Soll das Integration sein? Demonstranten schwenken türkische Fahnen und küssen ein Erdogan-Bild – hier in Rotterdam. (Foto: Imago/Hollandse-Hoogte/Peter Hilz)
Integration

„Das ist ein Weckruf“

Interview Ist die Integration der Türken in Deutschland gescheitert? Zweifel weckten die 63 Prozent der deutsch-türkischen Wähler, die Erdogans Reform zustimmten. Der BAYERNKURIER befragte Vural Ünlü, Vorstandsvorsitzender der Türkischen Gemeinde Bayern.

Während Erdogans Verfassungsreform in der Türkei offiziell mit 51,4 Prozent angenommen wurde, haben die türkischen Wähler in Deutschland zu 63 Prozent zugestimmt. Damit haben die Auslandstürken offensichtlich der Reform zum Erfolg verholfen, denn in vielen Gegenden der Türkei waren die Wähler eindeutig dagegen. Können Sie das nachvollziehen: In Deutschland in Demokratie und Freiheit leben und in der Türkei eine Diktatur befürworten? 

Es ist komfortabel, per Fernbedienung vom Sonnendeck der Demokratie ein politisches Erdbeben anderswo auszulösen. Das könnte in der Tat eine zynische Erklärung dafür sein, warum viele Diaspora-Türken leichtfertiger und unreflektierter ihren Stempel auf die Ja-Seite gedrückt haben als die Heimattürken.

Die Erdogan-Begeisterung in der Türkei und hierzulande bei vielen Deutschtürken ist für Deutsche schwer verständlich: Es gibt einen großen Wähleranteil an sogenannten „schwarzen Türken“ aus Anatolien, die in der Zeit vor Erdogan nicht auf der Sonnenseite der Gesellschaft lebten und von den urban-säkularen Eliten vernachlässigt wurden. Dieser große demographische Block verehrt den türkischen Staatspräsidenten, weil er erstmals im ländlichen Raum eine grundlegende Infrastruktur mit Krankenhäusern, Strom- und Wasserversorgung sowie ein funktionierendes Rentensystem etabliert hat. Erdogan zehrt bis heute und wahrscheinlich ein Leben lang von seiner Modernisierungsleistung in den Anfangsjahren seiner Regentschaft. Viele Erdogan-Wähler sind davon völlig berauscht und berechtigter Erdogan-Kritik nicht zugänglich.

Was bedeutet das Ergebnis für die Integrationspolitik? Ist sie damit gescheitert, wie zahlreiche Beobachter jetzt meinen?

Die zwei Drittel der Ja-Wähler darf man nicht auf alle rund 400.000 in Bayern lebenden türkischstämmigen Bürger hochrechnen, denn nur die Hälfte war wahlberechtigt – die andere hatte keinen türkischen Pass. Und die Wahlbeteiligung lag mit unter 50 Prozent recht niedrig. Effektiv haben sich also etwa 15 Prozent der im Freistaat lebenden Türkischstämmigen für eine Verfassungsänderung im Sinne Erdogans ausgesprochen. Deshalb sollte man auch nicht zu vorschnell urteilen, pauschal von einer gescheiterten Integration zu sprechen.  Ja es gibt Defizite, für die sich sowohl die deutsche Politik als auch wir Türken den Spiegel vorhalten müssen. Daran muss gearbeitet werden und das Ergebnis der Verfassungsänderung in der Türkei ist hier ein Weckruf.

Nach Ansicht vieler Deutscher ist die Integration aber vor allem eine Bringschuld der Zugewanderten. Was muss sich da tun, was müssen die Türken selbst beitragen? Und wie kann man ihnen das klarmachen?

Integration funktioniert am besten in der Kombination von Fordern und Fördern, das wurde auch so im CSU-Integrationsgesetz verankert: Man muss sowohl unter die Arme greifen als auch klare Erwartungen formulieren. Und in Bayern, auch dank einer erfolgreichen Regierungsarbeit, klappt das auch besser als in anderen Bundesländern.

Von unserer Seite müssen wir mehr investieren – insbesondere in Spracherwerb und Bildung, aber auch in öffentlich-rechtlichen Medienkonsum bis hin zu bayerisch-türkischen Freundschaften. Ein besseres gegenseitiges Verständnis und Teilnahme an der liebenswerten bayerischen Kultur sollte nicht als Assimilations-Maßnahme interpretiert, sondern sollte im eigenen Interesse stehen. Hierfür gibt es ja viele gute Beispiele, wie etwa die türkischstämmige Volkfestkönigin Hacer Aslan aus dem niederbayerischen Kelheim oder das Faschingsprinzenpaar Murat und Hacer Acikgöz aus dem unterfränkischen Karlstadt. Hier hat insbesondere der ehemalige bayerische Integrationsbeauftragte Martin Neumeyer mit großem Engagement und viel Herzblut erfolgreich vorgearbeitet.

Täuscht der Eindruck, oder ist das Verhältnis zwischen Deutschen und Türken mit den Jahren eher schlechter geworden? Viele in Deutschland geborene und aufgewachsene Türken der zweiten und dritten Generation, die man äußerlich für integriert halten würde, unterstützen Erdogan. Welche Motive vermuten Sie dahinter?

In der Tat überrascht bei Teilen der jüngeren türkischen Migranten ein Neo-Konservatismus und eine Koran-Frömmigkeit, die Hand in Hand mit einer Erdogan-Verklärung geht. Bei vielen steckt dahinter eine Identitätssuche und ein Selbstfindungprozess in einer Gesellschaft, in der man sich noch nicht angekommen sieht. Wir entdecken hier auch Muster einer Jugend- und Protestbewegung.

Und was können die Deutschen tun, um den negativen Trend umzudrehen und die Parallelwelt, in der zahlreiche Türken offensichtlich leben, aufzulösen?

Vielleicht ist es in der hitzigen Debatte um Erdogan etwas zu kurz gekommen: Aber die klassischen Integrationsparameter – schulische Bildung, berufliche Ausbildung und Erwerbstätigkeit – haben sich bei den Deutschtürken in den letzten Jahren durchaus verbessert. Der konsolidierte Trend ist ein positiver, wenngleich die Steigerungsraten noch ausbaufähig sind. Wir wünschten uns insbesondere mehr Chancengerechtigkeit insbesondere im Bildungswesen. Eine höhere Durchlässigkeit im Schulwesen, auch für Kinder von sozial schwachen Herkunftsdeutschen, hilft nicht nur der Integration, sondern auch dem Zusammenwachsen der Gesamtgesellschaft.

Wie stehen Sie grundsätzlich dazu, dass Vertreter der türkischen Regierung in Deutschland Wahlkampf machen? Muss das sein, dass interne Konflikte der Türkei auf deutschem Boden ausgetragen werden?

Wir hatten uns einen ruhigen und besonnen Wahlverlauf erhofft, in der beide Lager ihre Argumente präsentieren können und sich die Wähler danach im Idealfall für das demokratische Angebot entscheiden. Leider mussten wir feststellen, dass es der türkischen Regierung nicht nur an Empathie für die Befindlichkeiten der deutschen Gesellschaft fehlte. Sondern, dass bewusst außenpolitische Konflikte provoziert wurden, um wahltechnisch zu punkten. Das hat unnötig viel Porzellan zerschlagen und kann sich mittel- bis langfristig als Pyrrhussieg für Erdogan erweisen.

Die Zustimmung für die Erdogan-Verfassungsreform war nicht nur in Deutschland hoch, sondern auch in Österreich, Belgien und Frankreich. Ist das ein Zeichen, dass sich die Türken allgemein von Europa abwenden?

Es stimmt, dass unter den Wahlberechtigten deutliche Mehrheiten in Belgien mit 75,0 Prozent, Österreich mit 73,2Prozent, Frankreich mit 64,8 Prozent und Deutschland mit 63,1 Prozent für Erdogans Verfassungsänderung votierten. In anderen Ländern haben europäische Diaspora-Türken die Verfassungsänderungen jedoch mehrheitlich abgelehnt mit folgenden mageren Zustimmungsraten: Schweiz mit 38,1 Prozent, Italien mit 37,9 Prozent, Großbritannien mit 20,3 Prozent und Spanien mit 13,3 Prozent. Tendenziell können wir erkennen, dass in den Ländern, in denen Arbeitsmigranten aus mehrheitlich bildungsfernen und ländlichen Regionen der Türkei stammen, auch das Erdogan-Lager vorne lag. Dieser Wählerblock ist zugänglich für Erdogans antieuropäische Rhetorik.

Was halten Sie vom Doppelpass? Bis 2014 bestand ja die Optionspflicht. Hat es die Integration in irgendeiner Weise gefördert, seitdem Tausende Menschen mit doppelter Staatsbürgerschaft und damit geteilter Loyalität auszustatten?

Wir waren froh, als die Doppelpass-Debatte im Jahr 2014 vom Tisch war, denn damit wurden in der Vergangenheit hässliche Wahlkämpfe geführt, die von wichtigen Sachthemen abgelenkt haben. Ein deutscher Pass hilft sicherlich bei der Identifikation mit Deutschland, und die damit einhergehende politische Teilhabe fördert das Ankommen in der Aufnahmegesellschaft. Zugegebenermaßen ist diese jedoch lediglich eine hilfreiche, aber nicht notwendige Initialzündung in einem Integrationsprozess.

Der aktuelle beschlossene Kompromiss findet eine gute Balance, denn der Doppelpass ist weiterhin ja an Bedingungen geknüpft, zum Beispiel den Nachweis eines deutschen Schulabschlusses oder einer abgeschlossenen Berufsausbildung in Deutschland.  Deshalb sollte man daran festhalten, zumal dem ja eine jahrzehntelange Debatte vorausgegangen war. Wichtig ist mir in dem Kontext, dass eine doppelte Staatsbürgerschaft nicht unbedingt zu einer geteilten Loyalität führt. Stattdessen sollten wir uns überlegen, wie eine natürliche Loyalität zur neuen Heimat heranwachsen kann, entkoppelt vom amtlichen Status.

Die CSU meint, dass grundsätzlich derjenige, der die deutsche Staatsbürgerschaft will, sich klar zu Deutschland bekennen muss, indem er die türkische ablegt. Wäre dies besser für die Integration als der Doppelpass?

Ein Ablegen des türkischen Passes führt nicht unbedingt zu einer Loyalitätssteigerung gegenüber Deutschland oder zu einem Integrationsschub. Das ist weder empirisch bewiesen noch theoretisch fundiert. Wir sollten uns gerade im Zeitalter der Globalisierung davon verabschieden, Loyalität zu stark an die Staatsbürgerschaft zu knüpfen. Viele Türken wollen Ihren türkischen Pass aus purer Sentimentalität nicht aufgeben, auch viele Auslandsdeutsche denken ähnlich emotional. Der rote Pass mit Halbmond ist inzwischen aber auch eine Art Rückversicherung: Dass man in die Türkei zurückkehren kann, wenn der rechtspopulistische Wind hier zu kalt bläst.

(Die Fragen stellte Wolfram Göll.)