Türkische Autobahnen
Erst lässt Ankara tausende Dschihadisten nach Syrien und heizt den syrischen Bürgerkrieg nach Kräften an. Dann öffnet es hunderttausenden Migranten alle Grenzen und Tore nach Europa. Jetzt verhandelt Präsident Erdogan in Brüssel über ein Arrangement mit der EU, um die Grenzen der Türkei wieder zu sichern. Für die EU wird das nicht billig − und ob es funktioniert, ist mehr als fraglich.
Erdogan in Brüssel

Türkische Autobahnen

Erst lässt Ankara tausende Dschihadisten nach Syrien und heizt den syrischen Bürgerkrieg nach Kräften an. Dann öffnet es hunderttausenden Migranten alle Grenzen und Tore nach Europa. Jetzt verhandelt Präsident Erdogan in Brüssel über ein Arrangement mit der EU, um die Grenzen der Türkei wieder zu sichern. Für die EU wird das nicht billig − und ob es funktioniert, ist mehr als fraglich.

Die Türkei ist Teil des Problems

Diese Beiruter Analyse der Rolle der Türkei in der europäischen Flüchtlingskrise verdient ein ausführliches Zitat: „Was die Türkei des Islamisten und im syrischen Konflikt äußerst engagierten Erdogan angeht, so hat sie ihre Grenzen mit Syrien geöffnet, und zwar in beide Richtungen. Als rückwärtige Basis des Islamischen Staat und der radikalsten Dschihadisten-Gruppen wie als Autobahn für den europäischen, arabischen und asiatischen Dschihad in Richtung Syrien hat sich die Türkei so tief in den syrischen Konflikt verstrickt, dass sie nun ihre innere Stabilität von genau jenen bedroht sieht, die sie zuvor unterstützt und ermutigt hat. … Und nun dreht Ankara sozusagen seine Jacke um, öffnet die europäische Autobahn in umgekehrter Richtung und ermutigt alle Sorten von Flüchtlingen und Wirtschaftsmigranten, die bis jetzt in der Türkei untergebracht waren, sich auf den Weg nach Europa zu machen.“

Ankara entledigt sich auf diese Weise der Personen, die für die Türkei selbst zur Gefahr geworden sind.

Fadi Assaf (Le Figaro)

Erst hat die Türkei Zehntausende übelster Dschihadisten nach Syrien geschleust und damit das blutige Gemetzel dort befeuert, das meint der libanesische Politikberater Fadi Assaf in der französischen Tageszeitung Le Figaro, und jetzt drängt sie Hunderttausende, ja Millionen Migranten aus Syrien, Afghanistan oder Pakistan zum großen Treck nach Europa. Assaf: „Ankara entledigt sich auf diese Weise der Personen, die für die Türkei selbst zur Gefahr geworden sind.“

Ist es vorstellbar, dass in einem Land, in dem nicht einmal zehn Oppositionelle eine Demonstration abhalten können, ohne von der doppelten Anzahl Polizisten umringt zu werden, Hunderttausende einfach so illegal die Grenze überqueren können? Natürlich nicht.

Frankfurter Allgemeine Zeitung

Ankara und der türkische Präsident Recep Erdogan sind im syrischen Bürgerkrieg und bei Europas Flüchtlingskrise Teil des Problems. Für die Frankfurter Allgemeine Zeitung bestätigte kürzlich der stets besonders lesenswerte Türkei-Korrespondent Michael Martens diese Sicht aus Beirut mit einer simplen Überlegung: „Ist es vorstellbar, dass in einem Land, in dem nicht einmal zehn Oppositionelle eine Demonstration abhalten können, ohne von der doppelten Anzahl Polizisten umringt zu werden, Hunderttausende einfach so illegal die Grenze überqueren können? Natürlich nicht.“ Martens nennt Erdogan einen „Schleusenwärter“, der alle Schleusen öffnet und die Flut strömen lässt, um „die Flüchtlinge als Druckmittel gegen Europa“ einzusetzen.

EU soll 500.000 Flüchtlinge aus türkischen Lagern übernehmen

Ankaras Erpressungstaktik geht jetzt auf. Am Tag vor Präsident Erdogans Besuch in Brüssel wurden EU-Pläne bekannt, in der Migrantenkrise die Kooperation mit der Türkei zu suchen. Einem Aktionsplan zufolge, den Brüssel zusammen mit Ankara entworfen hat, soll sich die Türkei verpflichten, ihre Grenze zu Griechenland besser zu schützen, berichtet die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung. Griechische und türkische Küstenwache sollen gemeinsam in der Ägäis Patrouille fahren. Die Patrouillen sollen von der EU-Grenzschutzagentur Frontex koordiniert werden und gegen Schleuser vorgehen. Aufgegriffene Migranten sollen in die Türkei zurückgebracht werden.

Will die EU den Strom der Flüchtlinge kontrollieren und begrenzen, ist sie auf einen Deal mit Ankara angewiesen, weshalb sich die EU auf einmal in der Position der Bittstellerin wiederfindet.

Neue Zürcher Zeitung

Außerdem sollen in der Türkei sechs neue Flüchtlingslager für bis zu zwei Millionen Personen entstehen, für die die EU Gelder bereitstellen wird. Brüssel hat Ankara schon eine Milliarde Euro für die Betreuung von Flüchtlingen in Aussicht gestellt. Weil es sich dabei um umgewidmete Gelder handelt, die unter bestimmten Bedingungen ohnehin für die Türkei gedacht waren, verlangt Ankara jetzt mehr, berichtet die Neue Zürcher Zeitung. Für die Integration von syrischen Flüchtlingen in der Türkei will die EU außerdem 250 Millionen Euro zur Verfügung stellen. Zu der Vereinbarung soll auch gehören, dass die EU-Staaten sich verpflichten, aus türkischen Lagern bis zu eine halbe Millionen Migranten aufzunehmen und in Europa umzusiedeln. Die EU sei auf einen Deal mit Ankara angewiesen und finde sich darum auf einmal in der Position der Bittstellerin wieder, kommentiert die NZZ. Bis zum nächsten EU-Gipfel Mitte Oktober, der wieder vor allem der Migrantenkrise gewidmet sein wird, soll das Abkommen mit Ankara stehen.

Immer mehr Migranten kommen aus Afghanistan und Pakistan − oder aus syrischen Flüchtlingslagern im Libanon und Jordanien − über die Türkei und die Ägäis nach Europa.

Ob Brüssel auf diese Weise die von der Türkei ausgehende Migrantenkrise in den Griff bekommen kann, ist dennoch zweifelhaft. Denn zum einen kommen immer mehr Migranten aus Afghanistan und Pakistan − oder aus syrischen Flüchtlingslagern im Libanon und Jordanien − über die Türkei und die Ägäis nach Europa. Zum anderen leben nur etwa 300.000 syrische Flüchtlinge in der Türkei leidlich versorgt in befestigten Lagern. 80 Prozent der wohl zwei Millionen syrischen Flüchtlinge in der Türkei seien „weitgehend sich selbst überlassen“, berichtet wieder die FAZ. Alle wollen möglichst schnell die Türkei verlassen, auch darum, weil Ankara den Syrern auf keinen Fall eine Bleibeperspektive geben will. Die Flüchtlinge haben in der Türkei nicht einmal Asylbewerber-Status,  sondern sind lediglich geduldet.

Unterstützung für Ankaras Syrien-Politik

Wie auch immer, bei den Millionen und Milliarden für türkische Flüchtlingslager und für die Integration der Syrien-Flüchtlinge in die Türkei – die sie nicht haben will – wird es kaum bleiben. Ankara wird für seine Kooperation weitere Forderungen stellen. Presseberichten zufolge wünscht sich Erdogan sechs Wochen vor den nächsten Parlamentswahlen Abschaffung oder Lockerung der Visumpflicht für türkische EU-Reisende. Glücklicherweise fällt das Visaregime aber nicht in die Kompetenzen Brüssels, sondern in die der Mitgliedstaaten. Und die Mitgliedsstaaten, erinnert die FAZ, haben mit der Visa-Liberalisierung für die Westbalkanländer Albanien, Bosnien, Mazedonien und Serbien, keine guten Erfahrungen gemacht. Auch beim Thema EU-Beitritt der Türkei sind Fortschritte kaum denkbar. Die Beitrittsverhandlungen stehen seit zwei Jahren still. Die EVP-Fraktion im Europäischen Parlament lehnt eine Wiederaufnahme der Verhandlungen und eine Vollmitgliedschaft der Türkei ab.

Die Türkei will um jeden Preis verhindern, dass es den syrischen Kurden gelingt, entlang der gesamten türkisch-syrischen Grenze ein geschlossenes kurdisches Territorium zu bilden.

Offenbar erhofft sich Ankara von Brüssel auch Unterstützung für seine Politik im syrischen Bürgerkrieg – etwa für das türkische Vorhaben, auf der syrischen Seite der türkisch-syrischen Grenze Sicherheitszonen für syrische Flüchtlinge einzurichten. Dafür wäre allerdings nicht die EU, sondern der amerikanische Koalitionspartner der richtige Ansprechpartner. Denn die Sicherheitszonen müssten erst noch mit militärischen Mitteln hergestellt und dann dauerhaft gesichert werden. Doch Washington zögert eine Entscheidung darüber seit Monaten hinaus. Aus gutem Grund: Der türkische Plan richtet sich vor allem gegen die Kurden: Ankara will um jeden Preis verhindern, dass es den syrischen Kurden gelingt, entlang der gesamten türkisch-syrischen Grenze ein geschlossenes kurdisches Territorium zu bilden. Interessanterweise haben Bundeskanzlerin Angela Merkel und ihr Bundeskanzleramt dennoch durchblicken lassen, über den türkischen Plan reden zu wollen.

Ankaras Krieg gegen die Kurden − auch im eigenen Land − droht, die nächste Fluchtwelle loszutreten.

A propos Kurden: Hier bahnt sich ein neues Flüchtlingsdebakel an. Ankara kämpft derzeit in Syrien und Irak weniger gegen den Islamischen Staat als vielmehr gegen die Kurden – auch im eigenen Land. Der Krieg der türkischen Armee gegen die kurdische Terrororganisation PKK richte sich längst schon gegen die Kurden insgesamt, berichtet wieder die FAZ: Wenn die Türkei ihren Krieg gegen die Kurden fortsetzte, könnte das die nächste – und dieses Mal kurdische – Flüchtlingswelle lostreten.

Die Türkei ist und bleibt ein schwieriger Partner. Brüssel sollte sich darauf einstellen, dass die EU ihre Außengrenze in der Ägäis vor allem selber sichern muss.