Merkel als Bittstellerin in Istanbul
Ankara in starker Position gegenüber der EU: Die Türkei hat den Migranten die Tore nach Europa geöffnet und verlangt jetzt ihren Preis dafür, dass sie sie vielleicht wieder schließt. In Istanbul sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel Deutschlands Unterstützung für vier türkische Forderungen zu. Brüssel setzt im Verhältnis zur Türkei zu dramatischer Wende an.
Türkei

Merkel als Bittstellerin in Istanbul

Ankara in starker Position gegenüber der EU: Die Türkei hat den Migranten die Tore nach Europa geöffnet und verlangt jetzt ihren Preis dafür, dass sie sie vielleicht wieder schließt. In Istanbul sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel Deutschlands Unterstützung für vier türkische Forderungen zu. Brüssel setzt im Verhältnis zur Türkei zu dramatischer Wende an.

„Die Türkei benimmt sich wie der schlimme Rotzbengel von nebenan und sagt: Wenn ihr nicht tut, was ich will, schicke ich Euch noch mehr Flüchtlinge, überflute ich Euch mit Flüchtlingen.“ Mit den harten Worten kritisierte der stellvertretende Vorsitzende der kurdenfreundlichen Demokratischen Partei der Völker (HDP), Nazmi Gür, den Besuch von Bundeskanzlerin Angela Merkel in Istanbul und den sich anbahnenden Handel der EU mit der Türkei von Präsident Recep Erdogan.

Bundeskanzlerin Merkel musste als Bittstellerin mit konkreten Gegenleistungen nach Istanbul fliegen.

EU-Kommissar Günther Oettinger

In der Türkei ist Wahlkampf. Am 1. November wird gewählt. Da wird mit harten Bandagen gekämpft und sehr offen gesprochen. Völlig falsch ist das, was HDP-Vize Gür da sagt, trotzdem nicht: Ankara hat tatsächlich nicht nur syrischen, sondern auch afghanischen, pakistanischen oder irakischen Migranten alle Tore nach Europa geöffnet. Nun verlangt Präsident Recep Erdogan von der EU einen Preis dafür, dass er die Tore, vielleicht, wieder schließt. Erdogan hat die EU – vor allem das Migranten-Zielland Deutschland – da, wo er sie schon immer haben wollte: in der Hand. Brüssel und Berlin müssen nun mit ihm verhandeln, über fast alles. Bundeskanzlerin Merkel musste „als Bittstellerin mit konkreten Gegenleistungen nach Istanbul fliegen“ – so fasste es auf dem Deutschlandtag der Jungen Union in Hamburg ausgerechnet EU-Kommissar Günther Oettinger zusammen. Aber Merkel verhandelt nicht nur für die EU, sondern auch in eigener Sache: „Im Umfragetief sucht Merkel Hilfe in Ankara“, titelt die linksgerichtete Pariser Tageszeitung Le Monde.

Ankara drängt auf Beschleunigung der Beitrittsverhandlungen

Für die CSU ein Alarmsignal. Bei der Lösung der Flüchtlingskrise komme zwar der Türkei als Nachbar Syriens eine Schlüsselrolle zu, so die Vorsitzende der CSU-Landegruppe im Deutschen Bundestag, Gerda Hasselfeldt. Beim Umgang mit den Flüchtlingen sei darum Kooperation erforderlich. Hasselfeldt: „Wir dürfen aber der Türkei nicht zu viele Zugeständnisse machen, ein EU-Beitritt steht nicht auf der Tagesordnung.“ Ganz genauso sieht es etwa der innenpolitische Sprecher der Unionsfraktion, Stephan Mayer: Es sei richtig, die Türkei finanziell stärker zu unterstützen, aber „ein EU-Beitritt der Türkei kommt für mich nicht in Frage“.

Wir dürfen aber der Türkei nicht zu viele Zugeständnisse machen, ein EU-Beitritt steht nicht auf der Tagesordnung.

Gerda Hasselfeldt

Eine klare Haltung, die die meisten Fraktionskollegen von Hasselfeldt und Mayer teilen. Trotzdem soll nun Bewegung in die Beitrittsverhandlungen der EU mit der Türkei kommen, sogar ziemlich massiv und ziemlich schnell. Der türkische Premierminister Ahmet Davutoglu drängt darauf. Nach einem Gespräch mit ihm in Istanbul erklärte Bundeskanzlerin Merkel denn auch, Deutschland sei bereit, noch in diesem Jahr das 17. Verhandlungskapitel zum Thema Wirtschafts- und Währungspolitik zu öffnen und Vorbereitungen für die Öffnung von Kapitel 23 und 24 zu treffen. EU-Diplomaten zufolge soll mit den Verhandlungen über Kapitel 17 schon in der kommenden Woche begonnen werden.

Im Umfragetief sucht Merkel Hilfe in Ankara.

Le Monde

Davutoglu hatte eigentlich gleich sechs Verhandlungskapitel in Angriff nehmen wollen, berichtet die Neue Zürcher Zeitung. Doch auf EU-Seite bleiben einige Länder skeptisch. Etwa Österreich und Zypern wollen von einer Beschleunigung der Verhandlungen mit der Türkei nichts wissen, schreibt die Londoner Wochenzeitung The Economist. Immerhin: Bundeskanzlerin Merkel bezeichnete auch nach ihren Gesprächen in Istanbul die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei als „ergebnisoffen“.

Erdogan will zu EU-Gipfeln eingeladen werden

Doch Brüssel schreckt offenbar nicht davor zurück, sich gegenüber der Türkei zu verbiegen. Schon für die vergangene Woche war die Veröffentlichung des turnusmäßigen Fortschrittsbericht der Kommission über den Beitrittskandidaten Türkei geplant, weiß The Economist. In dem Bericht werden die türkischen Verhältnisse in puncto Polizeigewalt, Unabhängigkeit der Justiz, Medienfreiheit, Korruption sowie einzelne Gesetze scharf kritisiert. Jetzt ist der Fortschrittsbericht über die Türkei plötzlich nicht mehr zeitgemäß. Die Kommission hat seine Veröffentlichung auf unbestimmte Zeit verschoben. Brüssel setzt im Verhältnis zur Türkei zu einer dramatischen Wende an, lässt auch EU-Kommissar Oettinger durchblicken: „Vielleicht haben auch wir in manchen Wahlkämpfen und an Stammtischen uns gesuhlt in einer Anti-Türkei-Diskussion.”

Brüssel setzt im Verhältnis zur Türkei zu einer dramatischen Wende an.

Zum Thema Beitrittsverhandlungen und Heranrücken an die EU gehört auch die zweite von insgesamt vier türkischen Forderungen: Präsident Erdogan möchte künftig zu EU-Gipfeln eingeladen werden, berichtet wieder The Economist. Die Kommission wird ihm den Wunsch wohl erfüllen. Auf der Pressekonferenz mit Premierminister Davutoglu hat Bundeskanzlerin Merkel zugesagt, Deutschland werde auch diese türkische Forderung unterstützen (Le Monde).

Drei Milliarden Euro für die Unterbringung und Versorgung von Flüchtlingen

Eher unkompliziert ist dagegen Ankaras Forderung Nummer Drei nach Finanzhilfe über drei Milliarden Euro für Unterbringung und Versorgung der Flüchtlinge auf ihrem Territorium. Unklar ist allerdings noch, woher das Geld kommen wird. Brüssel wird aus dem EU-Haushalt kaum mehr als 500 Millionen Euro beisteuern (The Economist). Den Rest müssen dann die Mitgliedsländer aufbringen – nach einem Schlüssel, auf den man sich noch einigen muss.

Syrien-Flüchtlinge erhalten in der Türkei kein Asyl.

Ebenfalls nicht ganz klar ist, was das Geld bewirken wird. Denn zwischen 70 und 95 Prozent der Syrien-Flüchtlinge in der Türkei befinden sich nicht in den etwa einem Dutzend sehr ordentlich geführter Lager, sondern in sehr schwierigen Bedingungen irgendwo im Lande. Das berichtet jetzt die Frankfurter Allgemeine Zeitung. Ein Recht auf Asyl haben die Flüchtlinge in der Türkei nicht.

Erleichterungen bei der Visareglung

Als viertes fordert Ankara von der EU möglichst schnell Visafreiheit für türkische Bürger, die in die Schengen-Zone einreisen wollen. Wenn man auf die Auswirkungen der Visafreiheit für Serbien schaut, droht im Falle der Türkei noch viel mehr Ungemach. Bundeskanzlerin Merkel habe daher in Istanbul nur versprochen, dass eine Ausnahmeregelung für Studenten und Geschäftsleute schon im Juli 2016 statt 2017 in Kraft treten könnte, berichtet Le Monde. Im Gegenzug muss sich Ankara allerdings verpflichten, in der EU zurückgewiesene Asylbewerber zurückzunehmen, die von türkischem Territorium in die EU eingereist sind. Interessant: Zwischen Griechenland und der Türkei gibt es ein solches Rücknahmeabkommen schon seit 2002. Aber die Türkei respektiert es nicht: Im Jahr 2014 stellte Griechenland 9619 Rücknahmegesuche, von denen 470 erfolgreich waren. Tatsächlich zurückgenommen hat die Türkei aber nur sechs abgelehnte Asylbewerber (Le Monde).

Schwieriger Partner

Die Türkei und ganz besonders ihr immer autokratischer agierender Präsident Erdogan bleiben schwierige Verhandlungspartner. Auch dann, wenn sich Brüssel und Ankara tatsächlich über alle Modalitäten ihres Aktionsplans verständigen könnten.

Die Türkei ist kein Konzentrationslager.

Ahmet Davutoglu

Das sprach schon am Tag nach Bundeskanzlerin Merkels Besuch in Istanbul aus den Worten von Premierminister Davutoglu. Die Türkei, deutete der Premier an, wolle nicht dauerhaft Migranten aufnehmen, nur um der EU zu gefallen. Davutoglu: „Wir können nicht eine Vereinbarung akzeptieren nach dem Motto: Gebt uns das Geld, und die bleiben in der Türkei.“ Davutoglu weiter: „Die Türkei ist kein Konzentrationslager.“