Manfred Weber als Kommissionspräsident: Die Europawahlen finden in der Zeit vom 23. bis 26. Mai statt. (Bild: imago images/Revierfoto)
Europawahl

Es geht um Europa − und um einiges mehr

Wird Manfred Weber nächster EU-Kommissionspräsident? Hält die GroKo in Berlin? Bleibt Andrea Nahles SPD-Chefin? Wird Boris Johnson britischer Premierminister? Das alles steht bei der Europawahl, die heute in Großbritannien beginnt, auf dem Spiel.

Wie stark werden die EU-Gegner? Gerät die Bundesregierung ins Wanken? Kommt es zum Regierungswechsel in London? Noch nie waren Europawahlen so entscheidend. An diesem Donnerstag beginnt der europaweite Wahlgang in Großbritannien und den Niederlanden. Deutschland und die meisten EU-Staaten wählen zum Abschluss am Sonntag.

Der Wahlausgang entscheidet nicht nur über die Sitzverteilung im EU-Parlament und die Chancen des Deutschen Manfred Weber auf den Posten des EU-Kommissionschefs. Für Deutschland wichtig: Es geht auch darum, wie die große Koalition in Berlin weiter zusammenarbeitet.

418 Millionen Wahlberechtigte

Insgesamt können rund 418 Millionen Menschen in 28 Mitgliedsstaaten 751 neue EU-Abgeordnete bestimmen. Nicht nur Politiker und Filmschaffende, auch Wirtschaftsverbände der größten EU-Industrienationen Deutschland, Frankreich und Italien riefen gemeinsam auf, wählen zu gehen.

Gerechnet wird mit hohen Stimmanteilen für populistische EU-kritische Parteien. Das könnte die Gesetzgebung und die Besetzung von Spitzenposten in Brüssel  kompliziert machen. Die großen Parteienfamilien der Christdemokraten und Sozialdemokraten müssen im Vergleich zur Wahl 2014 deutliche Verluste befürchten.

EVP stärkste Fraktion

Nach einer Projektion des Portals Politico kann die christdemokratische Europäische Volkspartei mit ihrem Spitzenkandidaten Weber (CSU) auf 171 Mandate hoffen, die Sozialdemokraten mit dem niederländischen Frontmann Frans Timmermans auf 144. Die Liberalen kämen zusammen mit der Partei LREM des französischen Präsidenten Emmanuel Macron auf 107 Mandate.

Die neue nationalistische Allianz des Italieners Matteo Salvini würde mit 74 Sitzen Platz vier erreichen; die ebenfalls EU-kritische Fraktion EKR hätte weitere 57 Sitze. Danach folgen die Grünen mit 56 und die Linke mit 51 Mandaten.

Absehbar ist, dass Christ- und Sozialdemokraten im neuen EU-Parlament zusammen keine Mehrheit mehr haben werden. Sie müssten dann mit Liberalen, Grünen oder Linken zusammenarbeiten.

Keine Fünf-Prozenthürde

In Deutschland, dem bevölkerungsreichsten EU-Staat, sind am Sonntag allein 64,8 Millionen Menschen wahlberechtigt. Sie dürfen 96 der 751 Europaabgeordneten bestimmen. Um die Mandate bewerben sich 41 deutsche Parteien und Vereinigungen.

Eine Fünf-Prozent-Hürde gibt es nicht: Ein niedriges einstelliges Ergebnis dürfte schon reichen, um ins EU-Parlament einzuziehen.

Unruhe in der SPD

Vor allem die SPD blickt dem Wahlsonntag nervös entgegen, zumal im Stadtstaat Bremen zeitgleich das Landesparlament gewählt wird. In Umfragen liegt sie dort hinter der CDU: Erstmals seit 1945 droht den Sozialdemokraten in ihrer einstigen Hochburg der Machtverlust – eine große Koalition mit der CDU haben sie ausgeschlossen. Bei den ebenfalls zeitgleichen Kommunalwahlen in zehn Bundesländern könnte der SPD weiteres Ungemach drohen.

Entsprechend hektisch hat die Partei zuletzt agiert. Vier Tage vor dem Wahlsonntag präsentierte SPD-Arbeitsminister Hubertus Heil am Mittwoch noch ein Konzept für eine Grundrente zugunsten lange beitragszahlender Geringverdiener − von „Verschenkrente” spricht der Berliner Journalist Gabor Steingart. Die Union tut Heils Finanzierungsmodell denn auch als „Luftbuchungen” ab.

Kann sich Nahles halten?

In den Europawahl-Umfragen liegt die SPD zwischen 15 und 19 Prozent. Sollte sie am unteren Ende oder hinter den Grünen mit 17 bis 19 Prozent landen und Bremen verloren gehen, könnte sich die Unruhe unter den Sozialdemokraten Bahn brechen. Vor allem Partei- und Fraktionschefin Andrea Nahles dürfte dann angelastet werden, den jahrelangen Sinkflug nicht gestoppt zu haben.

In Medien wurde zuletzt über einen möglichen Aufstand spekuliert, der Nahles vom Fraktionsvorsitz verdrängen könnte. Und je nach Wahlergebnis dürften Gegner der großen Koalition um Juso-Chef Kevin Kühnert wieder laut trommeln.

Emotionaler Aufruf von Manfred Weber

Die Union rangiert in Europa-Umfragen derzeit zwischen 28 und 32 Prozent. In einem emotionalen Schreiben an alle Haushalte rufen CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer und Spitzenkandidat Weber zur Wahl der Union auf. „Es gibt Kräfte, die Europa zerstören, spalten und schwächen wollen”, heißt es darin.

Für den Sonntag eine Woche nach der Wahl hat Kramp-Karrenbauer eine CDU-Führungsklausur einberufen. Dort soll es vor allem um die inhaltliche Neuaufstellung gehen − offen ist, ob die Neubesetzung einiger Kabinettsposten Thema wird.

Kabinettsumbildung

Eine kleine Kabinettsumbildung wird in jedem Fall nötig, weil die EU-Spitzenkandidatin der SPD, Katarina Barley, wegen ihres Wechsels nach Brüssel als Justizministerin zurücktreten will. „Am 26. Mai ist Schluss”, sagte sie dem Redaktionsnetzwerk Deutschland.

Und dann ist da noch die Frage, ob Kanzlerin Angela Merkel − allen Beteuerungen zum Trotz − schon vor 2021 das Kanzleramt räumt. Die Absicht, auf die EU-Ebene zu wechseln, bestreitet sie. Bringen aber Populisten und Nationalisten die EU ins Rutschen, könnten Merkels EU-Verbündete versucht sein, sie dennoch zu locken.

Von den übrigen Bundestagsparteien sehen die EU-Umfragen die populistische AfD bei 10 bis 12 Prozent, die Linke bei 6 bis 8 und die FDP bei 5 bis 7 Prozent.

Politisches Erdbeben in London

Eine besondere Situation zeichnet sich Großbritannien ab. Dort steht EU-Kritiker und Brexit-Antreiber Nigel Farage vor einem beispiellosen Triumph. Umfragen sagen seiner erst vor sechs Wochen gegründeten Brexit-Partei bis zu 38 Prozent voraus − mehr als Konservativen und Labour zusammen. Ein Wahl-Erdbeben bahnt sich an, so wie es das in Großbritannien noch nie gegeben hat.

Die britische Regierung ist durch das Chaos um den EU-Austritt in Auflösung begriffen. Am Abend vor der Wahl sah es so aus, als könnte Premierministerin Theresa May jeden Moment zurücktreten. Für die konservative Regierungschefin ist die bloße Teilnahme Großbritanniens an der Wahl zum EU-Parlament das Eingeständnis einer Niederlage.

Premierminister Boris Johnson?

Sollte May tatsächlich bald zurücktreten und eine Parlamentswahl in Großbritannien anstehen, dürften die Konservativen noch stärker als bisher zur Partei der Brexit-Befürworter mutieren. Das könnte die Stunde von Brexit-Hardliner und Ex-Außenminister Boris Johnson werden.

Gut möglich, dass die konservativen Unterhausabgeordneten ihm am ehesten zutrauen, Wähler von Farage und dessen Brexit-Partei zurückzugewinnen. Konservative Gegner des Brexit würden dann zurückgedrängt. Gut möglich, dass das bald dreijährige britische EU-Ausstiegsdrama dann am 31. Oktober im No-Deal-Brexit endet, im ungeregelten Austritt ohne Abkommen mit der EU. (dpa/BK/H.M.)