Fingerzeig des europäischen Architekten
Was für ein politisches Zeichen: Als erste öffentliche Aktion nach langer Krankheit kritisiert Altbundeskanzler Helmut Kohl „einsame Entscheidungen und Alleingänge in Europa“. Am 19. April will er Ungarns Ministerpräsidenten Viktor Orban empfangen, den prominentesten Kritiker der grenzenlosen Migrationspolitik von Bundeskanzlerin Angela Merkel. Helmut Kohl hat Angst um Europa.
Orban trifft Kohl

Fingerzeig des europäischen Architekten

Was für ein politisches Zeichen: Als erste öffentliche Aktion nach langer Krankheit kritisiert Altbundeskanzler Helmut Kohl „einsame Entscheidungen und Alleingänge in Europa“. Am 19. April will er Ungarns Ministerpräsidenten Viktor Orban empfangen, den prominentesten Kritiker der grenzenlosen Migrationspolitik von Bundeskanzlerin Angela Merkel. Helmut Kohl hat Angst um Europa.

Altbundeskanzler Helmut Kohl äußert sich zu Fragen der Tagespolitik fast gar nicht mehr. Das ist guter Stil eines großen und erfahrenen Politikers, der weiß, was sich politisch gehört und was nicht – und genau darum seinen Nachfolgern auch nicht mit ungebetenen Ratschlägen und Kommentaren das Leben schwer machen wollte und will. Umso schmerzhafter dröhnt nun aus Ludwigshafen-Oggersheim die Ohrfeige für die Flüchtlingspolitik von Bundeskanzlerin Angela Merkel. Denn um nichts anderes handelt es sich.

Altbundeskanzler Helmut Kohl verteidigt und schätzt Ungarns Premierminister Viktor Orban.

Von einem Besuch bei Kohl, der am 3. April seinen 86. Geburtstag beging, brachte BILD-Herausgeber Kai Diekmann die Nachricht mit zurück, dass der Altbundeskanzler demnächst Ungarns Ministerpräsidenten Viktor Orban in seinem Oggersheimer Privathaus als Besucher empfangen wird. Kohls Büro hat das prompt bestätigt. Und es gibt auch schon einen Termin: den 19. April. Orban ist wohl der prononcierteste Kritiker der grenzenlosen Migrantenpolitik von Bundeskanzlerin Merkel. Seit dem vergangenen Sommer hat er dabei nie ein Blatt vor den Mund genommen und Merkels Politik der sperrangelweiten Tore vor, während und nach jedem EU-Krisengipfel scharf kritisiert. Sein massiver Zaun an Ungarns Grenzen, der seit vergangenem Herbst Migranten erfolgreich aus Ungarn fernhält, war das Vorbild für die Sperrung der Balkanroute. Pikant: Diekmann brachte aus Oggersheim auch die Botschaft mit, dass der Altbundeskanzler Viktor Orban „stets und gegen mancherlei Kritik als Europäer mit Herzblut verteidigt und schätzt“. Kohl hat kürzlich auch den kroatischen Außenminister Miro Kovac empfangen. Auch der Kroate, der übrigens perfekt Deutsch spricht, hat Stellung gegen Merkels Politik bezogen und zusammen mit Budapest und Wien die Schließung der Balkanroute durchgezogen − gegen den Widerstand Berlins.

Fast Kohls erste öffentliche Aktion seit der Genesung: Ein Gespräch mit Viktor Orban. Was für ein Zeichen.

Man muss sich alle Umstände dessen, was da passiert, vor Augen halten: Fast die Hälfte des vergangenen Jahres wurde Bundeskanzler Kohl auf Intensivstationen des Klinikums Heidelberg behandelt. Es war nicht sicher, dass er überleben würde. Seit vergangenem Oktober kommt er nun in Oggersheim langsam wieder zu Kräften. Und trotz aller politischen Zurückhaltung ist ausgerechnet dies nun fast seine erste öffentliche Aktion: Ein Besuch von und ein Gespräch mit Viktor Orban. Was für ein politisches Zeichen.

Offener Widerstand gegen Angela Merkels Politik

Orban selber hat eben erst wieder Klartext gesprochen – gegen Bundeskanzlerin Angela Merkel und ihre Migrantenpolitik. „Wir haben die größte Gefahr gebannt“, erklärte er nach dem EU-Türkei-Gipfel Mitte März. Er meinte damit Brüsseler – und Berliner Pläne – künftig Zehntausende aus der Türkei kommenden syrischen Flüchtlinge nach festen und verpflichtenden Quoten über alle EU-Staaten zu verteilen. Orban unmittelbar vor dem Gipfel: „Sollte es mit den Türken eine Vereinbarung geben, dürfen darin nur solche Paragraphen vorkommen, die regeln, dass die Ansiedlung der aus der Türkei Ankommenden (Migranten in Europa) auf freiwilliger Basis und nicht auf Grund von Zwang geschieht.“ Berichten zufolge hatte Budapest mit Veto gedroht. Die Migranten brächten „Verbrechen und Terror nach Europa“, so Orban nach einem Bericht der staatlichen ungarischen Nachrichtenagentur MIT. Es gehe darum, zu verhindern, dass „Banden Jagd auf unsere Frauen und Mädchen machen“.

Bis jetzt hat niemand die Menschen in Europa gefragt, ob sie die verpflichtende Quote zur Zwangsansiedelung von Migranten haben wollen oder ob sie das ablehnen.

Viktor Orban

Orban außerdem: „Wenn wir die Völkerwanderung stoppen wollen, müssen wir vor allem Brüssel bremsen.“ Genau dazu soll in Ungarn eine Volksabstimmung über die EU-Flüchtlingskontingente dienen, die Orban Ende Februar ankündigte – zum Entsetzen der Brüsseler Elite, die ahnt, wie die Abstimmung wohl ausgehen wird. Mit einer Erklärung vor Journalisten hat der ungarische Premier dann noch eins drauf gesetzt und Brüssel undemokratisches Vorgehen vorgeworfen: „Bis jetzt hat niemand die Menschen in Europa gefragt, ob sie die verpflichtende Quote zur Zwangsansiedelung von Migranten haben wollen oder ob sie das ablehnen.“ Solche Quoten festzulegen, ohne die Bürger zu befragen, komme einem „Machtmissbrauch“ gleich so Orban.

Entschieden gegen multikulturelle Gesellschaft

Ungarn will in seinen Grenzen keine muslimischen Migranten aufnehmen, jedenfalls nicht in großer Zahl. Einige andere EU-Länder – Polen, Tschechien, Slowakei – sehen das genauso. Aber nur Orban hat es nachdrücklich begründet, sogar mehrmals und ohne jede Rücksicht auf politisch-korrekte Befindlichkeiten. „Wir sind gegen die Einwanderung“, erklärte er im Februar 2015 in einem ausführlichen Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung – noch vor der großen Migrantenkrise des vergangenen Jahres: „Es gibt Länder, die dieses Risiko eingegangen sind. Wir sind es nicht eingegangen und wollen es auch künftig nicht. Wir respektieren, dass Frankreich oder Deutschland einen anderen Weg gegangen sind, aber wir haben ein Recht darauf, dass auch unserer respektiert wird. Wir wollen keine multikulturelle Gesellschaft.“

Wir Ungarn wollen keine Parallelgesellschaften. Denn die Christen werden zahlenmäßig verlieren.

Viktor Orban

Im vergangenen September, als die Migranten-Flut am wildesten wogte, hat er es im Interview mit der Wiener Tageszeitung Die Presse noch klarer formuliert: „Wir haben studiert, was in den westeuropäischen Staaten in den vergangenen Jahren passiert ist. Trotz aufrichtiger Bemühungen westlicher Regierungen haben sich muslimische Gemeinschaften nicht integriert. Wenn eine Nation Parallelgesellschaften will, dann hat sie das Recht dazu. Wir Ungarn wollen keine Parallelgesellschaften. Denn die Christen werden zahlenmäßig verlieren. Wenn man Muslime in unseren Kontinent lässt, dann werden sie bald mehr sein als wir. Das ist eine einfache Frage der Demographie, der Mathematik und der unbegrenzten Ressourcen an Muslimen in der islamischen Welt.“ Orban weiter: „Ich spreche nicht von Religion, sondern von Kultur, Werten, Lebensstil, sexuellen Gewohnheiten, Meinungsfreiheit, Gleichheit zwischen Mann und Frau.“

Der europäische Kontinent wird von einer immer mehr anschwellenden neuzeitlichen Völkerwanderungswelle bedroht. Es findet eine ungeheuer große Bewegung von Menschen statt, mit aus europäischer Sicht uneingeschränktem Nachschub.

Viktor Orban

„Wer überrannt wird, kann niemanden aufnehmen“ – unter der Überschrift hat Orban schon Anfang September versucht, in einem prominenten Namensartikel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung die Deutschen vor einem für ganz Europa verhängnisvollen Fehler zu warnen: „Europa wird nicht von einem ‚Flüchtlingsproblem‘, nicht von der ‚Flüchtlingslage‘ in die Zange genommen. Vielmehr wird der europäische Kontinent von einer immer mehr anschwellenden neuzeitlichen Völkerwanderungswelle bedroht. Es findet eine ungeheuer große Bewegung von Menschen statt, mit aus europäischer Sicht uneingeschränktem Nachschub.“ Orban weiter: „Die Menschen wollen, dass wir Herr der Lage sind und unsere Grenzen beschützen. Der Schutz der Grenzen ist die erste und wichtigste Frage. Über jede andere Frage lohnt es sich nur dann zu sprechen, wenn die Flut aufgehalten worden ist.“

Warnung für Angela Merkel

Soweit bemerkenswerter Klartext von Viktor Orban. Altbundeskanzler Helmut Kohl kennt und weiß das natürlich alles. Und, so BILD-Herausgeber Diekmann, er „verteidigt und schätzt“ den ungarischen Premier. Was den Altbundeskanzler und Ehrenbürger Europas umtreibt, womöglich sogar erbittert, lassen zwei Sätze ahnen, die in einem Aufsatz für ein Buch stehen, dass vorliegen soll, wenn demnächst Papst Franziskus mit dem Aachener Karlspreis geehrt wird. Auch diese Kohl-Sätze hat Diekmann von seinem Besuch in Oggersheim mitgebracht. Es geht um Europa, dass große Thema des großen Europäers Helmut Kohl – und sie haben es in sich: „Einsame Entscheidungen, so begründet sie dem Einzelnen erscheinen mögen, und nationale Alleingänge müssen der Vergangenheit angehören. Sie sollten im Europa des 21. Jahrhunderts kein Mittel der Wahl mehr sein, zumal die Folgen von der europäischen Schicksalsgemeinschaft regelmäßig gemeinsam getragen werden müssen.“

Einsame Entscheidungen und nationale Alleingänge in Europa müssen der Vergangenheit angehören.

Helmut Kohl

Auch das klingt nach einer Ohrfeige – entweder für Merkels einsame Migrantenpolitik oder für die nationalen Maßnahmen von Ungarn, Österreich und anderen Ländern, die die Balkanroute schlossen. Letztere stellen aber kaum eine Gefahr für den Zusammenhalt in Europa dar, eher im Gegenteil. Man fühlt sich also doch eher erinnert an einen Kohl-Ausbruch, den vor fünf Jahren, auf einem Höhepunkt der Euro- und Griechenlandkrise das Hamburger Wochenmagazin Der Spiegel wieder gab: „Die macht mir mein Europa kaputt.“ Einsame, fast ultimative Entscheidungen stellen die europäische Konsens-Konstruktion in Frage. Erst recht, wenn sie aus Berlin kommen, der Hauptstadt des bevölkerungsreichsten und wirtschaftlich mit Abstand wichtigsten Mitgliedslandes. Und wie einsam Merkels Entscheidungen derzeit sind, wird deutlich, wenn man sich klar macht: Viktor Orban ist vielleicht Merkels ausdrücklichster und offenster Kritiker, aber keinesfalls der größte. Denn das ist Frankreichs Staatspräsident Franςois Hollande, der sich an Deutschlands grenzenloser Migrantenpolitik einfach nicht beteiligt und seinen Premier Manuel Valls kühl mitteilen lässt: Frankreich nimmt 30.000 Migranten auf, über zwei Jahre verteilt. Aber auf keinen Fall mehr. Berlins einsame Migrantenpolitik, ohne Europa und gegen Europa, hat dazu geführt, dass es das deutschfranzösische Tandem oder den deutsch-französischen Motor Europas nicht mehr gibt. Das vor allem bringt die europäische Konstruktion in Gefahr. Gut möglich, dass wir dazu demnächst von Helmut Kohl noch etwas hören werden. Vielleicht um den 19. April herum. Denn es geht um „sein Europa”.