Viele Münchner gedenken vor dem Olympia Einkaufszentrum mit Blumen und Kerzen den Toten. (Foto: Imago/Sebastian Widmann)
München

Massenmörder als Vorbild

Der Amokschütze von München hat seine Tat ein Jahr lang vorbereitet und dazu frühere Amokläufe genau studiert. Ähnlich wie der norwegische Massenmörder Anders Breivik verfasste er ein Manifest. Am Sonntag nahm die Polizei einen mutmaßlichen Mitwisser fest.

Der Amokläufer von München hat nach Erkenntnissen von Staatsanwaltschaft und Polizei seine Tat ein Jahr lang akribisch vorbereitet und dazu wie der norwegische Massenmörder Anders Behring Breivik ein Manifest verfasst. Einen politischen Hintergrund schließen die Ermittler weiterhin aus. Am Sonntag nahm die Polizei einen mutmaßlichen Mitwisser der Tat fest, einen 16-jährigen Freund des Täters.

Zehn Tote, 35 Verletzte

Der Amoklauf hatte am Freitagabend ganz München in Angst und Schrecken versetzt. Der 18-jährige Täter schoss in und vor einem Einkaufszentrum sowie in einem Schnellrestaurant um sich, tötete neun Menschen – überwiegend Jugendliche – und schließlich sich selbst. Drei Menschen sind noch in Lebensgefahr. Insgesamt gab es laut Landeskriminalamt 35 Verletzte. Seine Opfer, die überwiegend aus Migrantenfamilien stammen, suchte er sich nach bisherigen Erkenntnissen nicht gezielt aus.

Der Amoklauf fand am fünften Jahrestag von Breiviks Massenmord in Oslo und auf der norwegischen Insel Utøya statt, bei dem der Rechtsextremist 77 Menschen tötete. Der Täter von München informierte sich über dessen Tat und hatte in seiner Wohnung auch ein Buch mit dem Titel „Amok im Kopf – Warum Schüler töten“. Zur Vorbereitung seiner Bluttat hatte der 18-Jährige Recherchen zur Tat des norwegischen Massenmörders angestellt und ein eigenes schriftliches „Manifest“ verfasst, sagte der Präsident des bayerischen Landeskriminalamts, Robert Heimberger. Der Täter habe sich seit einem Jahr auf seine Tat vorbereitet. Er habe auch Winnenden besucht, den Ort eines früheren Amoklaufs. Dort habe er Bilder gemacht.

Täter litt unter Phobien und Depressionen

Polizei und Staatsanwaltschaft zufolge hat der Schüler unter „sozialen Phobien“ und Depressionen gelitten, war zwei Monate in stationärer, später in ambulanter Behandlung, zuletzt im Juni. In seiner Wohnung wurden auch Medikamente gefunden.

Nach Angaben der Ermittler spielte der Täter intensiv Videospiele wie „Counter-Strike“, die als gewaltverherrlichend kritisiert werden. Mit seiner Pistole gab er bei seinem Amoklauf mindestens 57 Schüsse ab. Die Waffe hat er wahrscheinlich in einem anonymen Bereich des Internets gekauft, dem sogenannten Darknet. Sie sei einst als Theaterwaffe entschärft, dann aber wieder zu einer scharfen Waffe umgebaut worden, sagte LKA-Chef Heimberger.

Mit einem Fake-Account bei Facebook habe der Täter angekündigt, dass er in einem Schnellrestaurant eine Runde spendieren werde, sagte Heimberger. „Das war wohl der Versuch, Personen dorthin einzuladen.“ Nach bisherigen Ermittlungen gehörten die Menschen, zu denen der Täter auf Facebook Kontakt hatte, aber nicht zu den späteren Todesopfern.

Möglicher Mittwisser festgenommen

Inzwischen geht die Polizei dem dringenden Verdacht nach, dass der Amokläufer von München Mitwisser hatte. Ein Sondereinsatzkommando nahm am Sonntag einen 16-jährigen Freund des Täters fest, der möglicherweise wusste, dass am Freitagabend ein Amoklauf geplant war. Gegen den Jugendlichen werde wegen Nichtanzeigens einer geplanten Straftat ermittelt.

Der 16-Jährige hatte sich bereits am Freitag unmittelbar nach dem Amoklauf mit zehn Todesopfern bei der Polizei gemeldet, weil er den Täter kannte. „Er wurde in Bezug auf seine Beziehung zum Täter vernommen“, teilte die Polizei mit. Die Ermittlungen hätten am Sonntag jedoch Widersprüche in seinen Aussagen aufgedeckt. Gegen ihn soll Haftbefehl beantragt werden.

Wie Oberstaatsanwalt Thomas Streinkraus-Koch am Montag in München mittteilte, soll sich der mutmaßliche Mitwisser kurz vor der Tat mit dem Schützen im Bereich des Tatorts getroffen haben. Dies gehe aus einer WhatsApp-Kommunikation des 16-jährigen Freundes des Amokläufers mit dem Täter hervor. Der 16-Jährige habe diesen Chat zwar zu löschen versucht, aber die Polizei habe den Verlauf der Kommunikation wiederhergestellt.

„Hass auf Menschen“

Der 16-Jährige hat den Amokläufer nach Angaben der Ermittler im vergangenen Sommer in der Psychiatrie kennengelernt. Dort sei ihm bekanntgeworden, dass der Täter vom Freitag den norwegischen Massenmörder Anders Behring Breivik verehrt habe, sagte Steinkraus-Koch. Dort habe der Amokläufer demnach auch geäußert, „er hätte einen Hass auf Menschen“. Die beiden hätten sich dort auch über Amokläufe ausgetauscht – aber nach ersten Erkenntnissen nicht mit Therapeuten oder anderen darüber gesprochen. Beide seien dort wegen einer depressiven Erkrankung in Behandlung gewesen. Beide – der 16-Jährige und der Amok-Schütze – waren nach Angaben der Ermittler zudem süchtig nach Computerspielen.

Aufgrund des wiederhergestellten Chat-Verlaufs und einer neuen Vernehmung gebe es auch die Vermutung, dass der 16-Jährige „wusste, dass der Amok-Schütze im Besitz einer Glock 17 ist“, sagte Steinkraus-Koch. Deshalb – wegen der Anwesenheit am Tatort und einer möglichen Kenntnis von der Waffe – gehen die Ermittler davon aus, „dass er etwas von der Tat gewusst haben könnte“. Zum Tatzeitpunkt selbst war der 16-Jährige demnach aber nicht mehr in der Nähe des Olympia-Einkaufszentrums. Er soll von einem Freund von dem Amoklauf mit neun Todesopfern erfahren und sich dann gegen 21.30 Uhr bei der Polizei gemeldet haben.

Die Ermittler prüfen außerdem, ob der Jugendliche auch für einen Facebook- Aufruf zu einem Treffen am Sonntag in einem Kino in der Nähe des Münchner Hauptbahnhofs verantwortlich ist. Dieser Aufruf hatte ein ähnliches Muster wie der Facebook-Aufruf des 18-jährigen Amokläufers, der über das soziale Netzwerk eine Einladung in ein Schnellrestaurant verschickt hatte, wo er dann den Amoklauf startete. Bei der Überprüfung des Kinos ergaben sich am Sonntag keine Auffälligkeiten.

Herrmann fordert Bundeswehr-Einsätze bei „extremer Bedrohung“

Die Bluttat löste am Wochenende eine Debatte über die Verschärfung von Sicherheitsmaßnahmen aus. Unions-Politiker forderten mehr Videoüberwachung, die Stärkung der Sicherheitsbehörden und die Hilfe der Bundeswehr bei Terroranschlägen. Auch schärfere Waffengesetze und Maßnahmen gegen Gewaltverherrlichung in Computerspielen sind wieder im Gespräch.

Bayerns Innenminister Joachim Herrmann (CSU) sprach sich für Bundeswehr-Einsätze bei besonderen Terrorlagen aus. Dem Bayernkurier sagte Herrmann: „Die Bundeswehr muss, wohlgemerkt immer unter Federführung der Länder, die für die innere Sicherheit zuständig sind, in Fällen akuter, extremer Bedrohung auch im Inneren zum Schutz der Bürger eingesetzt werden können. Genauso wie es in Belgien, in Frankreich und in den allermeisten europäischen Ländern selbstverständlich ist.“

Während des Amoklaufs wurden Feldjäger – quasi die Militärpolizei – in Bereitschaft versetzt. Bundeswehreinsätze bei Terroranschlägen im Inneren sind umstritten. Seit Jahren wird über eine Grundgesetzänderung diskutiert, um solche Einsätze zu erleichtern. Union und SPD haben sich im neuen Weißbuch zur Sicherheitspolitik auf den Kompromiss verständigt, dass die Bundeswehr bei größeren Anschlägen auch ohne Grundgesetzänderung eingesetzt werden kann.

Diskussion über schärfere Waffengesetze

In den Blick rückten auch die Waffengesetze. De Maizière sagte der Bild am Sonntag, man müsse sehr sorgfältig prüfen, ob und gegebenenfalls wo es noch gesetzlichen Handlungsbedarf gibt. Auch Vizekanzler Sigmar Gabriel (SPD) betonte im Gespräch mit den Zeitungen der Funke Mediengruppe: „Wir müssen weiter alles tun, um den Zugang zu tödlichen Waffen zu begrenzen und streng zu kontrollieren.“

De Maizière machte zudem deutlich, dass er gegen das „unerträgliche Ausmaß“ von Gewaltverherrlichung in Computerspielen etwas tun wolle.

Der Amoklauf hat weltweit für Entsetzen und Anteilnahme ausgelöst. In der französischen Hauptstadt Paris erstrahlte der Eiffelturm am Samstagabend in Gedenken an die Opfer in Schwarz-Rot-Gold. Papst Franziskus reagierte bestürzt, bekundete den Hinterbliebenen in einem Telegramm an den Münchner Erzbischof Kardinal Reinhard Marx seine Anteilnahme und dankte den Sicherheitskräften.

Bundeskanzlerin Angela Merkel sprach von einer Nacht des Schreckens. „So ein Abend, so eine Nacht sind schwer zu ertragen“, sagte die CDU-Chefin am Samstag. Das sei umso mehr der Fall, weil viele Schreckensnachrichten in ganz wenigen Tagen zusammengekommen seien – der Anschlag in Nizza, der Axt-Angriff in Würzburg und nun „die Morde in München“.

Großes Lob für Polizei und Rettungskräfte

Ausdrücklich lobte Merkel die Einsatzkräfte für ihre „hoch professionelle“ Arbeit. „Sie waren und sind im besten Sinne Helfer und Beschützer der Bürgerinnen und Bürger“, sagte Merkel in Berlin. Die Zusammenarbeit der Behörden Bayerns und des Bundes habe bestens funktioniert. Ähnlich hatte sich auch Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer geäußert. Auch er dankte Einsatzkräften der Polizei und der Rettungsdienste für ihren schnellen und professionellen Einsatz.

(mit Material von dpa)