Sehen so Sieger aus? SPD-Chef Sigmar Gabriel (l.) und Berlins Bürgermeister Michael Müller. (Bild: Imago/Simone Kuhlmey/Pacific Press Agency)
Berlin-Wahl

Der schwächste Wahlsieger aller Zeiten

Die neue Berliner Bürgerschaft ist ein Sechsparteienparlament mit fünf beinah gleichstarken Parteien. Nur eine Dreierkoalition bringt eine Mehrheit. Da SPD-Bürgermeister Müller eine Zusammenarbeit mit der „Henkel-CDU“ ausschloss, stehen die Zeichen auf Rot-Rot-Grün. Angesichts des AfD-Ergebnisses gilt die Erkenntnis: „Wer Rechtsaußen wählt, wird Linksaußen regiert.“ Eine Wahlanalyse.

Die regierende SPD verliert nach dem vorläufigen amtlichen Endergebnis volle 6,7 Prozentpunkte auf 21,6 Prozent. Das schlechteste Ergebnis der Partei in Berlin seit dem Krieg – und das bundesweit schlechteste Ergebnis einer „stärksten Partei“ in einer Landtagswahl seit 1949. Ein mathematisches Rätsel, wie man mit derartig wenigen Prozenten überhaupt stärkste Fraktion werden kann.

Die Erklärung für dieses Phänomen liegt darin, dass sechs Parteien ins Parlament eingezogen sind und die fünf stärksten sehr nah beieinander landeten – in einem Bereich von nur 7,4 Prozentpunkten.

Vor allem verlor der klassische Gegenspieler der Sozialdemokraten, die bisher als Juniorpartner mitregierende CDU, beinah ebenso viel wie diese, nämlich 5,7 Prozentpunkte auf nur noch 17,6 Prozent. Die CDU behielt immerhin den zweiten Platz im Parteienranking – in einzelnen Umfragen war ihr vorab sogar ein Absturz auf Platz fünf prognostiziert worden. Durch den Absturz kommt die CDU als führende Kraft nicht in Frage, gegen die SPD kann praktisch nicht regiert werden.

Eigentliche Gewinner der Wahl: AfD, FDP und Linkspartei

Direkt hinter den Christdemokraten kommt die Linkspartei auf Platz drei – die Rechtsnachfolger der SED haben im Ostteil des einst geteilten Berlin noch immer viele Anhänger. Sie gewann 3,9 Punkte auf 15,6 Prozent. Die Grünen, die im alternativen Zentrum der Stadt beiderseits der ehemaligen Demarkationslinie ihre Stammwähler haben, verloren – ungewöhnlich für eine profilierte Oppositionspartei – 2,4 Prozentpunkte und landeten bei 15,2 Prozent.

Die AfD gewann aus dem Stand 14,2 Prozent und wurde damit fünftstärkste Kraft. Wie die Linkspartei war auch die AfD im Osten der Stadt sehr stark, ganz besonders in den Plattenbauvierteln. Als sechste Partei zieht noch die wiedererstarkte FDP in die Bürgerschaft ein, mit 6,7 Prozent – ein Plus von 4,9 Punkten und damit beinah eine Vervierfachung des Ergebnisses von 2011.

SPD will Rot-Rot-Grün – auch als Blaupause für den Bund

In Berlin wird es höchstwahrscheinlich zu einer rot-rot-grünen Koalition kommen – aus drei Gründen: Erstens hatte Bürgermeister Michael Müller (SPD) schon einige Wochen vor der Wahl kategorisch erklärt, er wolle das bisherige, immerhin einigermaßen erfolgreiche Bündnis mit der „Henkel-CDU“ nicht fortsetzen. Stattdessen strebe er Rot-Grün an. Vergeblich verwies Innensenator und CDU-Landeschef Frank Henkel dagegen im Wahlkampf auf 100.000 neu entstandene Jobs, sinkende Schulden und 1000 neue Polizisten. Die Botschaft wurde nicht gehört, der Kurs der SPD stand im Prinzip schon fest.

Zweitens ist das Wahlergebnis so knapp, dass keine denkbare Zweierkoalition eine Mehrheit erreicht. Ein Dreierbündnis ist nötig, und Müller sagte bereits am Wahlabend, er sehe bei Rot-Rot-Grün „die größten inhaltlichen Schnittmengen“. Gewichtiger für die SPD dürfte – drittens – das bundespolitische Signal sein, das insbesondere die Bundes-SPD und Parteichef Sigmar Gabriel von einem gesamtlinken Bündnis in der Hauptstadt erhofft. Rot-Rot-Grün ist im Bund die einzige theoretische Möglichkeit, Angela Merkel und die CDU im Herbst 2017 aus dem Kanzleramt zu vertreiben, auch wenn es in Umfragen bisher nicht dafür reicht.

Rechnerisch wären in Berlin auch ein abgewandeltes Sachsen-Anhalt-Modell möglich, also SPD-CDU-Grüne („Kenia“-Koalition) – dieses haben allerdings nach SPD-Bürgermeister Müller nun auch die Berliner Grünen ausgeschlossen. Theoretisch würde sogar die Variante SPD-CDU-FDP genau 81 von 160 Sitzen erzielen, also eine knappe Mehrheit. Das dürfte aber ebenso am Willen der SPD scheitern, die ja nicht mehr mit der CDU zusammenarbeiten will. Auch die FDP dürfte sich erst einmal in der Bürgerschaft wieder einleben und rehabilitieren wollen – und daher zur Opposition tendieren.

Wer Rechtsaußen wählt, wird Linksaußen regiert

Da in ganz Deutschland erklärtermaßen niemand mit der AfD koalieren will, verschieben sich durch ihren Einzug und die gleichzeitige Schwächung der CDU automatisch die Gewichte im Parlament nach links. AfD-Stimmen sind mithin für die Regierungsbildung verlorene Stimmen. Unter diesen Umständen ist die Erkenntnis aus den 1990er- und 2000er-Jahren – den Zeiten der Republikaner und dann der NPD/DVU in Ostdeutschland – wieder aktuell: „Wer Rechtsaußen wählt, wird Linksaußen regiert.“

Das Wahlergebnis jetzt in Berlin wie auch das in Thüringen im September 2014 demonstriert das schulbuchmäßig. Gerade national denkenden und konservativen Anhängern der Union, die eine Stimmabgabe zugunsten der AfD in Erwägung ziehen, sollte das zu denken geben. Die Linksverschiebung wirkt besonders stark, wenn gleichzeitig auch noch die SPD Zustimmung bei ihren Unterschicht-Stammwählern verliert und dadurch die Linkspartei zulegt, wie in Berlin und Thüringen geschehen.

Berlin-internes Chaos entschied die Wahl

SPD-Bürgermeister Müller wirkte im Wahlkampf bei Kritik an den teilweise katastrophalen Zuständen in Berlin auffällig dünnhäutig. Journalistische Wahlkampfbegleiter beschreiben sein Auftreten als distanziert und humorlos. Die Schuld an allen möglichen Missständen schob er auf die erst seit fünf Jahren mitregierende „Henkel-CDU“ – obwohl die SPD seit 2001 ohne Unterbrechung den regierenden Bürgermeister stellt. Viele Wähler scheinen das geglaubt zu haben.

Dabei – und da sind sich alle Analytiker einig – haben vor allem diese Berlin-internen Zustände, die großteils mit eklatantem Verwaltungsversagen zu tun haben, dazu geführt, dass die bisherigen Regierungsparteien SPD und CDU so abgestraft wurden wie noch nie. Beispiele: Chaos in den baufälligen Schulen mit massivem Unterrichtsausfall, Chaos im nach wie vor überforderten Bürgeramt, wo man wochenlang auf einen Termin für simple Verwaltungsakte wie Ummeldung oder Passausstellung warten muss, Chaos, Kriminalität, Ausfälle und Dreck im öffentlichen Nahverkehr, unkoordinierte Baustellen auf den Straßen, grassierende Drogendelikte auf offener Straße, und dazu noch die „Mutter aller Blamagen“ am Großflughafen BER, auf dessen Fertigstellung selbst Optimisten nicht mehr wetten mögen. Auch die stark gestiegenen Mietpreise und fehlenden Wohnungen für Geringverdiener spielten eine wichtige Rolle.

So sagten in einer Nachwahlbefragung von Infratest dimap 70 Prozent der Befragten, es werde zwar viel gebaut, aber nicht dort, wo es nötig ist. „Berlin hat eine unfähige Verwaltung“ sagten 69 Prozent. Dem Satz „Egal wer regiert, keiner bekommt die Probleme in den Griff“ schlossen sich 61 Prozent an. Für das Chaos an der Flughafenbaustelle BER, dessen Aufsichtsratschef bekanntlich viele Jahre lang der SPD-Bürgermeister Klaus Wowereit war, lasten „nur“ 40 Prozent die Schuld der SPD an – allerdings sechs Prozent der CDU, die administrativ mit dem Flughafen gar nichts zu tun hatte.

Vertrauen in Volksparteien CDU und SPD ist auf einem Tiefpunkt

Das zeigt nach Auffassung von Demoskopen mehrerlei: Das traditionelle Vertrauen in die Problemlösungs- und Gestaltungskompetenz der Volksparteien ist auf einem absoluten Tiefpunkt seit dem Zweiten Weltkrieg. SPD und CDU zusammen kommen nicht einmal mehr auf 40 Prozent, genauer nur noch auf 39,2 Prozent. Zum Vergleich: 1979 betrug die Summe aus SPD- und CDU-Ergebnis noch 87,1 Prozent, auch 1990 immer noch 70,8 Prozent.

Neben den Berliner Mängeln hatte auch das bundespolitische Thema der Flüchtlingskrise eine größere Bedeutung, als es manche Kommentatoren glauben machen wollen. So antworteten bei einer Nachwahlbefragung der Forschungsgruppe Wahlen volle 44 Prozent – die größte Gruppe – auf die Frage nach den „wichtigsten Problemen der Stadt“ mit „Flüchtlinge“. Erst danach kamen die hohen Mieten (33 Prozent) und die Schulen (23 Prozent).

Berliner Wahl war nur zum Teil eine Abstimmung über Flüchtlingspolitik

Allerdings kann man die Berliner Wahl – anders als die Landtagswahlen in Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt – nicht als Abstimmung über die Flüchtlingsfrage betrachten, denn zu bedeutend war der Ärger über die konkreten Missstände in der Stadt selbst. Das Institut Infratest dimap hat auf die ganz ähnliche Frage nach dem wahlentscheidenden Thema folgende Resultate erhalten: Soziale Gerechtigkeit (50 Prozent West, 53 Ost, ein üblicher Wert für die „Hartz-IV-Hauptstadt“), Wirtschaft und Arbeit (32/29), Schule/Bildung (26/23), Flüchtlinge (24/25), Mieten/Wohnungsbau (18/17).

In der Wahlmotivation unterscheiden sich AfD-Wähler deutlich von anderen: Ihre Wahlentscheidung erfolgte laut Forschungsgruppe Wahlen zu über 90 Prozent wegen der Flüchtlingskrise, die der Gesamtwählerschaft hingegen nur zu 44 Prozent. Und: Die AfD-Wähler sahen zu über 60 Prozent die Bundespolitik als entscheidend an, die Gesamtwählerschaft hingegen nur zu weniger als 40 Prozent.

Teufelskreis aus Zersplitterung und instabiler Regierung droht

Die aus der Unzufriedenheit resultierende Zersplitterung der Parteienlandschaft macht es immer schwieriger, stabile und handlungsfähige Regierungen zu bilden, was die Unzufriedenheit der „Wutbürger“ weiter anheizen dürfte – und im Endeffekt zu einem weiteren Anwachsen der Protestparteien am rechten und linken Rand führen könnte. Ein Teufelskreis aus gegenseitiger negativer Verstärkung deutet sich hier an, der die Demokratie letztlich auszuhöhlen droht.

Allgemein hat sich in der Hauptstadt ein breiter Pessimismus, eine starke Unzufriedenheit, geradezu ein Fatalismus breitgemacht – und das nach Jahren des Aufschwungs und deutlich gesunkener Arbeitslosenzahlen. Nur 41 Prozent der Berliner sagten zu Infratest dimap, sie glauben, dass sie „von der zukünftigen Entwicklung Berlins profitieren“ werden. Volle 55 Prozent verneinen das.

Dabei zeigt sich auch mehr als 25 Jahre nach der Wiedervereinigung eine starke Spaltung in der Stadt: Während CDU und SPD fast nur im Westen punkten können und die Grünen vor allem in den hippen Szenevierteln im Zentrum reüssieren, teilen sich Linkspartei und AfD den Osten der Stadt auf.

In manchen Bezirken Ost-Berlins, vor allem in den Plattenbaugegenden, streiten sich nur noch die Protestparteien AfD und Linkspartei um den Rang als stärkste Partei. In den Bezirken Pankow, Lichtenberg, Marzahn-Hellersdorf 1 und 3 sowie Treptow-Köpenick 3 und 5 ging jeweils das Direktmandat an die AfD. Ihr stärkstes Ergebnis erreichten die Rechtspopulisten im Bezirk Marzahn-Hellersdorf 1: Hier stimmten 29 Prozent für die AfD. 2011 war das Direktmandat in diesem Bezirk noch an die Linkspartei gegangen.

AfD-Wähler: 91 Prozent wollen Denkzettel verteilen

Die AfD gewann, gerechnet auf ganz Berlin, die meisten Wähler aus dem Lager der bisherigen Nichtwähler, nämlich 47 Prozent. 22 Prozent der AfD-Wähler hatten 2011 ihr Kreuz bei der CDU gemacht, hier dürften die meisten Merkel-Enttäuschten zu verorten sein. 11 Prozent machte die AfD der SPD abspenstig, die in der Flüchtlingspolitik zuletzt einige rhetorische Kapriolen schlug. 10 Prozent der AfD-Wähler kommen von den Piraten, die eher durch ein utopisch-linkes Programm beispielsweise mit einem bedingungslosen Grundeinkommen auffielen. Sechs Prozent der AfD-Wähler kommen von der Linkspartei, und nur je zwei Prozent machten früher ihr Kreuzchen bei FDP und Grünen.

Die AfD-Wähler finden laut Infratest dimap zu 99 Prozent, dass der Zuzug stärker begrenzt werden sollte, aber auch, dass die AfD sich um mehr Sicherheit kümmern und eine Ausbreitung des Islams in Deutschland verhindern werde. Interessant für die Parteistrategen ist folgendes Ergebnis: 91 Prozent gaben an, mit der Stimme für die AfD ein klares Zeichen gegen andere Parteien zu setzen – mithin Denkzettel zu verteilen.

Merkel gibt Fehler in Flüchtlingspolitik zu

Immerhin machte Kanzlerin Angela Merkel (CDU) am Tag nach der Wahl einen kleinen rhetorischen Schritt auf die Kritiker ihrer Flüchtlingspolitik zu: In einer Pressekonferenz bezeichnete sie das Wahlergebnis in Berlin als „bittere Niederlage“ und übernahm einen Teil der Verantwortung. Gleichzeitig gab sie Fehler in der Flüchtlingspolitik zu. Deren „Richtung, Ziel und Grundüberzeugungen“ seien nicht ausreichend erklärt worden, räumte sie ein und bat um Geduld.

Die Lösung der Flüchtlingskrise werde Zeit brauchen, so Merkel weiter, „auch weil wir in den vergangenen Jahren weiß Gott nicht alles richtig gemacht haben.“ Wörtlich sagte die Kanzlerin: „Wenn ich könnte, würde ich die Zeit um viele, viele Jahre zurückdrehen, um mich mit der ganzen Bundesregierung und allen Verantwortungsträgern besser vorbereiten zu können auf die Situation, die uns dann im Spätsommer 2015 eher unvorbereitet traf.“

Bevölkerung fühlt sich bedroht – ein Problem für den Innensenator

Eines der Probleme der CDU in Berlin war neben der etwas unbeholfen und steif wirkenden Person von Landeschef Frank Henkel auch die grassierende Kriminalität: die Einbrüche, die Drogendealer, die Junkie-Bettler, die nahöstlich-mafiotischen Clanstrukturen und arabisch-türkischen Parallelgesellschaften, die brennenden Autos, die linken Ausschreitungen. Er musste dabei allerdings auch mit der durch die rot-roten Vorgängerregierungen kaputt gesparten Polizei klar kommen, stockte immerhin den Personalstand um 1000 auf. Dennoch hat der Innensenator die Kriminalität insgesamt nicht in den Griff bekommen.

„Das Leben in Berlin ist unsicherer geworden“, sagen laut Infratest dimap 46 Prozent der Berliner nach der Stimmabgabe, darunter 42 der Westberliner und 53 Prozent der Ostberliner. Besonders interessant ist die Aufschlüsselung nach Wahlverhalten: 89 Prozent der AfD-Wähler unterschreiben den Satz, 50 Prozent der CDU-Wähler und 44 Prozent der FDP-Wähler. Solche Werte bei den eigenen Sympathisanten signalisieren für einen kernigen Law-and-Order-Politiker, als der sich Henkel gerne gab, ein Glaubwürdigkeitsdefizit.

Henkel kündigt Rückzug an

Auch Henkels massive Polizeieinsätze gegen die linksextremistische Szene, die vor allem im Umfeld des besetzten Hauses Rigaer Straße 94 mit geworfenen Betonplatten und Pflastersteinen Menschen an Leib und Leben gefährdete, blieben letztlich ohne Erfolg. Sie waren in den Augen vieler Wähler ebenfalls nicht glaubwürdig, weil Henkel damit bis vier Monate vor der Wahl gewartet hatte.

Unterdessen kündigte Frank Henkel an, bei der nächsten turnusmäßigen Neuwahl nicht mehr als CDU-Landesvorsitzender zu kandidieren. Das bestätigte eine Parteisprecherin. Ursprünglich hatte er dem Landesvorstand und dem Präsidium seinen sofortigen Rücktritt angeboten, doch die Gremien hatten abgelehnt, wie die Sprecherin sagte. Möglicherweise wird ein für Mai 2017 geplanter Landesparteitag vorgezogen.

(FAZ/Welt/ARD/Focus/dpa/wog)