Geschichtsvergessenheit? "Die DDR hat's nie gegeben" - Schriftzug an einer Mauer am abgeräumten Schlossplatz in Berlin. (Bild: Imago/Reiner Zensen)
SED-Gründung 1946

Verklärt und vergessen

Am Donnerstag vor 70 Jahren, am 21. April 1946, wurde in Berlin die SED gegründet, die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands. Die Zwangsvereinigung von KPD und SPD ist Anlass, einen Blick auf die Bewältigung der DDR-Vergangenheit zu werfen. Die Linkspartei jedenfalls lässt erkennen, dass ihre offiziell geäußerten Entschuldigungen nichts als Heuchelei sind. Eine schwer verträgliche Bilanz.

1989/90, als die DDR endlich beerdigt wurde, löste sich die SED nicht etwa auf oder wurde gar verboten wie 1945 die NSDAP. Nein, sie wurde von findigen Ewiggestrigen einfach umbenannt in Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS). Einige Jahre später wurde daraus „die Linke“. Deren Bundesgeschäftsführer Matthias Höhn erklärte jetzt zum Jahrestag in einer Pressemitteilung:

Der Zusammenschluss von KPD und SPD war zunächst für viele Mitglieder eine Lehre aus der jahrzehntelangen Spaltung der Arbeiterbewegung und wurde auch mit dem gemeinsamen Widerstand von Mitgliedern der SPD und KPD gegen den Nationalsozialismus begründet. Der Zusammenschluss war andererseits mit politischem Druck verbunden und ging auch mit Zwang einher. Vor allem Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten, welche ihm Widerstand entgegensetzten, waren Repressionen ausgesetzt. Heute – 70 Jahre danach – gedenken wir all jener, die unter diesem Vereinigungsprozess gelitten haben und Verfolgung ausgesetzt waren.

Nun, „politischer Druck“, „Zwang“ und „Repressionen“ geben nur ungenau wieder, was Sozialdemokraten alles erleiden mussten. Die erzwungene Fusion im Osten Deutschlands war eine überaus blutige und brutale Aktion. SPD-Mitglieder, die sich gegen die Zwangsvereinigung wehrten, wurden offen bedroht, inhaftiert, gefoltert oder gleich in den russischen Gulag abtransportiert – und oft genug ermordet. Nach Schätzungen sind rund 20.000 Sozialdemokraten dem kommunistischen Terror zum Opfer gefallen. Das Schlimmste für viele Genossen war aber, dass sie manchmal genau in den ehemaligen NS-Konzentrationslagern landeten, in denen sie bereits unter dem Hitler-Regime eingekerkert waren. Die Lager wurden von den Sowjets und später der DDR einfach übernommen.

Verklärungsversuche

Weiter (v)erklärte die Linke:

Der Parteivorstand der PDS erklärte im Jahr 2001: ‚Die Vereinigung von KPD und SPD in der Sowjetischen Besatzungszone war einerseits der ernst gemeinte Versuch vieler überzeugter Sozialdemokraten und Kommunisten, durch die Vereinigung die Ursachen der Niederlagen von 1914, 1918 und 1933 zu überwinden. Andererseits war es von Seiten entscheidender Funktionäre der KPD und der Stalinschen Führung in der Sowjetunion ein Schritt, um die Sozialdemokratie zu instrumentalisieren, sie sich unterzuordnen und letztlich als eigenständige Kraft zu beseitigen.‘

Der Versuch vieler Sozialdemokraten? So steht auch im Programm der Linkspartei im Kapitel eins „Woher wir kommen, wer wir sind“ folgender Satz: „Die große Mehrheit der Mitglieder von KPD und SPD waren für diesen notwendigen Zusammenschluss.“ Die Linke vergisst dabei gerne, dass die SPD 1946 in West-Berlin in einer Urabstimmung mit mehr als 80 Prozent die Vereinigung mit der KPD ablehnte. Im Osten wäre das vermutlich nicht viel anders ausgefallen, aber die Sowjets verhinderten die Abstimmung dort. Die Gegnerschaft von KPD und SPD schon in Weimarer Zeiten hatte ja durchaus gute Gründe: Die SPD stand auf dem Boden der Demokratie, die KPD dagegen war für die Weltrevolution mit allen gewalttätigen und furchtbaren Konsequenzen. Wie die NSDAP hat auch die KPD die Weimarer Demokratie dauerhaft und hart bekämpft, weil ihr Ziel in der Praxis eine kommunistische Diktatur war.

Hohle Entschuldigungen

Auch die Bitte um Verzeihung an alle SED-Opfer wird im Linken-Statement wiederholt. Sie wirkt wie schon 2001 unglaubwürdig, da in der Linkspartei nach wie vor zahlreiche ehemalige Stasi-Spitzel und SED-Funktionäre bis in hohe Parteiämter und Parlamente tätig sind.

Dazu kommen viele Mitglieder, die die DDR nach wie vor verklären, verteidigen und glorifizieren. Viele weigern sich mit juristischen Spitzfindigkeiten, wie etwa der langjährige Linken-Frontmann Gregor Gysi, die DDR als „Unrechtsstaat“ zu bezeichnen. Dabei kann es daran nun wirklich keinen Zweifel geben.

So folgt ganz am Ende der Linken-Pressemitteilung zum SED-Gründungsjubiläum natürlich wieder die altbekannte Relativierung der DDR-Verbrechen, die man schon nach dem Naziregime in ähnlicher Weise gehört hatte („Unter Hitler war nicht alles schlecht“):

Die Geschichte der DDR, auch die der SED, jedoch auf Stalinismus und Repression zu verkürzen, wäre unhistorisch und soll den aufrichtigen Wunsch vieler Menschen nach dem Ende des nationalsozialistischen Terrors, am Aufbau einer besseren Gesellschaftsordnung und einem friedliebenden, antifaschistischen Deutschland mitzuwirken, delegitimieren. Diesem Geschichtsbild widersprechen wir.

Besagter Gregor Gysi schrieb anlässlich des Jubiläums nun im „Tagesspiegel“ einen verharmlosenden Artikel zur SED-Gründung vor 70 Jahren, wie schon der Titel preisgibt: „Die Lehre aus der Spaltung? Vereint gegen Rechts!“ Darin führt er aus:

(…) und so entschied sich die KPD-Führung unter Mithilfe der Führung der sowjetischen Besatzungsmacht für einen Kurswechsel und forderte die Vereinigung beider Parteien. Nun aber war die SPD-Führung dagegen. Otto Grotewohl, der Chef der SPD im Osten, äußerte sich strikt dagegen und änderte seine Meinung nach einem Moskau-Besuch, wodurch auch immer.

Wodurch auch immer? Nun, laut einigen seiner Mitstreiter wie Egon Bahr war Grotewohl völlig verwandelt, kurz nachdem er in die Sowjetische Militäradministration nach Karlshorst bei Berlin einbestellt worden war. Sie mutmaßten, Grotewohl sei durch ein Ereignis in seiner Vergangenheit erpressbar gewesen und habe deshalb seine Meinung geändert. Vielleicht aber hat man ihm oder seiner Familie auch schlicht mit einem Besuch in Sibirien gedroht, wenn er nicht zustimmt. Ein harmloses „wodurch auch immer“ wird dem nicht gerecht.

Die Zahl der DDR-Opfer

Ansgar Borbe kam 2010 in seinem Buch „Die Zahl der Opfer des SED-Regimes“ (Landeszentrale für politische Bildung Thüringen) in 40 Jahren Diktatur auf mindestens 3,5 bis maximal 5,8 Millionen Opfer mit mindestens 1722 bis maximal 54.523 Toten sowie mindestens 42.700 bis maximal 343.000 körperlich-psychisch Versehrten – je nach Opfereinteilung. Er rechnet dabei nicht nur die „Republikflucht“-Fälle an der DDR-Grenze sowie die hunderttausenden Inhaftierten (inklusive Folter, Gewalt, Drohungen und sonstigen Erlebnissen im Gefängnis) ein, sondern auch die Opfer politischer Morde, die Umgesiedelten, die Ausgewiesenen, die Entführten und Verschleppten, die „unsozialistischen“ Müttern gestohlenen und zwangsadoptierten Kinder, die „sanft“ zur Scheidung gedrängten Häftlingsehefrauen, die in die Psychiatrie Zwangseingewiesenen, die zwangsweise in einem Kinder- oder Jugendheim Untergebrachten, die Zwangsarbeiter, die Dopingopfer, die Enteigneten, die materiell und immateriell Geschädigten, die Drangsalierten („Zersetzungsmaßnahmen“), die vorsätzlich in Beruf und Bildung Benachteiligten, die Bespitzelten und die legal Ausgereisten dazu.

Rehabilitierung und Entschädigung

Mehr als 25 Jahre nach dem Mauerfall streiten ehemals politisch Verfolgte noch immer um einen angemessenen Umgang mit den Folgeschäden der SED-Diktatur. Mit den SED-Unrechtsbereinigungsgesetzen wurde der erste Schritt zur Aufarbeitung vollzogen. Dennoch üben zahlreiche Opferverbände Kritik an zu geringen Rentenzahlungen, Defiziten in den Anerkennungsverfahren von haft- und verfolgungsbedingten Gesundheitsschäden sowie an gesellschaftlichen Verharmlosungstendenzen und fordern Nachbesserungen. SED-Opfer sollen nach dem Willen von Fachleuten über das Jahr 2019 hinaus einen Antrag auf Rehabilitierung stellen können. Das ist die Kernforderung einer Tagung der Landesbeauftragten für die Stasiunterlagen und der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, die aktuell in Rostock stattfand. Dies forderte 2014 auch der Rechtsausschuss des Bundestages. Laut Gesetz endet die Meldefrist für Betroffene in drei Jahren. Die Bewältigung von Verfolgungsgeschichten lasse sich nicht in Gesetzesfristen pressen, sagte dazu die Landesbeauftragte Mecklenburg-Vorpommerns, Anne Drescher.

Opfer von SED-Unrecht haben einen Anspruch auf Rehabilitierung (strafrechtlich und verwaltungsrechtlich, beispielsweise bei Renten) und Entschädigung nach den SED-Unrechtsbereinigungsgesetzen. Die Ansprüche wurden auch immer wieder erhöht: So stieg die monatliche besondere Zuwendung für Haftopfer von 50 Euro auf 300 Euro, die monatliche Ausgleichsleistung für politische Verfolgte, die berufliche Nachteile erfahren mussten, von 184 Euro auf 214 Euro. Auch die Voraussetzungen für Entschädigungen und Opferrenten wurden verbessert, insbesondere weitgehend vom heutigen Einkommen unabhängig gemacht. Die Mindesthaftdauer bei rechtswidrig Eingesperrten wurde auf 180 Tage festgelegt. Mit Unterstützung des Auswärtigen Amts haben beispielsweise bis heute rund 13.500 Deutsche, die im Machtbereich der ehemaligen Sowjetunion zu Unrecht aus politischen Gründen verurteilt worden waren, eine Aufhebung der Urteile und Rehabilitierung durch die russischen Behörden erreicht.

Die Aufarbeitung

Aktuell gibt es Streit um die Zukunft der Stasi-Unterlagenbehörde (der Bayernkurier berichtete). Nach dem Papier einer Expertenkommission, das der Nachrichtenagentur dpa vorlag, soll die Behörde in der jetzigen Form nicht weiterbestehen. Die Stasi-Akten sollten in das Bundesarchiv überführt sowie eine Stiftung „Diktatur und Widerstand. Forum für Demokratie und Menschenrechte“ gegründet werden. Installiert werden soll demnach auch ein Bundesbeauftragter für die Auseinandersetzung mit der SED-Diktatur und ihren Folgen. Die Akten in den zwölf ostdeutschen Außenstellen der Behörde sollten an einem Ort pro Bundesland zusammengefasst werden. Die Kommission hatte auch vorgeschlagen, auf dem Areal des früheren Stasi-Ministeriums eine Stiftung zu gründen, in die auch die Stasiopfer-Gedenkstätte Hohenschönhausen überführt werden solle. Empfohlen wird ferner die Gründung einer „Forschungsstelle DDR-Staatssicherheit in vergleichender Perspektive“.

Da gibt es Gruppen, die auch künftig Fürsprecher brauchen – wie etwa in der DDR zwangsadoptierte Kinder.

Roland Jahn, Bundesbeauftragter für die Stasi-Unterlagen

„Es geht bei der Aufarbeitung darum, wegzukommen von der Fixierung auf die Staatssicherheit“, sagte jetzt der Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen, Roland Jahn, in Bezug auf diese Pläne. Mit den Empfehlungen der Kommission könnte der Horizont erweitert und künftig die gesamte DDR-Gesellschaft in den Blick genommen werden. Ein künftiger Bundesbeauftragter könnte sich verstärkt um Belange von Opfern kümmern, sagte Jahn. Laut Kommission soll der Beauftragte „neuen Typs“ Bundestag und Bundesregierung beraten und Ombudsmann für SED-Opfer sein. „Da gibt es Gruppen, die auch künftig Fürsprecher brauchen – wie etwa in der DDR zwangsadoptierte Kinder“, so Jahn.

Die unbefriedigende Strafverfolgung

Schwer zu ertragen sind die Zahlen der Strafverfolger: Gegen mehr als 100.000 Personen wurden wegen in der DDR begangenen Unrechts Ermittlungen angestrengt, in rund 70 Prozent wegen Rechtsbeugung. Nur gegen rund 1700 Personen wurde Anklage erhoben oder ein Strafbefehl gestellt. 24 Prozent davon wurden freigesprochen. Von den Abgeurteilten wurden 24 Prozent wegen Rechtsbeugung und 37 Prozent wegen Gewalttaten an der Grenze verurteilt. Gegen einfache Grenzsoldaten wurden wegen vorsätzlichen Tötungen fast ausschließlich Bewährungsstrafen verhängt. Für 40 Jahre kommunistischer Diktatur wurden am Ende gerade einmal 46 Haftstrafen ohne Bewährung verhängt, keine davon länger als 10 Jahre. Von den obersten SED-Zirkeln wurden nur wenige verurteilt, darunter Stasi-Chef Erich Mielke – der aber nur wegen eines in der Weimarer Republik verübten Polizistenmordes. Der Prozess gegen Staats- und Parteichef Erich Honecker ab 1992 wurde wegen dessen zu erwartender Verhandlungsunfähigkeit aufgrund seines Leberkrebses Anfang 1993 aus gesundheitlichen Gründen eingestellt. Ihm wurde die Rechtsstaatlichkeit und Menschlichkeit gewährt, die er selbst und seine Schergen hunderttausenden DDR-Bürgern versagt hatten. Seine Strafe jedoch hat er erhalten: Den Untergang seines monströsen Regimes. Im April 1993 äußerte er sich im chilenischen Exil verbittert und unverbesserlich so:

Sozialismus ist das Gegenteil von dem, was wir jetzt in Deutschland haben. Sodass ich sagen möchte, dass unsere schönen Erinnerungen an die DDR viel aussagen von dem Entwurf einer neuen, gerechten Gesellschaft. Und dieser Sache wollen wir für immer treu bleiben.

Honecker starb Ende Mai 1994. Das letzte halbe Jahr musste er durch Infusionen ernährt werden.

Das letzte Verfahren wegen DDR-Unrecht wurde 2005 beendet.