Ludwig Spaenle ist Beauftragter der Bayerischen Staatsregierung für jüdisches Leben und gegen Antisemitismus. (Foto: BK/Wolf Heider-Sawall)
Extremismus

„Die Fratze des Antisemitismus zeigt sich wieder offen“

Interview Nach dem rechtsextremistischen Anschlag in Halle wird – erneut – über den erstarkenden Judenhass in Deutschland debattiert. Der BAYERNKURIER sprach darüber mit dem bayerischen Antisemitismusbeauftragten Dr. Ludwig Spaenle.

Bayernkurier: Der Anschlag von Halle erschüttert das Land. „Nie wieder!“, heißt es von allen Seiten. Aber ist das nicht heuchlerisch? Seit vielen Jahren schon leben Juden in diesem Land nicht mehr sicher, können nur hinter gesicherten Mauern beten, werden in der Öffentlichkeit oder auch in der Schule angefeindet und angegriffen. Und der Judenhass von Rechtsextremen, Linksextremen und Islamisten nimmt seit Jahren immer weiter zu.

Der Anschlag von Halle am höchsten Festtag der Jüdinnen und Juden, Jom Kippur, auf die in der Synagoge betenden Menschen hat die deutsche Gesellschaft fundamental erschüttert. Sie haben recht, die Fratze des Antisemitismus zeigt sich wieder offen. Die Zahl der Straftaten hat in den jüngsten Jahren zugenommen und wir dürfen hier nicht zuschauen. Wir müssen die Anstrengungen für Sicherheit, Strafverfolgung und Prävention weiter erhöhen.

Wie gefährlich ist der Judenhass geworden?

Wie sich an dem Angriff auf die jüdische Synagoge in Halle zeigt, gibt es geistige Brandstifter. Wer den Holocaust und das totalitäre System der Nazis verharmlost oder beschönigt sowie Tabugrenzen verschiebt, der sendet Signale für kranke Gehirne von Rechtsextremen. Ich stimme Ihnen zu, dass der Judenhass bei Rechtsextremen und Islamisten zunimmt, dass eine undifferenzierte Israelkritik mit antisemitischen Zügen von Links wächst und judenfeindliche Verschwörungstheorien immer weiter kursieren. Hier muss der Rechtsstaat einschreiten. Hier muss auch die Zivilgesellschaft klar machen, dass wir das nicht zu dulden bereit sind.

Der Täter von Halle war ein Rechtsextremist. Laut Umfragen unter den Deutschen jüdischen Glaubens werden aber die meisten verbalen und körperlichen Angriffe durch Moslems verübt – wie etwa der versuchte Messerangriff auf eine Berliner Synagoge am 4. Oktober. Der Täter kam am nächsten Tag frei. Schauen wir bei solchen Tätern gerne weg?

Diese Befunde sind erschreckend und müssen uns aufrütteln. Verbale, psychische und physische Gewalt gegen Jüdinnen und Juden sowie gegen ihre Einrichtungen, gleich von welcher Seite, müssen mit allen Mitteln des Rechtsstaats verhindert sowie die Täter bestraft werden. Wir müssen als Staat und Gesellschaft hinschauen und agieren.

Charlotte Knobloch,Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern, hat jetzt gesagt, dass sie schon lange widerwärtige Hassmails und -briefe bekommt. Früher habe sie die immer zur Anzeige gebracht, aber fast immer mit dem Vermerk „Ermittlungen eingestellt“ zurückbekommen. Nun verzichtet sie auf Anzeigen. Braucht es hier neue Gesetze, härtere Strafen oder mehr und bessere Ermittler?

Im Nirwana des Internet lässt sich geistiger Unrat weltweit verbreiten. Das Internet eröffnet Menschen, die andere beleidigen und bedrohen wollen, leicht Wege, dies ohne Folgen für sich selbst zu tun. Und in Echokammern kann man seine Ideen auch ungefiltert leichter mit Gleichgesinnten teilen und verstärken. Ausgehend von den im Freistaat neu geschaffenen Einrichtungen von Justiz und Polizei gegen Cyber- und Internetkriminalität, die dem Rechtsstaat zusätzliche Möglichkeiten eröffnen, Zähne zu zeigen, müssen wir weitere Anstrengungen gegen Hassmails und Hatespeeches unternehmen. Mein Vorschlag: Im Rahmen der deutschen EU-Ratspräsidentschaft sollte das Thema Hatespeech und Menschenrechtsverletzungen nachhaltig angegangen werden – auch im Dialog mit weltweiten Netzanbietern. Denn das ist nötig. Ergänzend sollte im § 46 Absatz 2 Strafgesetzbuch (Anm. d. Red.: siehe Kasten) der Begriff „antisemitisch“ als Bewertungsgrundlage für die Strafzumessung neu eingefügt werden.

In der UNO hat Deutschland wiederholt Resolutionen gegen Israel nicht abgelehnt, der deutsche Außenminister und der Bundespräsident hofieren den Iran, linke Politiker unterstützen Bewegungen wie Boycott Israel, in Berlin finden antijüdische Veranstaltungen und Demonstrationen statt. Was muss sich hier ändern?

Die Bundesrepublik Deutschland ist gut beraten, vor dem Hintergrund ihrer historischen Verantwortung ihre außenpolitische Linie im Umgang mit Israel klar zu definieren und entsprechend konsequent zu handeln.

Das Interview führte Andreas von Delhaes-Guenther

§ 46 StGB Grundsätze der Strafzumessung

(1) Die Schuld des Täters ist Grundlage für die Zumessung der Strafe. Die Wirkungen, die von der Strafe für das künftige Leben des Täters in der Gesellschaft zu erwarten sind, sind zu berücksichtigen.

(2) Bei der Zumessung wägt das Gericht die Umstände, die für und gegen den Täter sprechen, gegeneinander ab. Dabei kommen namentlich in Betracht:

  • die Beweggründe und die Ziele des Täters, besonders auch rassistische, fremdenfeindliche oder sonstige menschenverachtende,
  • die Gesinnung, die aus der Tat spricht, und der bei der Tat aufgewendete Wille,
  • das Maß der Pflichtwidrigkeit,
  • die Art der Ausführung und die verschuldeten Auswirkungen der Tat,
  • das Vorleben des Täters, seine persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse sowie
  • sein Verhalten nach der Tat, besonders sein Bemühen, den Schaden wiedergutzumachen, sowie das Bemühen des Täters, einen Ausgleich mit dem Verletzten zu erreichen.