Die Ditib-Zentralmoschee in Köln. (Bild: Picture Alliance)
Extremismus

Der Siegeszug islamistischen Denkens

Gastbeitrag Aus dem aktuellen BAYERNKURIER-Magazin: Der konservative, fundamentalistische Islam ist weltweit auf dem Vormarsch. Auch in Deutschland wird diese Entwicklung zu Problemen führen, analysiert der renommierte Islamwissenschaftler und Terrorismus-Experte Guido Steinberg.

In Deutschland wird das Thema „politischer Islam“ oder „Islamismus“ in den letzten Jahren vor allem als Sicherheitsproblem wahrgenommen und diskutiert. Das ist verständlich, denn die Attentate islamistischer Terroristen in Europa sind seit 2014 immer häufiger geworden und haben 2016 auch Deutschland erreicht. Doch so tragisch die Folgen für die Betroffenen auch sein mögen, sind die Möglichkeiten der 1000 bis 2000 deutschen Dschihadisten doch stark begrenzt, so dass es ihnen nicht gelingen wird, Staat und Gesellschaft in Deutschland zu destabilisieren.

Die Scharia als Richtschnur

Langfristig viel folgenschwerer sind die ideologischen Entwicklungen, die dem Aufstieg des islamistischen Terrorismus zumindest teilweise zugrunde liegen, die aber in Deutschland nur selten wahrgenommen werden. In den letzten Jahren ist immer deutlicher zu beobachten, dass sich konservatives, islamistisches und salafistisches Gedankengut unter (sunnitischen) Muslimen insgesamt immer weiter verbreitet. Immer häufiger ist zu hören, dass „der Islam“ nun einmal viele oder gar alle Fragen des öffentlichen und privaten Lebens abschließend geregelt habe und deshalb Kompromisse nicht möglich seien. Ganz gleich ob in der in der islamischen Welt und in der Diaspora verbreiten sich Ansichten wie die, dass das islamische Recht (die Scharia) zur Richtschnur des Handelns von Muslimen werden solle und dass die Auslegungen islamistischer und salafistischer Gelehrter den „wahren Islam“ repräsentieren.

Konservatives, islamistisches und salafistisches Gedankengut verbreitet sich unter Muslimen insgesamt immer weiter.

Guido Steinberg

Diese Entwicklung führt auch dazu, dass die Vielfalt muslimischen Denkens und Lebens immer häufiger als eine Abweichung von dem ursprünglichen, reinen Wesenskern der Religion gesehen und abgelehnt wird. So ist sehr viel häufiger als in der Vergangenheit zu hören, dass die islamische Mystik nicht islamkonform sei und Nichtsunniten wie vor allem die Schiiten, aber auch die Alawiten/Aleviten, Drusen oder Ahmadis gefährlichen Irrlehren anhängen und selbstverständlich keine Muslime seien.

Islamismus, Salafismus und ihre Förderer

Diese Entwicklung hat ihre Ursachen zunächst in dem Aufstieg des Islamismus seit den 1970er Jahren. Zwar gelang es den Islamisten vor 2011 nur in Einzelfällen (wie im Iran ab 1979) die Macht zu übernehmen, doch schafften sie es in den folgenden Jahrzehnten, zur wichtigsten und oft einzigen oppositionellen Strömung in vielen Ländern der islamischen Welt zu werden und parallel mit ihrem Gedankengut deren Gesellschaften stark zu beeinflussen. Deshalb war es auch kein Zufall, dass, als nach dem Arabischen Frühling 2011 in Ländern wie Ägypten und Tunesien freie Wahlen anstanden, sie diese für sich entscheiden konnten.

Muslimbrüder verbreiten Ideen global

Die Muslimbrüder hatten vor allem in Ägypten, aber auch in anderen Ländern die Jahre der Opposition genutzt, überall dort aktiv zu werden, wo der Staat sich aus Desinteresse oder Geldnot zurückzog. Sie gründeten karitative Einrichtungen aller Art, bauten Krankenhäuser, Kindergärten und Schulen und gewannen so die Sympathien vieler Ägypter. Wenn sie auch keine politische Macht erringen konnten, übernahmen sie immer mehr Moscheen. Sie profitierten dabei von der finanziellen Unterstützung reicher Unterstützer, die weltweit präsent, aber in den arabischen Golfstaaten besonders stark vertreten sind. Mit der Verbreitung von Satellitenfernsehen und Internet in den 1990er Jahren gewann die Unterstützung vom Golf besondere Bedeutung, denn jetzt konnten die Muslimbrüder ihre Ideen global verbreiten.

Saudi-Arabien fördert Islamisten und Salafisten

Parallel zu dem wachsenden gesellschaftlichen und intellektuellen Einfluss der Muslimbruderschaft begann auch der Aufstieg der Salafisten. Ihr wichtigster Förderer war und ist das Königreich Saudi-Arabien, in dem der Wahhabismus bis heute die offizielle Islaminterpretation ist. Der Wahhabismus ist die Wurzel des modernen Salafismus, der wiederum eine Teilströmung des Islamismus ist.

Wie die Islamisten wollen die Salafisten einen islamischen Staat auf der Grundlage des islamischen Rechts, der Scharia.

Guido Steinberg

Denn sie glauben, dass der Prophet Muhammad und seine Gefährten besonders gottgefällig gelebt hätten und sehen darin auch einen Grund für die Größe der arabisch-islamischen Zivilisation in ihren ersten Jahrhunderten. Saudi-Arabien hat nun in den 1960er Jahren schon begonnen, Salafisten und Islamisten weltweit zu fördern, so dass deren Aufstieg in den letzten Jahrzehnten auch auf die Politik Riads zurückgeht. Doch während lange Zeit vor allem Islamisten wie die Muslimbrüder von der Hilfe des Königreichs profitierten, zeigt sich seit den 1990er Jahren, dass vor allem die Salafisten immer stärker werden. Gemeinsam prägen sie religiöse Diskurse bis weit in den sunnitischen Mainstream und tragen so maßgeblich dazu bei, dass dieser heute puristischer, intoleranter und sektiererischer wird als er dies in vergangen Jahrhunderten war.

Die islamistische Türkei und Deutschland

Die Neigung vieler Muslime in Deutschland, islamistische und salafistische Positionen zu übernehmen, wird in den kommenden Jahren zu zunehmenden Problemen mit der Mehrheitsgesellschaft führen. Besonders deutlich ist dies schon heute bei den Salafisten, deren Bewegung zum wichtigsten Rekrutierungspool für islamistische Terroristen geworden ist. Da die meisten Beobachter sich aber einig sind, dass die Salafisten eine Gefahr darstellen, dürfte es nicht allzu schwierig werden, sie in Zukunft effektiver zu bekämpfen. Hinzu kommt, dass, obwohl ihre Bewegung stetig wächst, sie mit 10 bis 20.000 Anhängern unter den mittlerweile rund fünf Millionen Muslimen ein Randphänomen sind.

Ganz anders stellte sich die Situation bei Mainstream-Islamisten dar. Lange hieß es in Wissenschaft, Politik und Medien, dass die Muslimbrüder als eher „moderate“ Islamisten ein Partner des Westens werden können. Die Vertreter der letztgenannten Position verwiesen gerne auf die Türkei, denn die dort regierende AK-Partei des Präsidenten Erdogan – die aus dem türkischen Ableger der Muslimbruderschaft hervorgegangen ist – galt ihnen als Beleg, dass Islamisten sich vom Extremismus abwenden und sogar zu Demokraten werden können, wenn man sie durch Wahlen an die Macht gelangen lässt. Seit spätestens 2010 taugt die Türkei nun auf keinen Fall mehr als Beleg für diese These, denn seit es den ehemaligen Reformislamisten gelungen ist, die Macht des Militärs zu mindern, haben sie nicht nur begonnen, einen autoritären Staat aufzubauen, sondern auch, diesen immer rücksichtsloser zu islamisieren und eine puristische, intolerante und sektiererische Islaminterpretation zu verbreiten.

Der Bund muss einschreiten

Das Problem für Deutschland ist, dass diese Politik längst auch die staatliche türkische Religionsbehörde Diyanet erfasst hat, die wiederum die in Deutschland aktive Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion, kurz DITIB, kontrolliert. Damit sind die Muslimbrüder in Deutschland längst nicht mehr die kleine Minderheit von einst, denn mit DITIB hilft auch der größte türkische religionspolitische Akteur in Deutschland dabei, den Trend zu einer bestenfalls immer konservativeren Islaminterpretation zu verstärken.

Bund und Länder werden nicht vollständig verhindern können, dass sich islamistisches Gedankengut auch unter deutschen Muslimen verbreitet. Doch sollten sie einschreiten, wenn ein Staat wie die Türkei versucht, einen solchen Trend durch eine aggressive und autoritäre Religionspolitik in Deutschland zu verstärken. Kooperationen mit der DITIB müssen auf ein absolutes Minimum beschränkt werden und ihre Aktivitäten und die ihrer Mitgliedsvereine verstärkt überwacht werden, immer mit dem Ziel, ihren Einfluss so weit es geht zurückzudrängen. Deutsche Imame müssen in Deutschland unter staatlicher Aufsicht ausgebildet werden und muslimische Religionspolitik für Deutschland muss in Berlin, München und Düsseldorf gemacht werden, nicht in Ankara.