Eskalation im Brexit-Streit
Nach dem EU-Gipfel in Salzburg wird die Zeit für die Brexit-Verhandlungen knapp. In London steigt die Wut auf die Brüsseler Verhandlungspartner. In der Irlandfrage ist keine Lösung in Sicht. Premierministerin May warnt vor einem Brexit ohne Vertrag.
London

Eskalation im Brexit-Streit

Nach dem EU-Gipfel in Salzburg wird die Zeit für die Brexit-Verhandlungen knapp. In London steigt die Wut auf die Brüsseler Verhandlungspartner. In der Irlandfrage ist keine Lösung in Sicht. Premierministerin May warnt vor einem Brexit ohne Vertrag.

Nach der Abfuhr der Europäischen Union für ihre Brexit-Pläne steht die britische Premierministerin Theresa May massiv unter Druck. Die Die Londoner Wochenzeitung Sunday Times berichtete über angebliche Notfallpläne für Neuwahlen im November. Was May allerdings prompt dementieren ließ.

Spekuliert wird zudem über weitere Rücktritte aus ihrem Kabinett. Die EU versucht, im Streit mit May die Wogen zu glätten. Denn für eine gütliche Einigung vor dem EU-Austritt im März 2019 läuft die Zeit davon.

Eskalation

Die Brexit-Verhandlungen würden nächste Woche fortgesetzt, und man hoffe weiter auf einen Kompromiss bis Mitte Oktober, sagte unterdessen ein Sprecher von EU-Chefunterhändler Michel Barnier am Sonntag der Deutschen Presse-Agentur in Brüssel. „Wir machen ruhig und geordnet weiter. Unsere Grundsätze sind dabei außerordentlich klar.”

Als Folge des Salzburger EU-Gipfels droht jetzt jedoch Eskalation zwischen London und Brüssel. Die 27 verbleibenden EU-Länder hatten am vergangenen Donnerstag in Salzburg Mays Ideen zur wirtschaftlichen Zusammenarbeit nach dem Brexit brüsk zurückgewiesen. Am Tag nach dem Gipfel reagierte Theresa May in London mit einer unerwarteten, sehr deutlichen Fernsehansprache. Die Premierministerin forderte von Brüssel neue Brexit-Vorschläge. Die Verhandlungen seien in einer Sackgasse, warnte sie.

Gemeinsamer Markt und Zollunion

Vor allem um zwei große Fragen geht es in den Brexit-Verhandlungen: Zum einen um die zukünftigen Wirtschaftsbeziehungen zu Großbritannien. Zum anderen darum, wie verhindert werden kann, dass eine Zollgrenze zwischen dem EU-Mitglied Republik Irland und dem britischen Nordirland entsteht. Beide Fragen sind eng miteinander verbunden.

Das wäre die Verhöhnung des Referendums, das wir vor zwei Jahren hatten.

Theresa May, Premierministerin

Brüssel Vorschlag ist, dass Großbritannien entweder weiter dem gemeinsamen Markt und der europäischen Zollunion angehört. Oder dass beide Seiten einen Freihandelsvertrag abschließen. Dabei soll dann allerdings Nordirland weiterhin dem gemeinsamen Markt der EU und der Zollunion angehören. Dann würde zwar keine Zollgrenze zwischen der Republik Irland und Nordirland verlaufen – aber eine zwischen Nordirland und dem Rest des Vereinigten Königreichs.

Das Nordirland-Problem

Beides ist aus britischer Sicht unakzeptabel. Im ersten Fall müsste Großbritannien weiterhin allen EU-Regeln folgen, auf die es dann aber keinen Einfluss mehr hätte. Es wäre sozusagen weiterhin EU-Mitglied mit fast allen Pflichten, aber ohne Rechte. Handelsabkommen mit anderen Ländern wären den Briten verboten. May: „Das wäre die Verhöhnung unseres Referendums von vor zwei Jahren.”

Noch undenkbarer ist für London eine Zollgrenze zwischen Nordirland und dem übrigen Vereinigten Königreich. Denn dann würde, so May, „eine Grenze in der Irischen See Nordirland auf Dauer wirtschaftlich vom übrigen Vereinigten Königreich abtrennen”. May: „Das ist etwas, dem ich niemals zustimmen werde und dem kein britischer Premierminister jemals zustimmen würde.” Theresa May sehr deutlich: „Ich werde weder das Ergebnis des Referendums umstürzen, noch mein Land aufbrechen.” Das Referendum, so die Premierministerin, sei der umfangreichste demokratische Akt gewesen, den das Land je auf sich genommen habe. „Ihm die Legitimität zu verweigern oder sein Ergebnis zunichte zu machen, bedroht das öffentliche Vertrauen in unsere Demokratie.”

Londons Vorschlag

London plädiert stattdessen für die Bildung einer Freihandelszone ohne Zollkontrollen zwischen Großbritannien und der EU. Dann würde sich die Irland-Frage nicht mehr stellen. Auch der wichtige, weil große, britische Markt wäre den Europäern weiter zugänglich. Doch dazu wiederum sagt die EU Nein, weil Großbritannien dann faktisch weiter Zugang zum EU-Binnenmarkt hätte, ohne aber alle Spielregeln einhalten zu müssen. Das wäre dann eine Ungleichbehandlung der EU-Mitglieder. Ein Kompromiss ist nicht in Sicht.

Sie habe einen dritten Weg vorgeschlagen, meinte daraufhin May. Es sei nicht akzeptabel, dass dieser einfach abgelehnt werde, ohne dass Brüssel detaillierte Gründe oder Gegenvorschläge vorbringe. „Ich habe die EU immer mit Respekt behandelt. Großbritannien erwartet dasselbe”, so May und warnte: „Kein Abkommen ist besser als ein schlechtes Abkommen.” Darauf müsse sich Großbritannien nun vorbereiten.

Stimmungsmache in London

Rückendeckung hatte May zuvor von der heimische Presse bekommen. So druckte die Londoner Boulevardzeitung The Sun am Freitag eine Fotomontage von zwei bewaffneten Gangstern, die Frankreichs Präsidenten Emmanuel Macron und den EU-Ratschef Donald Tusk zeigen sollen. Das Blatt bezeichnete die Politiker als „dreckige Ratten der EU” und schrieb: „Euro-Gangster überfallen May aus dem Hinterhalt”.

„Nein, Nein, Nein”, schrieb die Zeitung Metro auf Deutsch auf ihrer Titelseite. Andere Blätter nannten die Vorgänge in Österreich „demütigend” für May. Der britische Außenminister Jeremy Hunt mahnte die EU-Politiker am Samstag in einem BBC-Interview, „britische Höflichkeit nicht mit Schwäche zu verwechseln”.

Wichtiger Partner

In Deutschland äußerte der CDU-Außenexperte Norbert Röttgen Verständnis für die harschen Worte aus London und sagte der Düsseldorfer Tageszeitung Rheinische Post: „Es war ein Fehler der anderen EU-Staats- und Regierungschefs, die britische Premierministerin in Salzburg bis zur Grenze der Erniedrigung zu brüskieren”.

Welches Interesse haben wir daran, einen so wichtigen und engen Verbündeten zu verbittern?

Norbert Röttgen, CDU-Außenpolitiker

Mit der Zurückweisung stürze die EU die britische Politik endgültig ins Chaos. Röttgen: „Welches Interesse haben wir daran, einen so wichtigen und engen Verbündeten zu verbittern?” Der CDU-Politiker rief die EU dazu auf, „diesen Fehler zu korrigieren”.

Zeitdruck wächst

Nicht einfacher wird die Sache dadurch, dass die EU den Zeitdruck auf May überraschend erhöhte. Statt wie von EU-Ratschef Donald Tusk vorgeschlagen, eine Verlängerung der Frist bis zu einem Sondergipfel Mitte November zuzulassen, entschied der Gipfel, beim ursprünglichen Plan für Mitte Oktober zu bleiben.

Wir brauchen Kompromisse auf beiden Seiten.

Donald Tusk, EU-Ratspräsident

Der EU-Gipfel Mitte Oktober werde der Augenblick der Wahrheit sein, so Tusk nun. Dann werde man bewerten, ob es genügend Fortschritt bei den Verhandlungen gebe. „Wir brauchen Kompromisse auf beiden Seiten.” Großbritannien will Ende März 2019 aus der Europäischen Union austreten.

Neuwahlen?

Angesichts des enormen Drucks, der auf May lastet, wird nun mit großer Spannung der bevorstehende Parteitag der Konservativen erwartet. Er beginnt am kommenden Sonntag in Birmingham. Doch schon am heutigen Montag könnte der Regierungschefin neuer Ärger drohen. Einem Bericht der Londoner Tageszeitung Daily Telegraph (Samstag) zufolge wollen einige ihrer Kabinettsmitglieder May auffordern, einen „Plan B” für die Verhandlungen zum EU-Austritt vorzulegen. Andernfalls drohten ihr weitere Rücktritte, darunter möglicherweise von Arbeitsministerin Esther McVey und Entwicklungshilfeministerin Penny Mordaunt. Aus Protest hatten bereits Brexit-Minister David Davis und Außenminister Boris Johnson Mays Kabinett verlassen, beide Brexit-Hardliner.

Die Sunday Times meldete − ohne klare Quelle −, Berater von May hätten mit der Notfallplanung für Neuwahlen im November begonnen. Auf diese Weise wolle May die Brexit-Verhandlungen und ihr eigenes Amt retten. Ein Regierungssprecher widersprach allerdings am Sonntag klar: „Das ist schlicht falsch.”

Labour-Parteitag

Auch die oppositionelle Labour-Partei ringt um ihren Kurs zum Brexit. Parteichef Jeremy Corbyn sagte in Interviews, er werde Beschlüsse seiner Partei zwar befolgen, würde selbst aber eine Neuwahl einem zweiten Referendum vorziehen. Am gestrigen Sonntag begann Labour ihren viertägigen Parteitag in Liverpool mit 1600 Delegierten. Einer Umfrage zufolge wünschen sich 86 Prozent der Parteimitglieder ein zweites Referendum zum endgültigen Brexit-Abkommen.

Hoffnungen auf eine entsprechende Parteitagsentscheidung wurden jedoch schon am ersten Tage enttäuscht: Nach nächtlicher Marathonsitzung einigten sich die Delegierten auf eine Resolution, die ein zweites Referendum lediglich „auf dem Tisch” lässt. Für den Fall, dass es nicht zu den von Corbyn gewünschten Neuwahlen komme. Die Resolution gibt Parteichef Corbyn weitgehend freie Hand. Corbyn gilt seit Jahrzehnten als EU-Skeptiker. Seine Haltung zum Brexit ist unklar. (dpa/BK/H.M.)