Dominantes Gewächs: 350 Jahre alte Buche in der bayerischen Rhön - der Ur-Baum in Deutschlands Wäldern. (Foto: Biosphärenreservat Rhön)
Umwelt

Bayerns Urwälder von morgen

Die bayerische Staatsregierung hat einen dritten Nationalpark für den Freistaat beschlossen. Vor allem im Spessart regt sich allerdings Widerstand, auch aus der CSU. Wissenschaftler befürchten gar, ein solches Projekt könne der Artenvielfalt schaden. Umweltministerin Ulrike Scharf dagegen fordert ein "Ausrufezeichen beim Naturschutz".

Das Land nördlich der Alpen schildert der römische Geschichtsschreiber Tacitus in seinem Werk „Germania“ als Gebiet voll endloser Wälder und Sümpfe: „Der allgemeine Charakter ist schauriger Urwald und düsterer Moorgrund.“ Nach Gallien hin werde das Klima feuchter, in Noricum – einem keltischen Gebiet im heutigen Bayern und in Österreich – sei es „vorherrschend windig“. Der neuzeitliche Bestseller-Autor Peter Wohlleben beschwört in seinem Buch „Das geheime Leben der Bäume“ die Seele des deutschen Waldes: „Bäume, die miteinander kommunizieren. Bäume, die ihren Nachwuchs, aber auch alte und kranke Nachbarn liebevoll umsorgen und pflegen. Bäume, die Empfindungen haben, Gefühle, ein Gedächtnis.“

Die Sehnsucht des modernen Menschen

Solche Beschreibungen, aber auch das Unbehagen an der industrialisierten Kultur-Landschaft nähren die Sehnsucht vieler Menschen nach dem unberührten Ur-Wald, nach heil gebliebener Natur. Zur Römerzeit waren nach Expertenschätzung 90 Prozent des heutigen Deutschland von Wäldern bedeckt. Überwiegend voller Buchen. Inzwischen ist der Waldanteil am Bundesgebiet auf ein Drittel geschrumpft. Was für ein Versprechen da die Vokabel „Nationalpark“ transportiert. In ihr lebt Tacitus‘ antikes Germania-Bild weiter, sie lässt an die Weiten der USA denken. Yosemite, Yellowstone. „Die Nationalparks in Amerika sind noch sehr ursprünglich“, erklärt Reinhard Mosandl, Professor für Waldbau an der TU München, „aber bei uns gibt es das nicht mehr.“ Viele Menschen hofften auf einen „Urwald von morgen“, urwüchsig und fern der Zivilisation, glaubt der Forstwissenschaftler. Wenn solche mythischen Naturgebiete in Deutschland ausgestorben sind – könnte man sie nicht zu neuem Leben erwecken?

Nummer drei

Zwei solcher Nationalparks gibt es bereits im Freistaat, im Bayerischen Wald und in den Berchtesgadener Bergen. Einen weiteren hat die Staatsregierung auf ihrer Kabinettsklausur am Tegernsee Anfang August angekündigt. „Ich bin fest entschlossen, dass wir einen dritten Nationalpark gründen“, sagt Ministerpräsident Horst Seehofer. Eine Fokussierung auf eine bestimmte Region gebe es nicht, aber denkbar wäre eine grenzüberschreitende Lösung zu anderen Bundesländern. Seit diesem Beschluss kreist die Diskussion vor allem um zwei potenzielle Kandidaten: den Naturpark Spessart und das Biosphärenreservat Rhön. Den Steigerwald, dessen mögliche Verwandlung in einen Nationalpark seit langem heftig umstritten ist, schließt Seehofer bereits kategorisch aus.

Ich bin fest entschlossen, dass wir einen dritten Nationalpark gründen. Dieser soll vor allem im Staatswald entstehen.

Horst Seehofer, Ministerpräsident

Umweltministerin Ulrike Scharf hält sowohl den Spessart als auch die Rhön für „schützenswert“. Die „schönen Buchenwaldbestände“ in beiden möchte sie pflegen. „Wichtig ist aber, dass wir die Menschen mitnehmen“, betont sie. Ohne die Bürger sei kein Naturschutz möglich. Ein Nationalpark stelle ein ökologisches Konjunkturprogramm für eine Region dar, wirbt Scharf mit Hinweis auf den Fremdenverkehr im Bayerischen Wald. Jedes Jahr besuchten 1,3 Millionen Urlauber den Nationalpark und brächten eine zusätzliche Wertschöpfung von 20 Millionen Euro. Die Ministerin möchte ein „Ausrufezeichen beim Naturschutz setzen“.

Vor allem im Spessart regt sich jedoch Widerstand gegen die Pläne der Staatsregierung. Auch aus den CSU-Verbänden vor Ort. So verlinkt die Internetseite des Kreisverbands Aschaffenburg auf eine Initiative namens „Wir im Spessart“. Ihr Vorsitzender ist der CSU-Landtagsabgeordnete Peter Winter, der sich in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung gerade gegen einen Nationalpark ausgesprochen hat: „Wir haben hier im Spessart sehr schöne und vielfältige Mischwälder aus Buchen und Eichen. Die sind alle ein Resultat einer Jahrhunderte alten Wald- und Forstwirtschaft.“ Würde nun ein Nationalpark ausgewiesen, ist es nach Winters Ansicht „mit der Schönheit und Vielfalt schnell vorbei“. Zudem entgehe den Sägewerken der Rohstoff Holz, wenn die Förster nicht mehr fällen dürfen. Der Bevölkerung fehle dann Brennholz.

Die Zweifel des Ex-Staatskanzlei-Chefs

Auch der in Lohr am Main lebende frühere bayerische Gesundheitsminister und Staatskanzlei-Chef Eberhard Sinner argumentiert gegen das Vorhaben. „Der Spessart ist alles andere als ein Urwald“, schreibt er in einem Gastbeitrag für die Mainpost. Die Natur in der Region sei „von Menschen geprägt, von Menschen gepflegt und von Menschen in vielfältiger Weise genutzt“. Die Eichen aus dem Naturpark würden von den wuchsstärkeren Buchen in recht kurzer Zeit verdrängt, wenn die Förster in einem Nationalpark nicht mehr eingreifen dürften. Die heimischen Traubeneichen beherbergen nach den Worten Sinners, der studierter Forstwirt ist, jedoch besonders viele Tier- und Pflanzenarten.

Womöglich also könnte es kontraproduktiv sein, den Spessart nur der Natur zu überlassen. Auch aus wirtschaftlicher Sicht: Die über mehrere Förstergenerationen aufgezogenen Spessart-Eichen bringen bei Hiebreife rund 1500 Euro je Kubikmeter. Zum Vergleich: Die wesentlich schneller wachsenden Fichten, deren Stangenwälder in vielen bayerischen Forsten stehen, bringen nur 100 Euro pro Kubik ein. Wenn in Mainfranken 10.000 Hektar Staatswald aus der Bewirtschaftung genommen werden, würden Schätzungen zufolge dort 70.000 Kubikmeter weniger Holz geschlagen – ein forstwirtschaftlicher Verlust von bis zu 10 Millionen Euro.

Ein Nationalpark schließt menschliche Einwirkung aus. Deshalb wird die Buche die Eiche überwachsen und sehr stark reduzieren.

Eberhard Sinner, Minister a.D.

Der ehemalige Minister Sinner würde in seiner Gegend lieber alles so belassen wie es ist: mit geschützten Waldstücken und dazwischen immer wieder bewirtschafteten Flächen. „Der Spessart ist ein exzellentes Beispiel für höchsten ökonomischen Ertrag und höchsten ökologischen Wert“, schreibt er in seinem Kommentar. Nationalparks gebe es „weltweit im Dutzend“. Dagegen: „Was im Spessart seit über dreihundert Jahren entstanden ist, ist weltweit einmalig, unverwechselbar und damit im besten Sinne Heimat.“

In der Rhön fallen die Reaktionen auf ein mögliches Nationalpark-Projekt zurückhaltender aus. Der CSU-Landrat im Kreis Bad Kissingen, Thomas Bold, erklärte vergleichsweise neutral, es sei „naheliegend, dass die Rhön aufgrund der hohen Anerkennung als Biosphärenreservat mit in die Auswahl für ein solches Projekt fällt“. Er setzt auf Gespräche mit der Staatsregierung, bei denen sich womöglich gute Chancen für seine Region ergeben. Ähnlich erwartungsvoll äußern sich allerdings auch Befürworter eines dritten Nationalparks im Main-Spessart.

2,5 Millionen Hektar Wald im Freistaat

Ohnehin würde der neue Nationalpark nach Planung Seehofers nur Staatswald einschließen. Ob im Spessart, der Rhön oder anderswo: seine Fläche läge wohl zwischen 10.000 und 12.000 Hektar. Zum Vergleich: Im gesamten Freistaat stehen 2,5 Millionen Hektar Wald, der jedoch in aller Regel Forst ist. „Im ursprünglichen, naturbelassenen Zustand, wie er zu germanischen Zeiten war, sind genau 0,0 Prozent“, schätzt Thomas Knoke, Professor für Waldinventur und nachhaltige Nutzung im Wissenschaftszentrum Weihenstephan. Er bestätigt die Kritik von Sinner und Winter auch aus wissenschaftlicher Sicht: „Es wäre naiv zu glauben, dass in einem Nationalpark Spessart die schönen Eichengehölze erhalten blieben.“ Der Biodiversität stehe ein solches Vorhaben jedenfalls eher im Wege. Die Buche könnte unter der Bedingung, dass der Mensch nicht mehr eingreift, flächendeckend gedeihen. „Die Vielfalt, die man eigentlich schützen will, zerstört man so“, sagt Knoke.

Die deutsche Eiche ist ein Mythos. Sie als Kulturgut zu erhalten, darum muss der Mensch sich kümmern. In einem Nationalpark geht das nicht.

Reinhard Mosandl, Professor für Waldbau

Dem Professor fällt auf, dass es „große Unterschiede bei diesem Thema zwischen der städtischen und der ländlichen Bevölkerung gibt“. Auf dem Land sei die Skepsis gegenüber einem Nationalpark größer, weil die Menschen das Arbeiten mit der Natur gewöhnt seien. Vor allem in der Landwirtschaft, die wesentlich intensiver betrieben werde als die Waldwirtschaft, die ohne Dünger und Pestizide auskomme. „In den Städten ist die Sehnsucht nach Ökologie besonders groß“, meint Knoke, „die Leute sehen die Natur als Wesen, dem man etwas Gutes tun kann, an dem man den Raubbau in aller Welt wieder ein wenig heilen kann.“

Die Illusion vieler Städter

Aber darin steck in seiner Wahrnehmung eine Illusion. Denn Deutschland hat sich in den vergangenen Jahren von einem Rohholz-Exporteur in einen Importeur verwandelt. Jährlich führt die Bundesrepublik inzwischen rund fünf Millionen Kubikmeter Holz ein. Viel davon stammt aus Tschechien, wo laut Knoke „schlicht per Kahlschlag abgeholzt“ werde. Der Forstwissenschaftler rät zur globalen Betrachtung: Je mehr Waldflächen in Deutschland per Nationalpark und Naturschutzgebiet stillgelegt werden, desto mehr fördere das Land, über das Tacitus einst seine „Germania“ schrieb, ungewollt sogar den Raubbau an der Natur.