzloses Menschheitsverbrechen prägen als Staatsräson unsere Gesellschaftsordnung. Die gegenwartsorientierte Erinnerung soll uns sensibilisieren und als Warnung gereichen, unser heutiges Denken und Handeln in die richtigen Bahnen lenken. Auch wer nach 1945 das heutige Deutschland als Heimat wählt, ist verpflichtet, sich die besondere Geschichte unseres Landes bewusst und die daraus entspringenden Lehren und Konsequenzen zu eigen zu machen!

Aus falsch verstandener Toleranz, aus Nachlässigkeit und Leichtfertigkeit im Umgang mit dem eigenen Wertefundament wurde viel zu lange – und wird zum Teil noch immer – eine Integrationspolitik praktiziert, die in Wahrheit eine Abkehr von eigenen Grundwerten war, eine willkürliche Preisgabe konstitutioneller Prinzipien. Heute rächt sich dieser freiwillige Offenbarungseid hinsichtlich der eigenen aufgeklärt-religiösen, philosophisch untermauerten, zivilisatorischen Errungenschaften. Zu vieles wurde über Jahrzehnte als Folklore hingenommen. Dabei offenbarten sich längst – parallel zu Gesellschaft, Gedankenwelt und Regelkanon – kaum überbrückbare kulturelle Gräben. Auf diese Weise konnte auch Antisemitismus, speziell in Form des Antizionismus, unter den Muslimen in Deutschland weiter wuchern.

Umso mehr, da man sich scheut(e), eine Minderheit, die sich selbst als Opfer von Anfeindung und Ausgrenzung sieht, ihrerseits mit ihren eigenen menschenverachtenden Tendenzen zu konfrontieren. Heute stehen wir vor dem Problem, dass Judenhass bei Muslimen auch hierzulande weit verbreitet und tief verankert ist. Das äußert sich anlassbezogen wie im vergangenen Sommer während der Zuspitzung im Gaza-Konfl ikt, als etliche Tausende auf den Straßen Europas gegen Israel demonstrierten. Auch auf deutschen Straßen verbreitete der Mob widerlichste Parolen, die sich pauschal gegen Juden richteten, darunter vielfach Volksverhetzungen bis hin zum Aufruf zu Gewalt und Mord.

Besonders erschreckend: Der Widerspruch aus der Bevölkerung blieb bis auf wenige Ausnahmen aus. Die Politik reagierte entsetzt, aber letztlich hatten die israelfeindlichen Krakeeler freie Bahn. Wohin dieser Hass im äußersten Fall führen kann, zeigen die Terroranschläge in Brüssel, Paris und Kopenhagen. Sie belegen auf das Grausamste die allgegenwärtige, unberechenbare, existenzielle Gefahr, die der internationale islamistische Terrorismus darstellt – und zwar nicht nur für die Juden, sondern für die gesamte freie Welt, für unserer Werte der Freiheit und der Demokratie.

Die christen- und judenfeindlichen Exzesse, von denen Lehrer aus Schulen in der ganzen Republik berichten, sind Ausdruck einer hasserfüllten, menschenverachtenden Ideologie, die schon den Kleinsten in dubiosen Moscheegemeinden infiltriert wird. Politik, Bildungssystem und Zivilgesellschaft sind gefordert, Strategien zu entwickeln, damit diese jungen Menschen nicht ein für alle Mal aus unserem kollektiven Wertekonsens wegbrechen. So wie hunderte Gefährder, die sich in Terrorcamps zu dschihadistischen Mördern ausbilden lassen, um grausamste Verbrechen im „Heiligen Krieg“ zu verüben – sei es in Syrien, Libyen, Irak, Paris, Kopenhagen, London, Madrid, oder – Gott bewahre – in Berlin oder München.

Fakt ist aber auch: Die islamistische Gefahr, die gar nicht ernst genug genommen werden kann, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir in Deutschland ein schwerwiegendes Problem mit einem fest sitzendem Antisemitismus haben, der nicht importiert ist, sondern originär in unserem Land vorhanden ist. Das betrifft zum einen die Judenfeindlichkeit von Neonazis und rechtsextremen Gesinnungsgenossen, zum anderen den Antizionismus der radikalen Linken, aber eben auch den Antisemitismus in der bürgerlichen Mitte. Hier sind Ressentiments und Klischees – die Gerüchte über die Juden – wieder salonfähig, beinahe Mainstream.

Immer wieder spüren wir eine regelrechte Genugtuung, sich an der israelischen Politik abzuarbeiten. Dabei fließen vielfältige antijüdische Vorurteile in die Argumentation ein – generell findet eine Unterscheidung zwischen Israel und den Juden kaum statt. Ich empfinde die empathiebefreite, erbarmungslose, einseitige und mit zweierlei Maß messende Sicht auf Israel, die sich immer öfter offenbart, unerträglich. Es drängt sich der Eindruck auf, dass es vielen Kritikern nicht um Israel geht, sondern um Kritik an Juden. Unter diesem Deckmantel lässt sie sich bequem, sozialadäquat und offen äußern – sogar noch mit dem Anschein von moralischer Überlegenheit und gutmenschlicher innerer Haltung. Zustimmung ist einem sicher – und zwar von rechts und links.

Vielfach spüren wir eine noch immer unsichtbar existierende Distanz und Unsicherheit im Umgang mit jüdischen Menschen und Themen. Ich hatte gehofft, dass wir 70 Jahre nach dem Holocaust ein Stück weiter wären. „Normalität“ mag angesichts dieses unvorstellbaren Verbrechens noch zu viel verlangt sein. Aber ein bisschen mehr „Wir“ als Lebens- und Volksempfinden wäre doch schön. Es ist unsere (!) Geschichte, die uns nicht trennen darf – nicht mehr heute, da sich neue, unbelastete Generationen begegnen. Die Schlüsselbegriffe lauten: „gemeinsam“ und „Verantwortung“. Gemeinsam müssen wir in diesem Land Verantwortung dafür übernehmen, wie wir einander begegnen, wie wir auf Bedrohungen reagieren, die den Einzelnen – und damit immer auch die Gesamtheit – gefährden.

Antisemitismus ist nicht das Problem der Juden. Es ist das Problem der Gesellschaft, in der er existiert. Wegsehen ist keine Option, Verschweigen und Verdrängen sind keine probaten Mittel, Auswanderung nach Israel ist keine Lösung. Vielmehr müssen wir die Probleme und Missstände in unserer Gesellschaft benennen und bekämpfen. Jeder Deutsche – ob jüdisch oder nicht – muss ein Interesse daran haben, in einem Land ohne Hass zu leben, in einem Land, das für jeden liebens- und lebenswert ist, der bereit und willens ist, in gegenseitigem Respekt und in Verantwortung für den anderen und für unser Land zu leben.

Die Autorin ist Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern. Von 2006 bis 2010 war sie Präsidentin des Zentralrats der Juden in Deutschland.