Moskau: Die Christ-Erlöser-Kathedrale und der Kreml. Bild: Imago/Konstantin Kokoshkin/Russian Look
Russland

Wahlen in Zeiten der Krise

Im September wird in Russland ein neues Parlament gewählt. Für den Kreml geht es darum, trotz der andauernden Wirtschaftsflaute die Kontrolle über das Land zu behalten. Der Westen muss versuchen, über Kooperationen das Verhältnis mit Moskau zu normalisieren. Eine Analyse von Markus Ehm, Leiter der Verbindungsstelle Moskau der Hanns-Seidel-Stiftung.

Russland steht vor den Staatsdumawahlen im September. Der Kreml verfolgt das Ziel, die politische Lage zu kontrollieren.

1. Wirtschaftskrise

Den innenpolitischen Rahmen setzt die Wirtschaftskrise, die das Land stark trifft:

  • Das Bruttoinlandsprodukt befindet sich auf dem Stand von 2008. Der Zuwachs der Aufschwungjahre 2010 bis 2013 wurde aufgezehrt.
  • Die ausländischen Direktinvestitionen reduzierten sich 2015 im Vergleich zu 2014 um 90 Prozent. Auch die Inlandsinvestitionen gingen stark zurück.

Für die Menschen bedeutet dies

  • Für 70 Prozent der Bevölkerung hat sich der Lebensstandard 2015 gesenkt.
  • 2015 betrug die Inflation fast 16 Prozent. Die Realeinkommen sanken um 10 Prozent.
  •  Die Arbeitslosigkeit verharrt bei 6,5 Prozent, da russische Unternehmen Kündigungen hinauszögern und anstatt dessen rechtmäßig die Arbeitszeit stark reduzieren oder Gehälter kürzen.

Die Wirtschaftskrise beruht hauptsächlich auf dem niedrigen Ölpreis. Solange dieser nicht bedeutend steigt, hat dies zwei Folgen:

  • Erstens: Russland importiert weniger oder billigere Waren, weil es ihm an Devisen mangelt. Denn zunächst benötigt Russland die Deviseneinnahmen aus den Rohstoffgeschäften, damit der Staat und die Staatsunternehmen Auslandsschulden tilgen können.
  •  Zweitens: Der Rubelkurs wird weiterhin stark schwanken. Russland muss bei einem niedrigen Ölpreis seine Währung abwerten, da der Staatshaushalt zur Hälfte aus Rohstoffexporten gespeist wird. Je mehr Rubel für einen US-Dollar bezahlt werden, desto besser für den Staatshaushalt.

Die Sanktionen verstärken die Krise. Aufgrund der Finanzsanktionen bekommt Russland auf den internationalen Finanzmärkten keine zinsgünstigen Darlehen mehr. Verbraucher und Unternehmen müssen deshalb Zinsen in der Höhe von 25 Prozent bezahlen. Dies hemmt die Wirtschaft. Investitionen nehmen stark ab.

2. Reaktion des Staates

Der Kreml reduzierte die Staatsausgaben um 10 Prozent. Sogar die Armee muss mit weniger Geld auskommen. Über Privatisierungen zur Steigerung der Einnahmen wird diskutiert. Steuererhöhungen sind kein Thema. Der Kreml hat die Auswirkungen der Krise bis dato im Griff. Weitreichende Reformen zur Herstellung von Konkurrenz oder Gewährleistung eines gerichtlich durchsetzbaren Eigentumsschutzes unterbleiben. Solche Maßnahmen sind sowohl in der Elite als auch in der Bevölkerung unpopulär.

Zahlreicher sind Stimmen, die für eine Abschottung und Bevorzugung russischer Unternehmen werben. Solche Positionen passen zur patriotischen Rhetorik des Kremls und der Politik der Importsubstitution. Ausländische Unternehmen berichten zunehmend von staatlichen Barrieren. Konkurrenz wird unterbunden. Die Qualität leidet.

Politisch einflussreiche Gruppen sichern sich ihr Stück am Kuchen, der wegen des niedrigen Ölpreises bereits bedeutend kleiner wurde. Deshalb verschärft sich der Verteilungskampf innerhalb der Elite, bei dem es auf die politischen Kontakte ankommt. Denn bei einer Staatsquote von 70 Prozent ist der Staat an allen geschäftlichen Vereinbarungen maßgeblich beteiligt. Korruptions- und andere Strafverfahren werden zunehmen, weil damit Rivalen ausgeschaltet werden.

3. Haltung in der Bevölkerung

Die Mehrheit spart. Viele greifen auf eigene Lebensmittel von der Datscha zurück. Eine Versorgungskrise gibt es nicht. Die Renten werden zuverlässig ausbezahlt. Massenentlassungen und Fabrikschließungen finden nicht statt. Die Staatsanwaltschaft kontrolliert die pünktliche Auszahlung der Gehälter, die legal gekürzt werden. Proteste verharren auf lokaler Ebene.

Die Forderung nach politischen Konsequenzen wird bislang nicht erhoben. Dies hat unterschiedliche Gründe:

  • Über zwei Drittel der Bevölkerung verorten die Ursachen der Krise außerhalb des Landes. Verantwortlich für die Misere sind demnach der Ölpreis und die westlichen Sanktionen. Und für einen höheren Ölpreis kann man nicht auf die Straße gehen.
  • Der Staat hat die föderalen Fernsehkanäle unter Kontrolle. Diese stellen keine Zusammenhänge zwischen der russischen Politik und der schlechten Wirtschaftslage her.
  • Manche haben Angst vor Repression.
  • Andere sind unpolitisch.

Daneben spielt die Mentalität eine große Rolle:

  • Ein stark ausgeprägtes Hierarchiedenken der Menschen stabilisiert Staat und Gesellschaft. Der Normalbürger gesteht hochrangigen Beamten und Politikern ein luxuriöses Leben zu. Falls dieser Bürger überhaupt eine Änderung herbeiwünscht, so diejenige, selbst ein Beamter zu werden und entsprechend zu profitieren.
  • Der Kreml nutzt diese Mentalität, indem er auf den informellen Sektor keinen übermäßigen Druck ausübt. So schafft die persönliche Lebenssituation für jeden eine gewisse Freiheit, im Rahmen seiner Möglichkeiten Geld zu verdienen. Oben geht es um Milliarden, unten verkauft eine Großmutter am Wahltag rechtswidrig ihre Stimme für 500 Rubel (ca. 7 Euro), weil sie das Geld braucht. Würde der Staat bei den „kleinen“ Fällen das Recht stets durchsetzen, würde die Mehrheit dies als große Ungerechtigkeit empfinden und wäre empört.

So seltsam es auch klingen mag: Korruption und der informelle Sektor stabilisieren bis zu einem gewissen Grad das System! Trotzdem hat der Kreml Angst vor der Bevölkerung. Die Furcht fußt auf einer Kombination von zwei Faktoren:

  • Erstens: Beamte und Politiker übertreiben die Bereicherung maßlos.
  • Zweitens: Der Staat kann die soziale Grundsicherung nicht mehr bereitstellen.

Der Kreml hat keine Angst davor, dass sich die breite Bevölkerung organisiert und politisch engagiert. Eine solche Entwicklung würde gegenseitiges Vertrauen unter den Akteuren voraussetzen. Aber daran mangelt es in Russland. Über Familie und Freunde hinaus fasst man kaum Vertrauen zueinander. Der Kreml fürchtet heftige Gewalt im Zuge von spontanen Aufständen der Massen, die sich zum Beispiel über soziale Ungerechtigkeiten empören. Deshalb setzt die Staatsführung alles daran:

  • Erstens: Beamte und Politiker hin und wieder öffentlich zu disziplinieren, die Informationskanäle zu kontrollieren, das Volk abzulenken oder abzuschrecken.
  • Zweitens: der Bevölkerung zuverlässig eine soziale Grundsicherung zu bieten.

Solange letzteres gewährleistet ist, kann sich die Elite viel erlauben und von der hohen Staatsquote persönlich profitieren. Informationen wie solche über die sog. „panama papers“ bestätigen den Menschen lediglich nur das, was sie ohnehin schon immer geahnt haben, falls diese Meldungen sie überhaupt erreichen. Denn vorsichtshalber interpretiert der Kreml diese Informationen über seine gesteuerten Medien in seinem Sinne um. Trotzdem gilt: Die öffentliche Meinung ist die Achillesferse der westlichen Politik, aber nicht von Wladimir Putin.

Ausblick

Der Kreml wird sich die Mehrheit sichern und setzt dafür unterschiedliche Maßnahmen ein. Der Wahltag wurde vom Dezember auf Anfang September vorverlegt. Dies erschwert alternativen Kräften den Zugang zum Wähler. Im August werden sich nämlich Millionen von Wählern auf ihren Datschen auf dem Land befinden. Sollte sich die soziale Situation wesentlich verschlechtern, so würde dies den Kommunisten Auftrieb geben. Ein breites Bündnis westlich orientierter Kräfte steht nicht zu erwarten. Zu viele Grabenkämpfe gab es in der Vergangenheit. Zudem gibt es inhaltliche Differenzen, die auch die Annexion der Krim betreffen.

Die Parole „Russland ohne Putin“ verspricht keinen Erfolg. Putin ist der populärste Politiker des Landes. Während seiner Amtszeit steigerte sich der Lebensstandard bedeutend, und das Land ist auf dem Weg, nach dem Zusammenbruch der UdSSR wieder zu internationaler Größe zurückzufinden. Der Mehrheit gefällt dies. Putin setzt positive Zielvorgaben und verordnet soziale Wohltaten. Wird die Politik nicht umgesetzt, so heißt es, liege dies an dilettantischen Beamten vor Ort. So war es unter den Zaren. So war es unter Stalin. Oder wie es der englische Russlandexperte Orlando Figes ausdrückt: „In Russland kann sich in fünf Jahren alles ändern, aber in 200 Jahren bleibt alles gleich.“

Russland ist ein Rätsel innerhalb eines Mysteriums, umgeben von einem Geheimnis.

Winston Churchill

Zur dieser Kontinuität gehört, dass das Staatsoberhaupt populär sein muss. Der Präsident braucht die Beliebtheit bei der Bevölkerung und muss Stärke zeigen, damit ihn die Elite als ersten Mann und Schiedsrichter bei internen Kämpfen akzeptiert. Eine westliche Demokratie funktioniert anders, und so gilt auch heute noch, was Winston Churchill einst gesagt hat: „Russland ist ein Rätsel innerhalb eines Mysteriums, umgeben von einem Geheimnis.“

Ist Russland ein durch und durch irrationaler Partner?

5. Außenpolitik

In der Außenpolitik verfolgt Moskau klare strategische Interessen:

  • Russland sieht sich in einer Abwehrhaltung und wird alles daran setzen, den NATO-Beitritt der Ukraine und den Aufbau des US-Raketenabwehrsystems in Europa zu verhindern. Moskau kämpft um seinen strategischen Vorhof.
  • Russland will international ernst genommen werden. Kein Kremlchef kann es sich erlauben, in Fragen der Weltpolitik zurückzustecken. Dies hat nichts mit der Person Putin zu tun.

Momentan befinden wir uns in einer gefährlichen Aufrüstungsspirale mit Eskalationspotential. Der Westen und Russland brauchen deshalb neben der Fortsetzung des Dialogs gemeinsame Vorhaben:

  • Eine Wiederbelebung der Rüstungskontrolle könnte Vertrauen bilden.
  • Terroristen sind der gemeinsame Feind. In Afghanistan hat die Zusammenarbeit funktioniert.
  • Beim politischen Prozess in Syrien bedarf es noch stärkerer diplomatischer Bemühungen zur Überwindung der bestehenden Interessengegensätze.  .
  • Der Minsk-Prozess tritt auf der Stelle. Der Waffenstillstand wird laufend von beiden Seiten verletzt. Eventuell kann Moskau der Ukraine entgegen kommen. Eigentlich müsste Kiew die Verfassung ändern, und erst dann müssten die Separatisten die Kontrolle der Grenze zu Russland der Ukraine überlassen. Vielleicht lässt sich dieser Schritt teilweise vorziehen, um Pjotr Poroschenko innenpolitisch zu stärken.

Folgende große Linien erscheinen dem Verfasser als wesentlich:

  • Der Westen sollte anerkennen, dass wesentliche Probleme der Weltpolitik nicht ohne Russland gelöst werden können. Kooperationen haben dann eine Chance auf Erfolg, wenn es um abgrenzbare Sachfragen geht.

Angela Merkel handelte richtig, als sie sich 2008 gegen einen NATO-Beitritt für Kiew stemmte. Die NATO hätte damit eine rote Linie überschritten und Russland derart provoziert, dass die Konsequenzen unabsehbar geworden wären. Aus russischer Sicht geht selbst die zugesagte Einladung, deren Zeitpunkt offen gelassen wurde, noch viel zu weit. Die Annexion der Krim bleibt inakzeptabel. Die Halbinsel darf kein Tauschobjekt sein.

  • Russland wird einsehen müssen, dass seine Politik in der Ukraine zu einer Revitalisierung der NATO geführt hat. In der Allianz geht es wieder um die Bündnisverteidigung.

Moskau hat mit seiner Ukraine-Politik seine engsten Verbündeten in Minsk und Astana verschreckt. Die fehlende geschichtliche Aufarbeitung der Unterdrückung Osteuropas nach 1945 hemmt die Zusammenarbeit. Moskau wird ein schwieriger Partner bleiben. Absolut notwendig bleibt der Dialog. Ein Ignorieren schadet solchen Kräften, die dem Westen nahe stehen. Denn die Falken ziehen bereits heute zunehmend eine Mauer um die – aus ihrer Sicht – belagerte Festung Russland. Es bedarf strategischer Geduld.