"Herr Mielke, wo ist meine Akte?": Graffiti an der Zentrale der Staatssicherheit der DDR in Berlin 1990. (Bild: imago images/Rolf Zöllner)
DDR

„Geschichte lässt sich nicht abwickeln“

Ausgerechnet im 30. Jahr des Mauerfalls will der Bundestag die Stasi-Unterlagenbehörde auflösen. Alle Akten der DDR-Diktatur sollen bis 2021 ins Bundesarchiv überführt werden. Dafür hagelt es Kritik - unter anderem von ehemaligen DDR-Bürgerrechtlern.

Am Donnerstag soll der Bundestag beschließen, die frühere Gauck-Behörde abzuschaffen. Das gesamte Erbe der verbrecherischen Staatssicherheit der DDR, 111 Kilometer Akten, 1,8 Millionen Fotos, 2870 Filme und Videos und über 23.000 Tondokumente, sollen ins Bundesarchiv in eine eigene Abteilung überführt werden.

Ein umstrittener Gesetzentwurf

Der derzeitige Stasi-Beauftragte Roland Jahn hat gemeinsam mit dem Leiter des Bundesarchivs, Michael Hollmann, ein Konzept zur „Zukunft der Stasi-Unterlagen“ vorgelegt. Danach soll die Verantwortung für das Stasi-Erbe in den nächsten zwei Jahren dem Bundesarchiv übertragen werden. Von den bisher zwölf Außenstellen entsprechend den MfS-Bezirksverwaltungen sollen fünf übrig bleiben, pro ostdeutsches Bundesland jeweils nur noch ein Archiv-Standort.

Im Konzept steht, dass der freie Zugang zu den Akten unverändert bestehen bleiben und verbessert werden soll. Auch die Verwendung der Akten für Forschung, Bildung, Medien, Rehabilitierungen, Wiedergutmachung oder die Überprüfung für den öffentlichen Dienst bleibe „gesichert“ und die Aufarbeitung der SED-Diktatur „Kernanliegen“. Demnächst solle zudem entschieden werden, ob als Ersatz für die Behörde ein Bundesbeauftragter für die Opfer der SED-Diktatur geschaffen wird – und eine Initiative zur Aufarbeitung von Zwangsadoptionen sowie ein Mahnmal für die Opfer des Kommunismus in Deutschland.

Ein Mittel gegen Legenden und Verklärung.

Joachim Gauck, über die Stasi-Unterlagenbehörde

Kurz nach dem Mauerfall waren Tausende Stasi-Akten von Mitarbeitern des Überwachungsapparates in viele Millionen Schnipsel geschreddert worden. Knapp 16.000 Säcke konnten jedoch nicht mehr verbrannt werden, wurden gesichert und die Schnipsel wieder mühsam zusammengesetzt. Dieser Vorgang ist wichtig, denn vermutlich sind noch einige Stasi-Spitzel unentdeckt und arbeiten heute in hochrangigen Positionen. Auch für das System der DDR-Diktatur und die Arbeitsweise der Stasi sind noch wichtige Informationen zu erwarten. Das Bundesarchiv soll diese Rekonstruktion der Stasi-Akten forsetzen.

Gründe für die Auflösung

Die Gründe für die Auflösung werden nicht explizit genannt, aber wenn man den Gesamtentwurf liest, sind es wohl vor allem zwei Aspekte: die Kosten und der Zustand der gelagerten Stasi-Dokumente. Probleme bereitet anscheinend insbesondere das säurehaltige DDR-Papier der Stasi-Akten mit einer begrenzten Lebensdauer. Die Digitalisierung der Akten kommt zudem nur schleppend voran.

Weiter heißt es in den Erläuterungen zu dem Gesetzentwurf, niemand müsse das Gefühl haben, die Akten würden geschlossen. Befürchtungen, die Übernahme der Verantwortung für die Stasi-Akten durch das Bundesarchiv könne negative Auswirkungen haben, seien „unbegründet“.

Doch genau daran gibt es berechtigte Zweifel. So haben mittlerweile über 100 ehemalige DDR-Bürgerrechtler, bei der Stasi-Auflösung und in der Aufarbeitung der DDR-Geschichte Engagierte einen Aufruf unterschrieben, diese Gesetz nicht umzusetzen. Darunter sind viele Prominente wie Marianne Birthler, Freya Klier, Werner Schulz, Rolf Schwanitz, mehrere ehemalige Abgeordnete und auch Landesbeauftragte für die Stasi-Aufarbeitung.

Die Kritik im Einzelnen

Unabhängigkeit: Zuständig für das Erbe der DDR-Geheimpolizei wäre nach diesem Beschluss kein dem Parlament verantwortlicher und unabhängiger Bundesbeauftragter mehr, sondern ein dem Staatsministerium für Kultur und Medien gegenüber verantwortlicher und weisungsgebundener Beamter, kritisiert etwa Hubertus Knabe, der ehemalige Leiter der Stasi-Gedenkstätte Hohenschönhausen. „Würden die BStU-Akten künftig – wie geplant – im Bundesarchiv archiviert, muss befürchtet werden, dass Überprüfungsauskünfte sowie die Akteneinsicht insgesamt politischen Interessen zu folgen haben“, schreiben auch die 100 Unterzeichner des Aufrufs. Weiterer Kritikpunkt: Kein Bundesbeauftragter wird dann mehr den gesetzlichen Auftrag haben, die Öffentlichkeit über das Wirken der Stasi zu informieren. Es bleibt auch fraglich, ob tatsächlich ein Bundesbeauftragter für die Opfer der SED-Diktatur geschaffen wird. Die 100 Unterzeichner bezeichnen das Amt eines Opfer-Beauftragten zudem als „Kuhhandel für die Abwicklung der BStU-Behörde“.

Falsche Aufgabe: Bislang wurde die Existenz der BStU-Behörde an die Geltungsdauer der Überprüfungen von Personen im öffentlichen Dienst geknüpft, die inzwischen verlängert wurde. Die 100 Unterzeichner des Aufrufs kritisieren deshalb zurecht: „Politischer Hintergrund dafür war, dass diese Überprüfungen nicht Aufgabe eines Archives, sondern die einer Behörde zu sein hätten. Es ist offensichtlich widersinnig, dass man einerseits die Möglichkeit für Stasi-Überprüfungen verlängert, zugleich jedoch die BStU abwickeln will.“

Weniger Aufklärung: Die Zahl der Außenstellen in den ostdeutschen Ländern wird mehr als halbiert werden, was laut Knabe auch erhebliche Folgen für die dortigen Bildungsprogramme haben dürfte – auch wenn diese Außenstellen offenbar als Stätten der politischen Bildung und für andere Dienstleistungen wie Antragstellung und Akteneinsicht erhalten bleiben sollen. Die Informationsangebote als Brückenschlag zu jüngeren Generationen, die keine eigenen Erfahrungen mit der SED-Diktatur und der Zeit der deutschen Teilung haben, dürften künftig dennoch weniger Besuche erhalten. Zudem werde, so Knabe, der unkomplizierte und wohnortnahe Einblick in das Unterdrückungsmaterial des einst fast allmächtigen Ministeriums für Staatssicherheit teilweise beendet.

Schon jetzt haben Geschichtsvergessenheit und die Wiederbelebung antikapitalistischer und sozialistischer Ideen ein beunruhigendes Ausmaß erreicht.

Hubertus Knabe

Lähmung: Die geplante Verschmelzung werde beide Archive „über Jahre hinweg mit sich selbst beschäftigen“ – und entsprechend lähmen, kritisiert Knabe in einem Beitrag für die Welt. Dies auch deshalb, weil beide Archive auf unterschiedlicher Rechtsgrundlage arbeiteten, so dass die Archivare in Zukunft nach zweierlei Recht agieren müssten. So eine Lähmung zeige sich ganz aktuell im Bundesarchiv, das derzeit die Wehrmachtsauskunftsstelle (250 Mitarbeiter) integriere. „Auf deren Website kann man nachlesen, dass sich als Folge gerade in der Übergangszeit längere Wartezeiten leider nicht vermeiden lassen“, schreibt Knabe. Die Stasi-Unterlagen-Behörde mit mehr als 1300 Mitarbeitern sei deutlich größer.

Die Kosten: Völlig ungeklärt sind die Kosten der Übertragung. Dies auch deshalb, weil erst noch die neuen Liegenschaften erworben und vorbereitet werden müssen. Knabe kritisiert, dass die jährlich 100 Millionen Euro für die Stasi-Unterlagenbehörde auch nach der Überführung im Wesentlichen gleich bleiben oder wegen der notwendigen Investitionen sogar steigen würden. Denn alle Mitarbeiter sollen übernommen werden. Vor und Nachteile des Umzugs seien „unklar“, monieren auch die Appell-Unterzeichner.

Widersprüchlichkeit: Die Behörde dient vielen anderen Staaten mit gescheiterten Diktaturen weltweit als Vorbild zu deren Aufarbeitung, wie auch der Gesetzentwurf einräumt. Trotz des „national und international hohes Ansehens“ soll die Behörde aber nun abgeschafft werden.

Falsches Signal: Hauptkritikpunkt ist aber, dass man mit der Schließung der BStU-Behörde ein völlig falsches Signal aussendet. Gerade in einer Zeit der DDR-Verklärung, in der zudem der Sozialismus wieder von SPD und Grünen durch Koalitionen mit der SED-Erben-Partei Die Linke hoffähig gemacht wird, werde nun vermittelt, dass die Aufarbeitung der DDR-Verbrechen abgeschlossen sei. Schon jetzt haben Geschichtsvergessenheit und die Wiederbelebung antikapitalistischer und sozialistischer Ideen ein beunruhigendes Ausmaß erreicht“, so Hubertus Knabe.

Diese Verklärung zeigt sich auch im Anhang zu dem Gesetzentwurf, in der Anmerkung der Fraktion Die Linke. Sie „wolle die Herstellung von Normalität im dem Sinn, die DDR und die Stasi als Kapitel der gesamtdeutschen Geschichte zu betrachten“. Und weiter: „Die DDR sollte nicht immer auf die Stasi und die Täter-Opfer-Perspektive reduziert werden, der Blick müsse geweitet werden.“

Für den ersten Stasi-Bundesbeauftragten und späteren Bundespräsidenten Joachim Gauck war die Offenlegung der Stasi-Giftschränke schon vor Jahren „ein Mittel gegen Legenden und Verklärung“, gegen „Verdrängen, Verschweigen und Leugnen“, das unbedingt erhalten werden müsse. Auch die Opfer der sozialistischen Verbrechen dürften sich nun vor den Kopf gestoßen fühlen. Eines ist jedenfalls klar: Niemand käme auf die Idee, die Aufklärung über die andere deutsche Diktatur, das Nazi-Regime, auf ähnliche Weise als abgeschlossen zu signalisieren.

Immenses Interesse an den Akten

Mehr als drei Millionen Deutsche aus Ost und West machten laut Knabe bisher Gebrauch von der Einsicht in ihre Stasi-Akte, den Zeugnissen von fast 40 Jahren politischer Verfolgung, Bespitzelung, Repression und staatlicher Willkür in der DDR. „Immer noch gibt es monatlich ca. 4.000 Anträge auf persönliche Akteneinsicht“, räumt der Gesetzentwurf ein.

Geschichte lässt sich nicht abwickeln.

Appell der mehr als 100 Kritiker

Noch vor drei Jahren, als die SPD ultimativ die Überführung der Stasi-Akten ins Bundesarchiv forderte, schaltete sich Unionsfraktionschef Volker Kauder persönlich ein und verhinderte das geplante Ende der Behörde. Nur drei Jahre später soll alles anders sein? Dabei gäbe es eine vernünftige Alternative, wie die Unterzeichner des Appells schreiben: „Anstatt sie zu zerschlagen, rufen wir zur Ertüchtigung der Stasi-Unterlagen-Behörde und ihrer Außenstellen auf. Geschichte lässt sich nicht abwickeln.“

Die Sicherstellung der Stasi-Akten

Bereits Anfang Dezember 1989 besetzten zahlreiche Bürgerrechtler unter Gefahr für Leib und Leben mehrere Stasi-Bezirksverwaltungen und -Kreisdienststellen etwa in Erfurt, Leipzig, Suhl, Rostock und Schwerin und sicherten die dort gelagerten Akten vor der Vernichtung. An die riesige Hauptzentrale der Stasi in der Ostberliner Normannenstraße trauten sich die Demonstranten erst am 15. Januar 1990. Dies wurde die entscheidende Voraussetzung dafür, dass später viele ehemalige Stasispitzel und -Mitarbeiter enttarnt sowie die von ihnen begangenen Verbrechen aufgedeckt wurden – trotz vieler bereits geschredderter Akten.

Ein Hungerstreik, Mahnwachen und eine erneute Besetzung im September 1990 verhinderten, dass die Stasi-Akten bereits damals im Koblenzer Bundesarchiv verschwanden. Interessant ist: Schon die Stasi selbst hatte Ende 1989 einen Plan zur Sicherung und Sperrung ihrer Akten entwickelt: „Das gesamte Archivgut (…) wird einschließlich der Gebäude und Anlage dem zentralen Staatsarchiv übergeben.“