Landtagspräsidentin Barbara Stamm. (Foto: BK)
Sauber nachgefragt

„Viele Menschen verspüren eine Gerechtigkeitslücke“

Interview Aus dem BAYERNKURIER-Magazin: Die bayerische Landtagspräsidentin Barbara Stamm macht im Gespräch mit Chefredakteur Marc Sauber deutlich, warum die Diskussion über den Zusammenhalt unserer Gesellschaft wichtiger denn je ist.

Die ganze Welt blickt derzeit nach Amerika. Das Land ist gespalten und polarisiert wie lange nicht. Wie können wir solche Zustände bei uns vermeiden?

Die Diskussion über den Zusammenhalt der Gesellschaft ist wichtiger denn je, das macht Amerika in diesen Tagen deutlich. Wenn Demokratie funktionieren soll, gelebt und lebendig bleiben soll, was wir ja alle für wichtig und notwendig erachten, dann muss alles getan werden, vor allem von den Verantwortlichen in unserem Land, dass die Gesellschaft nicht immer weiter auseinanderdriftet, sondern dass man sich eben auch auf die gemeinsamen Werte wieder nachhaltiger verständigt. Wir arbeiten daran. Das neue CSU-Grundsatzprogramm hat die Leitkultur als Orientierung für das gesellschaftliche Miteinander ja in den Mittelpunkt gestellt, und unser erster „Deutschlandkongress“, den wir gemeinsam mit der CDU veranstaltet haben, hat sich auch intensiv mit dem gesellschaftlichen Zusammenhalt beschäftigt.

Wenn Demokratie funktionieren soll, gelebt und lebendig bleiben soll, was wir ja alle für wichtig und notwendig erachten, dann muss alles getan werden, vor allem von den Verantwortlichen in unserem Land, dass die Gesellschaft nicht immer weiter auseinanderdriftet, sondern dass man sich eben auch auf die gemeinsamen Werte wieder nachhaltiger verständigt.

Barbara Stamm, Präsidentin des Bayerischen Landtags

Wie nehmen Sie das gesellschaftliche Klima bei uns derzeit wahr?

Also ich kann feststellen, dass unsere Gesellschaft weitaus emotionaler und auch skeptischer geworden ist. Ich bin zutiefst der Überzeugung, dass wir das stellenweise auch zu spät erkannt haben. Wenn ich nur an das Thema Globalisierung denke. Wir haben ja immer gemeint, alle Menschen müssen mit großer Freude sagen: „Jawohl! Die Globalisierung ist toll, bedeutet Zukunft – alles wunderbar!“ Die Ängste sind weitaus stärker, als wir es letztlich wahrnehmen wollten. Wir stellen fest, dass wir heute auch viele Globalisierungsgegner haben. Wenn wir uns nur mal die Diskussion vergegenwärtigen, was zum Beispiel das CETA-Abkommen mit Kanada anbelangt oder das Freihandelsabkommen mit den USA: Man spürt hier doch sehr deutlich, wie skeptisch die Menschen in dieser globalisierten Welt geworden sind und wie angstvoll sie diese Veränderungen begleiten.

Die junge Generation muss erfahren, dass sich Leistung lohnt. Dabei ist es wichtig, auch wenn man es nicht gerne hören will, dass die Schere zwischen Arm und Reich auch bei uns in Deutschland immer weiter auseinandergeht.

Barbara Stamm

Die Globalisierung ist ein Faktor. Welche weiteren Faktoren treiben die Gesellschaft auseinander?

Ein Riesenthema ist mit Sicherheit, dass viele Menschen eine Gerechtigkeitslücke verspüren. Diese ist objektiv oft gar nicht vorhanden, aber es gibt ein subjektives Empfinden. Die Frage stellt sich dann immer auch: Was ist Gerechtigkeit überhaupt? Auch darüber kann man intensiv diskutieren. Wenn Sie jetzt nur einmal den Begriff Generationengerechtigkeit herausgreifen – wir erleben ja derzeit eine intensive Rentendebatte und die Frage, wie soll der Ausgleich zwischen Alt und Jung gelingen? Wie soll die Alterssicherung in der Zukunft aussehen? Wir dürfen auf der einen Seite die Altersarmut nicht noch weiter ansteigen lassen, aber auf der anderen Seite die junge Generation auch nicht überfordern – vor allem was die Beitragshöhe in der Sozialversicherung anbelangt. Die junge Generation muss erfahren, dass sich Leistung lohnt. Dabei ist es wichtig, auch wenn man es nicht gerne hören will, dass die Schere zwischen Arm und Reich auch bei uns in Deutschland immer weiter auseinandergeht. Wenn Sie sich allein die hohen Lebenshaltungskosten anschauen oder die horrenden Mietpreise in den Ballungsräumen, wenn man sich vergegenwärtig, was heute Grundstücke kosten in den Städten. Man muss es in der Diskussion immer wieder hervorheben, dass die Menschen ihr Gefühl der fehlenden Gerechtigkeit an Details festmachen und befürchten, dass sie ein Stück weit auf der Strecke bleiben. Wenn ich an die ländlichen Räume denke, wo die Menschen mitbekommen, dass ihre Sparkasse oder Raiffeisenbank im Ort zumacht, wenn ich die unsinnige Diskussion um die Abschaffung des Bargeldes mitbekomme oder die derzeitige Zinspolitik – das trägt alles zu einer Verunsicherung der Menschen bei. Die Lebenslagen der Menschen sind unterschiedlich und sie verändern sich stetig weiter. Die Nähe zu den Menschen ist unerlässlich. Ministerpräsident Horst Seehofer spricht zu Recht von einer Koalition mit den Bürgern. Wir hören zu, nehmen Probleme ernst und handeln danach.

Man spürt hier doch sehr deutlich, wie skeptisch die Menschen in dieser globalisierten Welt geworden sind und wie angstvoll sie diese Veränderungen begleiten. Die Daten stimmen – und dennoch sind die Menschen auf der Suche.

Barbara Stamm

Sie haben die gefühlte Ungerechtigkeit angesprochen. Auf der einen Seite geht es Deutschland so gut wie noch nie, auf der anderen Seite sind die Verlustängste der Menschen groß wie nie. Ist das nicht paradox?

Natürlich. Aber wenn die Menschen diese Wahrnehmung haben, dann muss die Politik das ernst nehmen. Denken Sie nur mal zurück an die Zeit von Kanzler Wolfgang Schüssel in Österreich. Damals ging es unseren Nachbarn wirtschaftlich so gut wie nie und dennoch hat er die Wahl verloren! Das habe ich mir damals gut gemerkt und das sollte uns eine Warnung sein. Man gewinnt die Wahlen heute nicht mehr mit den guten Leistungen in der Vergangenheit, sondern mit Konzepten für die Zukunft. Die Menschen in Bayern wissen, dass es uns wirtschaftlich gut geht, dass die Arbeitslosigkeit enorm gesunken ist, dass wir die besten Ausgangssituationen auch für junge Menschen haben. Aber dennoch wird intensiv darüber diskutiert, wie sieht die Arbeitswelt von morgen aus, wie viel Sicherheit habe ich auch in Zukunft, wenn zum Beispiel die Anzahl der befristeten Arbeitsverträge immer größer wird? Gibt es dann eine Sicherheit für die junge Generation, wenn sie eine Familie gründen will? Die Daten stimmen – und dennoch sind die Menschen auf der Suche.

Auf der Suche nach was?

Nach Erdung. Nach Bindung. Nach echter sozialer Nähe. Wenn Sie sich einmal die sogenannten sozialen Netzwerke und die ganzen modernen Kommunikationsmittel im Internet anschauen – ist das noch echte zwischenmenschliche Kommunikation? Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass wir bei aller digitaler Entwicklung und Fortschritt die Menschen nicht außer Acht lassen dürfen. Eine Entwicklung stimmt mich in diesem Zusammenhang besonders sorgenvoll: Die Kinder- und Jugendpsychiatrie war noch nie mit so jungen und so vielen Menschen belegt, wie das heute der Fall ist. Da muss man schon ernsthaft die Frage stellen: Warum gibt es so viele Menschen, die ein Stück Lebensbewältigung für sich nicht mehr erreichen können?

Wenn Sie die beiden großen internationalen politischen Entscheidungen ansehen, den Brexit und den Wahlsieg von Donald Trump in den USA, die ja beide auch Ausdruck von Unzufriedenheit mit dem Establishment und einer gefühlten Ungerechtigkeit sind: Welche Lehren muss die hiesige Politik daraus ziehen?

Erst einmal muss man sehen, dass die veröffentlichte und die tatsächliche Meinung vieler Bürger offenbar nicht mehr die gleiche ist. Bei den Umfragen haben die Menschen meist noch gesagt, ich bin gegen den Brexit oder ich bin für Hillary Clinton. Und dann im geheimen Umfeld der Wahlkabine haben sie dann doch ihre wirkliche Meinung zum Ausdruck gebracht und die war in beiden Fällen von Protest geprägt. Der Wahlzettel wurde zum Denkzettel. Gerade bei den Menschen, die jahrelang nicht mehr zur Wahl gegangen sind. Viele von denen gehen jetzt wieder wählen, das hat den Erfolg der AfD mit ermöglicht. Jetzt müssen wir alles unternehmen, um diese Menschen zu uns zurückzuholen. Die AfD ist ein Auffangbecken für die Unzufriedenen, aber die AfD hat keine Konzepte. Es ist ja auch nicht so, dass die Partei erst durch die Flüchtlingskrise entstanden ist, sondern am Anfang stand die Skepsis gegenüber dem Euro im Mittelpunkt – und dann kam die Flüchtlingsfrage dazu. Die sorgte für eine gefühlte Ungerechtigkeit bei den Menschen. Viele machen sich Sorgen um ihre Sicherheit oder um ihren hart erarbeiteten Wohlstand. Das treibt manche in den Protest. Das Ganze ist halt nicht zu Ende gedacht, weil die AfD eine reine Protestpartei ist und die Konzepte fehlen. Aber es ist das klare Signal an uns, das gemeinsame Ziel im Auge zu haben: der Erhalt unserer Demokratie und unserer Werteunion.

Wenn man sich die Geschichte Deutschlands in den letzten 60 Jahren anschaut, da ging es ja praktisch nur bergauf. Jetzt geht es erstmals seitwärts und im Gefühl mancher Menschen vielleicht sogar abwärts.

Ja, das ist in der Tat auch ein wichtiger Punkt und Ursache für Verunsicherung. Wir sollten doch mal wieder innehalten und uns fragen: Muss immer alles schneller gehen? Muss man immer an der Spitze stehen – koste es, was es wolle? Oder wollen wir vielleicht auch einmal wieder entschleunigen und uns überlegen, was ist wirklich wichtig im Leben?

Wie kann die Rückbesinnung auf die wirklich wichtigen Werte in unserer Leistungsgesellschaft gelingen?

Gegen die Leistungsgesellschaft an sich ist ja nichts zu sagen, aber es kommt auf die richtigen Verhältnisse an. Und dabei ist vor allem die Wertschätzung der Leistung und der Menschen dahinter entscheidend. Uns in Deutschland geht es derzeit so gut, weil die Menschen dieses Land in den vergangenen Jahrzehnten mit viel Fleiß aufgebaut und weiterentwickelt haben. Und dann sagen natürlich die Menschen, diese Leistung muss sich doch lohnen, die muss sich auszahlen! Deshalb müssen wir jetzt wirklich eine steuerliche Entlastung auch für die Leistungsträger unserer Gesellschaft anpacken. Die finanzielle Umverteilung mit der Gießkanne ist grundfalsch, das bremst sämtliche Leistungsanreize. Die Menschen sagen, es ist meine Leistung und ich möchte in meinem Geldbeutel jetzt wieder etwas mehr drin haben.

Ist unser Wertegerüst ein Stück weit aus den Fugen geraten? Wenn ich zum Beispiel sehe, dass der Sieger des RTL-Dschungelcamps tagelang in allen großen Zeitungen auf Seite 1 steht und auf der anderen Seite über den Herzchirurgen, der jeden Tag Leben rettet, oder die Krankenschwester kein Mensch spricht.

Absolut, das bemängeln wir ja seit Jahren. Da ist etwas völlig schiefgelaufen. Zum Zusammenhalt und zum Funktionieren unserer Gesellschaft gehört natürlich auch, dass das, was von unseren Mitmenschen Tag für Tag Großartiges geleistet wird, immer wieder in den Mittelpunkt gestellt wird. Und wenn wir schon im Medienbereich sind, da bin ich schon der Meinung, dass hier gerade auch der öffentlich-rechtliche Rundfunk eine unwahrscheinliche Aufgabe hat. Was das Darstellen von Wertigkeiten anbelangt, was die Grundlagen einer funktionierenden Demokratie anbelangt. Es wäre unwahrscheinlich wichtig, solche grundlegenden Dinge darzustellen und nicht nur nach den Quoten zu schauen. Aber auch die Politik muss handeln. Nehmen Sie nur das Ehrenamt. Ohne die vielen ehrenamtlichen Helfer würde unsere Gesellschaft nicht funktionieren, da gäbe es praktisch kein Vereinsleben mit Musik oder Sport. Was da von Menschen geleistet wird, wie sie ihre Zeit, ihr Können, ihr Wissen zur Verfügung stellen – und dann gängeln wir sie auch noch vonseiten des Staates mit überflüssiger Bürokratie. Das kann nicht sein, auch da müssen wir aktiv werden!

Die Lebensrealität der Menschen muss ins Zentrum sämtlicher politischer Überlegungen. Viele Bürger haben zunehmend den Eindruck, von der Politik oder von Eliten bevormundet zu werden, und dagegen wehren sie sich.

Barbara Stamm

Ganz konkret, was sind Ihre Handlungsempfehlungen?

Die Lebensrealität der Menschen muss ins Zentrum sämtlicher politischer Überlegungen. Viele Bürger haben zunehmend den Eindruck, von der Politik oder von Eliten bevormundet zu werden, und dagegen wehren sie sich. Von großer Bedeutung sind jetzt deswegen vertrauensbildende Maßnahmen. Wir müssen den ländlichen Raum noch mehr stärken, wir müssen vor allen Dingen Familien weiterhin nachhaltigst unterstützen. Wenn wir über Investitionen reden, dann reden wir viel zu oft noch über Investitionen in Straßen oder Hochbauten. Dabei sind doch die Investitionen in Familien mit Kindern die allerbesten. Wir müssen weg von diesem einseitigen Investitionsbegriff in unseren Haushalten. Nicht nur Ausgaben für Infrastruktur sind Investitionen, sondern gerade die Mittel, die für Familien ausgegeben werden, das sind doch die eigentlichen Investitionen. Gerade auch im Bildungssektor, den wir auf jeden Fall immer weiter stärken müssen. Denn starke Familien und damit eine starke Gesellschaft mit Zusammenhalt und Perspektive, wo sich alle mitgenommen fühlen, sind die Grundlage für eine gute Zukunft.