Die Türkei auf dem Weg in die Diktatur. (Bild: Imago/Ralph Peters)
Geheimpapier

Keine Neubewertung der Türkei

Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) hat den von seinem Haus zusammengestellten deutlichen Regierungsbericht zur Türkei verteidigt, ihn zugleich aber als Teilbewertung relativiert. "Da ist nichts zu bereuen", sagte er dem RBB-Fernsehen. Es gibt aber auch kritische Stimmen.

Der Text sei lediglich „eine pointierte Darstellung eines Teilaspekts türkischer Wirklichkeit“. De Maizière fügte hinzu: „Die Wirklichkeit in der Türkei und unsere Zusammenarbeit mit der türkischen Regierung geht darüber hinaus.“

Von der Lebenslüge, wir könnten die Türkei in unsere Wertegemeinschaft integrieren, müssen wir uns endgültig verabschieden.

Hans-Peter Uhl, CSU

„Die Türkei ist aus unserer Sicht ein Partner im Kampf gegen den IS“, sagte der Sprecher der Bundesregierung, Steffen Seibert. Es gebe auch keinen Anlass, das sinnvolle Abkommen in der Flüchtlingsfrage infrage zu stellen. „Unser Nato-Partner wird die Türkei bleiben, EU-Partner wird sie nie werden. Von der Lebenslüge, wir könnten die Türkei in unsere Wertegemeinschaft integrieren, müssen wir uns endgültig verabschieden“, meint dagegen der CSU-Bundestagsabgeordnete Hans-Peter Uhl (CSU).

Zentrale Aktionsplattform für Islamisten

Bei dem der ARD und der Deutschen Presse-Agentur vorliegenden Bericht handelt es sich um eine teils vertrauliche Antwort auf eine parlamentarische Anfrage der Linksfraktion. Darin gibt die Bundesregierung eine BND-Analyse wieder, nach der die Türkei unter Präsident Recep Tayyip Erdogan seit Jahren islamistische Organisationen unterstützt, darunter solche wie die palästinensische Hamas, die von der EU als terroristisch eingestuft wird. Dies ist grundsätzlich schon länger bekannt. Auch zu „Gruppen der bewaffneten islamistischen Opposition in Syrien“ und zur Muslimbruderschaft in Ägypten und bestünden enge Bande. Aus der als vertraulich eingestuften Einschätzung geht außerdem hervor, dass die Bundesregierung die Türkei unter Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan als „zentrale Aktionsplattform“ für islamistische und terroristische Organisationen im Nahen Osten ansieht.

Das Auswärtige Amt, dem der Bericht vorab hätte vorgelegt werden müssen, distanzierte sich. Das Ministerium mache sich die Aussagen „in dieser Pauschalität“ nicht zu eigen, ließ eine Sprecherin von Ressortchef Frank-Walter Steinmeier (SPD) wissen. Denn „das Auswärtige Amt war nicht eingebunden in die Beantwortung der Fragen“. Es sei nicht möglich gewesen, „da reinzugrätschen“. Offenbar hält Steinmeier also die kritische Sicht auf Erdogan für falsch.

Mir scheint der Neuigkeitswert der Informationen, die das Bundesinnenministerium zusammengetragen hat, gering.

Thomas Oppermann, SPD

SPD-Bundestagsfraktionschef Thomas Oppermann sieht trotz der kritischen Einschätzung des Bundesinnenministeriums zur Türkei keinen Grund, das Verhältnis zu dem Land neu zu bewerten. Das Ministerium habe lediglich altbekannte Dinge zugespitzt formuliert, sagte Oppermann der Neuen Osnabrücker Zeitung. „Eine Neubewertung unseres ohnehin angespannten Verhältnisses zur Türkei halte ich für nicht nötig.“ Oppermann weiter: „Mir scheint der Neuigkeitswert der Informationen, die das Bundesinnenministerium zusammengetragen hat, gering.“ Die Nähe der AKP-Regierung zur ägyptischen Muslimbruderschaft und zur Palästinenserorganisation Hamas sei auch nicht verheimlicht worden. „Viel gravierender“ war nach den Worten des SPD-Fraktionschefs, dass sich die Türkei im vergangenen Jahr nicht deutlich genug von den Terroristen des sogenannten Islamischen Staates (IS) abgegrenzt habe. Inzwischen sei die Türkei Teil der Anti-IS-Koalition und selber immer wieder Opfer von blutigen Anschlägen des IS, fügte Oppermann hinzu.

Experte: Erdogan half auch dem IS

Günter Meyer, Leiter des Zentrums für Forschung zur Arabischen Welt, sagte den tagesthemen, der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan habe auch der Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS) bei der Ausbreitung in den Kurdengebieten im Norden Syriens aktiv geholfen – mit Waffen, der Einschleusung von Dschihadisten, der Versorgung verletzter IS-Kämpfer in türkischen Krankenhäusern und durch Ölschmuggel. „Erst als es auch in der Türkei zu einzelnen Anschlägen durch den ‚Islamischen Staat‘ gekommen ist, erst da hat sich Erdogan gegen den IS gewandt – allerdings nur in sehr begrenzter Form.“ Die von der EU und vielen Ländern als terroristische Vereinigung eingestufte Hamas sei aus türkischer Sicht keine Terrororganisation, sondern die demokratisch gewählte Vertretung der Palästinenser im Gazastreifen, so Meyer weiter. Hauptziel Erdogans sei es, „in der gesamten islamischen Welt eine konservative sunnitische Herrschaft zu etablieren“, daher habe er auch immer die Muslimbruderschaft gerade in Ägypten unterstützt. Auch deshalb sei die internationale Zentrale der Muslimbruderschaft in Istanbul.

Bissige Medienkommentare

Viele Kommentare in den Medien sehen die Veröffentlichung und deren Inhalt nicht so harmlos. Die ARD schreibt: „Im Klartext heiß das also: Die Bundesregierung kämpft an der Seite eines Landes gegen die Terrormiliz Islamischer Staat (IS), dem sie bescheinigt, selbst eine Plattform für Islamisten zu sein.“ Die Bild-Zeitung stellt die Frage: „Kann DIESE Türkei noch Partner sein?“ Die Lausitzer Rundschau spekulierte: „Spätestens jetzt dürfte jedem klar sein, dass innerhalb der Bundesregierung die Flüchtlingspolitik der Bundeskanzlerin hochgradig umstritten ist – und womöglich sogar torpediert wird. (…) So blöd kann kein Beamter von Innenminister Thomas de Maizière oder des Bundesnachrichtendienstes sein, dass er nicht weiß, welche Wirkung und welchen Widerhall diese Informationen entfalten.“

Im Klartext heiß das also: Die Bundesregierung kämpft an der Seite eines Landes gegen die Terrormiliz Islamischer Staat (IS), dem sie bescheinigt, selbst eine Plattform für Islamisten zu sein.

ARD

ARD-Kommentatorin Tina Hassel hinterfragt Steinmeiers Kompetenz: „Wenn das Auswärtige Amt nun glaubt, es könne sich einen schlanken Fuß machen, da es nicht einbezogen war, dann funktioniert das nicht. Sollten Steinmeier die Erkenntnisse des BND noch nicht vorliegen, muss er sie sich schnellstens besorgen und selber einschätzen, ob die Türkei eine Drehscheibe für islamistische Terroristen ist.“

Die Wiener Zeitung Die Presse beurteilt die künftige Zusammenarbeit so: „Kann so jemand als vollwertiges Mitglied am Tisch der EU sitzen? Nein. Kann man mit so jemandem zusammenarbeiten? Wenn es Vorteile bringt: ja.“ Auch die FAZ sieht das alles nicht so ernst: „Man wusste, dass Präsident Erdogan und die Regierungspartei den Muslimbrüdern ideologisch nahestehen; dass sie islamistische Rebellengruppen in Syrien unterstützen; dass Hamas-Führer in Ankara empfangen wurden. Auch ist die Beobachtung einer Islamisierung der türkischen Innen- und Außenpolitik keine Sensation. Derlei steht seit Jahren in der Zeitung.“

Mehr als 40.000 Festnahmen in der Türkei

Seit dem gescheiterten Putschversuch des Militärs am 15. Juli sind in der Türkei 40.029 Verdächtige festgenommen worden. Wie der türkische Ministerpräsident Binali Yildirim im Fernsehen sagte, sind 20.355 Verdächtige in Untersuchungshaft. Darunter seien Polizisten, Soldaten, Mitarbeiter des Justizapparats sowie Zivilisten, so die Nachrichtenagentur Anadolu. Yildirim kündigte an, dass die „Säuberungskampagne“ gegen Gülen-Anhänger weiter gehe. Ankara macht die Gülen-Bewegung für den Putschversuch verantwortlich. Bereits 79.900 Beschäftigte des öffentlichen Dienstes hätten ihre Posten räumen müssen. Zudem seien 4262 Firmen und Einrichtungen geschlossen worden.

Um Platz zu schaffen: 38.000 Kriminelle kommen frei.

Für all die angeblichen Putschisten wird der Platz in den türkischen Gefängnissen knapp. Justizminister Bekir Bozdag kündigte darum an, rund 38.000 Kriminelle freizulassen. Darunter sollen aber keine Sträflinge sein, die Straftaten nach dem 1. Juli begangen haben oder die wegen Mordes, Terrorismus, häuslicher Gewalt, sexuellem Missbrauch oder Verbrechen gegen den Staat inhaftiert sind.

Vermögen von 187 Geschäftsleuten beschlagnahmt

Im Zusammenhang mit den Ermittlungen nach dem Putschversuch ist außerdem das Vermögen von 187 Geschäftsleuten beschlagnahmt worden. Das habe die Istanbuler Staatsanwaltschaft entschieden, berichtete die Nachrichtenagentur DHA. Ihnen werde vorgeworfen, Verbindungen zu Gülen zu haben. Die 187 Verdächtigen seien auch zur Fahndung ausgeschrieben worden. 60 von ihnen habe die Polizei bereits festgenommen. Auch die bekannten Geschäftsmänner Faruk Güllüoglu und Ömer Faruk Kavurmaci seien darunter. Die Güllüoglu-Familie gehört zu den bekanntesten Süßspeisen-Herstellern der Türkei. Kavurmaci ist laut Medienberichten der Schwiegersohn des Istanbuler Bürgermeisters Kadir Topbas und Vorstandsvorsitzender der Firma Aydinli, die unter anderem auf dem Immobilienmarkt tätig ist.

(dpa/avd)