Politischer Beobachter: Der Historiker und Publizist Michael Stürmer (Foto: Imago/Stefan Zeitz)
Krisen

Eine Zeit der Stürme hat begonnen

Gastbeitrag Aus dem BAYERNKURIER-Magazin: Wir erleben eine Phase gewaltiger Umbrüche und tektonischer Verschiebungen. Für Deutschland bedeutet dies, seine Rolle in der Weltpolitik neu zu definieren, analysiert der Historiker und Publizist Michael Stürmer im Vorfeld der Münchner Sicherheitskonferenz.

Man kann sich leider die Zeiten nicht aussuchen, in denen man leben möchte. Man muss sie nehmen, wie sie kommen, und Vorkehrung treffen für den längst nicht mehr undenkbaren Fall, dass die Bremsen versagen, die Kontrolle verloren geht und  Weltordnung nichts ist als ein frommer Wunsch. Krisen-Erfahrene amerikanische Diplomaten jedenfalls warnen von Zeit zu Zeit erschrockene deutsche Gesprächspartner, die atlantische Welt sei seit einem halben Jahrhundert niemals dem Krieg mit Russland, aus Versehen oder aus Absicht, so nahe gewesen wie in der Gegenwart.

Es könnte schlimmer kommen

Übertreibungen von Leuten, die ihrem Pessimismus freien Lauf lassen? Die letzten Jahre erinnern daran, dass es oft noch schlimmer kommen kann, als die Kassandras dieser Welt voraussagen. „Chaos, das ins Chaos schwankt“, so beschrieb vor langer Zeit der Historiker Golo Mann das Bewegungsgesetz der Geschichte. Gegenwärtig und schon seit einigen Jahren kommt es nicht darauf an, die Welt zu revolutionieren, sondern sie vor gewaltsamen Umbrüchen soweit wie immer möglich zu bewahren und in  den krachenden tektonischen Verschiebungen der Kontinente zu überleben. Die deutsche Rolle in alldem kann nicht  sein, sich immerfort kleiner zu machen als das europäische Schwergewicht es nun einmal ist, sondern in einer Welt der Umbrüche, Katastrophen und unbeabsichtigten Nebenwirkungen  eigene, europäische und atlantische Interessen zu verteidigen, zu bündeln und durchzusetzen. Die Zeiten, in denen Deutschland und die Deutschen Außen- und Sicherheitspolitik hauptsächlich als Zuschauer  betreiben konnten und dabei nichts als das höhere moralische Gelände beanspruchten, sind vorbei, unumkehrbar.

Die Welt als Wunschvorstellung

Jedenfalls kann sich keiner beschweren, es seien, seitdem vor einem Vierteljahrhundert der Kalte Krieg aufhörte, langweilige Umstände eingetreten. Die Nachricht vom Ende der Geschichte, die Francis Fukuyama von der RAND Corporation ausgerechnet im Sommer  des bewegten Jahres 1989 in die Welt setzte, erwies sich bald, als das Sowjetimperium in seine Einzelteile zerbarst und die deutsche Einheit die Karten des östlichen Mitteleuropa neu zeichnete, als Fehlmeldung und Narrensposse. Mehr noch, die Idee vom Ende der Geschichte, als sie vom Zeitgeist Besitz ergriff, lähmte das Denken und lenkte Geld und  alle verbleibende  Energie in Innenpolitik und  soziale Beschwichtigung. Der Ernstfall, so sah es aus, war ein Thema für ältere  Generale, die mit der Pensionierung ihre Probleme hatten. Militär, Geheimdienste und ähnliche Erinnerungsstücke abgelebter Zeiten fanden sich auf dem Flohmarkt der Politik, kaum aber noch in Regierungserklärungen, Weißbüchern oder Haushaltsvorlagen.

Krisen und Kriege haben eine unangenehme Tendenz, außer Kontrolle zu geraten und um sich zu greifen.

Michael Stürmer

Leider aber gab es die schöne neue Welt nach dem deutschen Wunschzettel nur in der Phantasie. Von Nagorno Karabach bis Kosovo, von der Ost-Ukraine bis in den arabischen Krisenbogen kamen Nachrichten verstörender Art, die seitdem nicht aufhören wollen. Welle für Welle treiben sie Völkerwanderungen vor sich her, die wiederum das innere Gefüge der europäischen Staaten bedrohen und die Europäische Union zerreißen können – wie die britische „Brexit“-Abstimmung seit dem Sommer 2016 zeigt. Europas Glück ist nicht mit Ketten am Himmel befestigt.

Putin träumt vom neuen Zarenreich

Krisen und Kriege haben eine unangenehme Tendenz, außer Kontrolle zu geraten und um sich zu greifen. Solche Ängste sind zumeist Beschleuniger des Realismus. Ob aber genug, ist zu Beginn des Jahres 2017 nicht sicher. Die komfortablen Gewohnheiten vieler guter Jahre weichen nur langsam der Einsicht, dass Ernstfall und Kontrollverlust drohen. Vladimir Putin träumt den Traum vom neuen alten  Zarenreich: „Neue Ordnung oder keine Ordnung“ lautet der Wahlspruch, den er dem Westen, namentlich den Vereinigten Staaten, zornig entgegenschleudert. Die Volksrepublik China will wieder Reich der Mitte sein, Tribute minderer Völkerschaften einsammeln und  als Vormacht des Pazfik hinter den USA nicht zurückstehen: Die Verwandlung unbewohnbarer Riffe, weit vor den chinesischen Küsten, in unsinkbare Flugzeugträger kündigt  Streitigkeiten an, die in früheren Zeiten unweigerlich in Krieg eskalierten. Ob heute auch, ist die Schicksalsfrage des pazifischen Raumes – und der Weltwirtschaft.

„America first“ bedeutet für Europa nichts Gutes

Zuletzt und vor allem die Vereinigten Staaten. Washington und New York haben bisher die Kernelemente liberaler Weltordnung aufrechterhalten – unter gewaltigen Kosten an Gut und Blut. Dass die erweiterte Abschreckung auch unter Donald Trump die atlantischen Nationen zusammenhält, ist eine Hoffnung – mehr nicht. Die USA treiben in Protektionismus, Nationalismus und einen neuen Nationalismus  – „America first!“ – so lautet der Imperativ, der den Europäern nicht viel Gutes verheißt. Von dieser Art aber ist der Wind, der Donald Trump die Segel füllt. Europa, wenn die europäische Union nicht zerfallen soll nach dem Muster des Brexit, braucht revolutionäre Erneuerung und weit vorausschauende Führung. Die Welt wird neu aufgeteilt

In der Zeitenwende zu leben, wie jetzt, war immer faszinierend, aber nie komfortabel. Genau das aber ist, was die Europäer gegenwärtig erleben und erleiden. Was in Gang ist, global und ohne Pause für matte Geister, ist ein allgemeiner Umbruch, der Ziel und Richtung noch sucht. Auf Amerikanisch: Ein “defining moment“. Will sagen, dass, was jetzt versäumt wird, auf lange Zeit passé, wahrscheinlich unwiederholbar ist. Eine Zeit der Stürme hat begonnen. Es weht kalt herein.