Londons Abschied von der europäischen Vision
Das britische EU-Referendum rückt näher. Die Verhandlungen über Londons Reform-Forderungen haben begonnen. Premierminister David Cameron hat sie jetzt präsentiert: Volle Mitsprache der Nicht-Euro-Länder in allen Fragen des gemeinsamen Marktes; keine Verpflichtung auf die immer engere Union; Rücknahme alter EU-Richtlinien; Schluss mit EU-Sozialtourismus.
Großbritannien

Londons Abschied von der europäischen Vision

Das britische EU-Referendum rückt näher. Die Verhandlungen über Londons Reform-Forderungen haben begonnen. Premierminister David Cameron hat sie jetzt präsentiert: Volle Mitsprache der Nicht-Euro-Länder in allen Fragen des gemeinsamen Marktes; keine Verpflichtung auf die immer engere Union; Rücknahme alter EU-Richtlinien; Schluss mit EU-Sozialtourismus.

Das ist die symbolisch stärkste Forderung aus Premierminister David Camerons Katalog von vier EU-Reformverlangen, die er gestern vorlegte: „Die Verpflichtung im Vertrag (von Rom, 1957) auf eine immer engere Union ist keine Verpflichtung, die noch länger für Großbritannien gelten soll. Wir glauben nicht daran. Wir unterschreiben das nicht. Wir haben eine andere Vision für Europa.“ Cameron weiter: „Ich fordere von den europäischen Regierungschefs eine klare, rechtlich bindende und unumkehrbare Übereinkunft, die Großbritanniens Verpflichtung, auf eine immer engere Union hinzuarbeiten, beendet.“

Immer engere Union: Wir glauben nicht daran. Wir unterschreiben das nicht. Wir haben eine andere Vision für Europa.

Stärkere Rolle für die nationalen Parlamente

An die Stelle der Verpflichtung zur „immer engeren Union“ aus dem Gründungsdokument der heutigen EU – der Römischen Verträge vom 25. März 1957 – will Cameron eine  „Vision von Flexibilität und Zusammenarbeit“ setzen und eine „bedeutsamere Rolle für die nationalen Parlamente“. Zwar sollen nicht 28 Einzelparlamente je ein Veto-Recht erhalten, aber „Gruppen von nationalen Parlamenten“ sollen sich zusammenschließen und gemeinsam EU-Gesetze ablehnen dürfen, „die nicht ihren nationalen Interessen entsprechen“.

In manchen Hauptstädten – und vermutlich in vielen nationalen Parlamenten – darf Cameron auf Zustimmung für sein Anliegen rechnen. Auch in der Öffentlichkeit mancher Mitgliedsländer ist angesichts jahrelanger EU- und Euro-Krisen immer weniger von der „immer engeren Union“ die Rede. Aus Brüssel aber wird ihm heftiger Gegenwind entgegenschlagen: Es geht um die Zuständigkeiten der EU-Kommission und um Brüssels sinnstiftende Vision. Und der Streit um abstrakte Visionen wird meist härter ausgetragen als der Disput über konkrete Differenzen. Niemand verabschiedet sich gerne von seinen Visionen oder Illusionen – am allerwenigsten Institutionen.

Londons Reformliste: Die Verhandlungen beginnen

Mit seiner Rede im Londoner Think Tank Chatham House und einem inhaltlich entsprechenden Brief an EU-Ratspräsident Donald Tusk hat Cameron die Verhandlungen über eine britisch initiierte EU-Reform sozusagen offiziell in Gang gebracht. Schon auf dem EU-Gipfel am 17. und 18. Dezember soll ein Meinungsbild der Mitgliedsstaaten präsentiert werden. In den kommenden 24 Monaten sollen dann die britischen Forderungen ausverhandelt sein. Bis Ende 2017 will Cameron die Reformen seinen Wählern vorlegen und sie dann in einem Referendum über die britische EU-Mitgliedschaft entscheiden lassen. Das Referendum wird ein sehr eindeutiges „in-out-Referendum“ sein, hat Cameron wieder betont – ein Referendum darüber, ob Großbritannien die EU verlässt oder Mitglied bleibt.

Die Europäische Union und die Eurozone sind nicht das gleiche

Sehr viel wichtiger als die Erledigung der Vision von der „immer engeren Union“ ist jene Forderung, die Cameron denn auch an die Spitze seines kleinen Katalogs stellt: In der EU, so der Premier zutreffend, „gibt es Euro-Mitglieder und Nicht-Euro-Mitglieder“. Für London geht es nun darum, die Interessen der Nicht-Euro-Länder gegenüber einer Mehrheit von Eurozonen-Mitgliedern zu schützen – etwa wenn es um weitreichende Entscheidungen geht, die dann den gemeinsamen Markt betreffen. London will da von Anfang an gleichberechtigte Mitsprache und Mitentscheidung.

Wenn sich die EU in einen einheitlichen Währungsclub verwandelt, in dem diejenigen, die außerhalb der Einheitswährung stehen, an den Rand gedrückt und überstimmt werden, dann wäre das kein Club mehr für uns.

Cameron: „Die Europäische Union und die Eurozone sind nicht das gleiche.“ Der Premier weiter: „Alle Dinge, die alle Mitgliedstaaten betreffen, müssen auch von allen Mitgliedstaaten diskutiert und entschieden werden.“ Für die Briten sei das eine Angelegenheit von „grundsätzlicher Wichtigkeit“. Cameron: „Wenn sich die EU in einen einheitlichen Währungsclub verwandelt, in dem diejenigen, die außerhalb der Einheitswährung stehen, an den Rand gedrückt und überstimmt werden, dann wäre das kein Club mehr für uns.“ Auch dieses Londoner Anliegen klingt berechtigt und wird die Zustimmung anderer Nicht-Euro-Länder finden. Aber die EU-Kommission und die Europäische Zentralbank werden schlucken.

Alte Brüsseler Gesetze und Richtlinien entschlacken

Vergleichsweise unproblematisch ist Camerons dritte Forderung: Er will Europas Wettbewerbsfähigkeit zu erhöhen und die Bürokratie-Lasten für die Unternehmen senken. Indem Brüssel in den letzten Jahren den Ausstoß von Gesetzen und Richtlinien stark gesenkt hat, geschieht das schon. Cameron will jetzt auch die schon existierenden Gesetze und Richtlinien massiv entschlacken und reduzieren.

Abbau des EU-Sozialtourismus nach Großbritannien

Schnelle scharfe Reaktionen hat er sich dagegen schon für seinen vierten Punkt eingefangen: Abbau des EU-Sozialtourismus. Cameron will die hohe Zuwanderung aus neuen EU-Mitgliedsländern nach Großbritannien senken. Das EU-Grundrecht auf freie Niederlassung soll nicht angetastet werden. Aber zur Abschreckung soll der Zugang zum britischen Sozialstaat beschränkt werden: Nach Camerons Vorstellungen sollen EU-Bürger, die nach Großbritannien kommen um zu arbeiten, erst nach vier Jahren Einzahlung in britische Kassen ein Recht auf Sozialleistungen erhalten.

Etwa 40 Prozent aller Zuwanderer aus dem europäischen Wirtschaftsraum beziehen Leistungen aus dem britischen Sozialstaat.

Interessant ist eine Zahl die Cameron liefert: „Etwa 40 Prozent aller Zuwanderer aus dem europäischen Wirtschaftsraum beziehen Leistungen aus dem britischen Sozialstaat.“ Auch hier fordert Cameron von Brüssel eine „rechtlich bindende und unumkehrbare Übereinkunft“.

Angelika Niebler: Kann beiden Seiten nutzen

Ist das alles zu viel verlangt von der Europäischen Union? Das müssen die Verhandlungen zeigen. Aus Deutschland kann Cameron auf ein gewisses Maß an Zustimmung zählen. „Einige der Forderungen Camerons sind nachvollziehbar und könnten möglicherweise die EU insgesamt stärken”, meint etwa die Vorsitzende der CSU-Europagruppe Angelika Niebler: „Eine Zuwanderung in die Sozialsysteme der Mitgliedstaaten ist nicht akzeptabel, insoweit hat Cameron recht.” Auch Camerons Pochen auf die internationale Wettbewerbsfähigkeit der EU hält Niebler für richtig und wichtig. Hinzu komme, dass der britische Premier seine Forderung „ohne Schaum vor dem Mund” vorgetragen habe, so die CSU-Europa-Politikerin: „Wenn sich Entschlossenheit und Realismus in London die Waage halten, können Verbesserungen zum beiderseitigen Wohl erreicht werden.”

Beide Seiten haben viel zu verlieren

Cameron gibt seinen EU-Ratskollegen Stoff zum Nachdenken mit auf den Weg: „Großbritannien ist die zweitgrößte Wirtschaft der EU. Wir sind der zweitgrößte Beitragszahler zum EU-Haushalt. Zusammen  mit Frankreich sind wir die führende Militärmacht. Die Union nutzt uns, aber wir tragen auch viel bei.“

Großbritannien ist die zweitgrößte Wirtschaft der EU. Wir sind der zweitgrößte Beitragszahler zum EU-Haushalt.

In der Tat, wenn Großbritannien ginge, hätte die EU viel zu verlieren. Aber die Briten eben auch, und Cameron nimmt sich in seiner Rede viel Zeit, das seinen Wählern genau zu erklären: Mit den EU-Partnern bestreitet Großbritannien die Hälfte seines Handelsvolumens, als Teil eines 500 Millionen Menschen starken Wirtschaftsblocks hat Großbritannien mehr Einfluss in der Welt, nicht weniger. Über die EU hat London Freihandelsabkommen mit über 50 Ländern.

Wie die Nato und unsere Mitgliedschaft im UN-Sicherheitsrat ist auch die EU ein Werkzeug, das ein britischer Premierminister nutzt, um Dinge in der Welt zu erledigen und um unser Land zu schützen.

Die EU ist für die Briten nicht Zweck, sondern wichtiges Mittel zum Zweck – wirtschaftlich wie politisch. Cameron: „Wie die Nato und unsere Mitgliedschaft im UN-Sicherheitsrat ist auch die EU ein Werkzeug, das ein britischer Premierminister nutzt, um Dinge in der Welt zu erledigen und um unser Land zu schützen.“ Cameron weiter: „Wenn der britische Premierminister nicht mehr auf EU-Gipfeln präsent wäre, dann würden wir diese Stimme verlieren und unsere Fähigkeit, weltweit Anliegen umzusetzen, dauerhaft beeinträchtigen.“

„Die wichtigste Entscheidung unseres Lebens“

Cameron plädiert nachdrücklich für Großbritanniens Verbleib in der EU: „Ich werde mit meinem ganzem Herzen und meiner ganzen Seele dafür kämpfen, weil es unzweifelhaft unserem nationalen Interesse entspricht.“ Aber entscheiden sollen am Schluss die Wähler und nur die Wähler. Cameron: „Das ist eine riesige Entscheidung für unser Land, vielleicht die wichtigste, die wir im Leben fällen. Und es wird eine endgültige Entscheidung sein.“