Erdogans Priorität bleiben die Kurden
Ankara will sich nun doch in vollem Umfang am Krieg gegen den Islamischen Staat in Syrien und im Irak beteiligen − angeblich. Aber für Präsident Recep Erdogan hat der Wahlkampf Priorität − und darum der Konflikt mit den Kurden. Bis Januar 2016 wird Die Bundeswehr zwei Patriot-Flugabwehrbatterien mit 250 Soldaten aus dem Süden der Türkei abziehen.
Türkei

Erdogans Priorität bleiben die Kurden

Ankara will sich nun doch in vollem Umfang am Krieg gegen den Islamischen Staat in Syrien und im Irak beteiligen − angeblich. Aber für Präsident Recep Erdogan hat der Wahlkampf Priorität − und darum der Konflikt mit den Kurden. Bis Januar 2016 wird Die Bundeswehr zwei Patriot-Flugabwehrbatterien mit 250 Soldaten aus dem Süden der Türkei abziehen.

Der türkische Präsident Recep Erdogan führt sein Land in eine paradoxe Situation: Er führt einen bitteren Wahlkampf gegen die pro-kurdische Partei HDP und Krieg gegen die verbotene Kurdische Arbeiterpartei PKK − aber gezwungenermaßen demnächst womöglich zusammen mit eben jener pro-kurdischen HDP.

Das ist die Folge der gescheiterten Regierungsbildung in Ankara und Erdogans Ausrufung von Neuwahlen für den 1. November. Laut türkischer Verfassung muss Ministerpräsident Ahmet Davutoglu nun eine Interimsregierung bilden, in der alle Parteien entsprechend ihrer Stärke im Parlament vertreten sind. Die größte Oppositionspartei, die kemalistische Republikanische Volkspartei CHP, hat schon abgewunken. Auch die rechtsextreme Partei der Nationalistischen Bewegung MHP will sich im Wahlkampf nicht von der AKP einspannen lassen, sondern fordert die Ausrufung des Kriegsrechtes. Bleibt die pro-kurdische Demokratische Partei der Völker HDP, die auch prompt ihre Bereitschaft bekundet hat, Ministerposten zu übernehmen.

In unklarer Lage mit schwacher Übergangsregierung ohne richtiges Wählermandat ist der Präsident die stärkste Figur auf dem politischen Schachbrett in Ankara.

Schwierige Lage für Davutoglu: Die Verfassung sagt nicht viel darüber, wie nun die leeren CHP- und MHP-Ministersessel zu besetzen sind. Der Einfachheit halber will der Premier sich nun sein Kabinett selber zusammensuchen. Da könnte Verfassungsstreit ins Haus stehen, noch vor dem Wahltermin. Erdogan ist das vielleicht sogar recht: In unklarer Lage mit schwacher Übergangsregierung ohne richtiges Wählermandat ist der Präsident die stärkste Figur auf dem politischen Schachbrett in Ankara.

Putsch in Zeitlupe

Und nur um die Position des Präsidenten geht es in diesem Wahlkampf wie im Krieg gegen die Kurden. Bei der Wahl am vergangenen 7. Juni hatte die HDP völlig überraschend 13 Prozent erzielt – und Erdogans AKP fast zehn Prozent verloren. Die absolute AKP-Mehrheit war dahin. Aber die braucht Erdogan für sein Vorhaben, per Verfassungsänderung ein Präsidialsystem einzuführen.

Erdogan hat nicht einmal versucht, mit dem Oppositionsführer zu verhandeln, um die politische Krise zu überwinden.

La Croix

Beobachtern zufolge hatten es Erdogan und Davutoglu seit dem Wahltag von vornherein auf Neuwahlen angelegt. Davutoglus geschäftsführende Regierung habe gar kein Interesse daran, eine Koalitionsregierung herbeizuführen, beobachtete noch Anfang August die Londoner Wochenzeitung The Economist. Der Staatspräsident habe nicht einmal versucht, mit dem Oppositionsführer von der CHP darüber zu sprechen, wie die politische Krise zu überwinden sei, kommentiert die katholische Pariser Tageszeitung La Croix: „Der türkische Präsident scheint es sehr eilig zu haben, eine Auflösung des Parlaments und Neuwahlen im Herbst zu erreichen.“ Vom „Putsch in Zeitlupe“, schreibt die Wiener Tageszeitung Der Standard.

Kurdisches Pulverfass

Das ist kaum eine Übertreibung: Erdogan will die absolute AKP-Mehrheit erzwingen. Seine Rechnung ist einfach, aber kaum erfolgversprechend: Seit der AKP-Wahlschlappe im Juni hat die Türkei stärker in den syrischen Bürgerkrieg eingegriffen – vor allem mit Schlägen gegen die kurdische PKK. Der Präsident hofft, nationalistische Stimmung im Lande anzufachen und so der HDP Wähler abzujagen. Tatsächlich haben sich bei der Wahl im Juni viele konservative Kurden von der AKP ab- und der HDP zugewendet. Doch mit Stimmungsmache gegen die Kurden im Lande und mit Krieg gegen Kurden im Irak und in Syrien werden die kaum zurückzugewinnen sein. Bleibt die Hoffnung der AKP, mit anti-kurdischer Agitation nationalistische Stimmen zu gewinnen. Bisher vergeblich: Umfragen verzeichnen kaum Bewegung.

Gefährliche Zuspitzung droht: Immer mehr junge türkische Kurden schließen sich der PKK an.

Unterdessen nimm nur die Gewalt zu: Das Militär fliegt Angriffe auf PKK-Stellungen im Nordirak wie in der Türkei und erhöht in den türkischen Kurdengebieten den Druck auf die Bevölkerung. Die PKK verübt fast täglich Anschläge auf türkische Sicherheitskräfte. Auf beiden Seiten wächst die Zahl der Toten – und der Hass. Immer mehr junge türkische Kurden schließen sich der PKK an. Gefährliche Zuspitzung droht. HDP-Chef Selahattin Demirtas hat schon die PKK – und zugleich Ankara – vor Bürgerkrieg gewarnt. Erdogan sitze auf einem „kurdischen Pulverfass“, sieht die Neue Zürcher Zeitung.

Ankara lässt Kurden bombardieren – Bundeswehrsoldaten bilden Kurden aus

Erdogans Priorität bleiben die Kurden. Dass sich Ankara unter massivem amerikanischen Druck jetzt bereit erklärt hat, sich doch intensiver am Krieg gegen den Islamischen Staat zu beteiligen, wird daran wenig ändern. „Wir glauben, dass die Türkei bereit ist, sobald wie möglich in vollem Umfang mitzumachen“, heißt es optimistisch aus dem US-Verteidigungsministerium. Das wird sich zeigen.

Fanal des Misstrauens zwischen den Nato-Partnern Deutschland und Türkei.

Neue Zürcher Zeitung

Sicher ist, dass die Gegensätze in der etwa 40 Staaten großen Allianz gegen den Islamischen Staat in Syrien und Irak bleiben: Das zeigt etwa auch die kürzliche Entscheidung der Bundesregierung, bis zum Januar 2016 die Stationierung zweier Patriot-Flugabwehreinheiten mit 250 Bundeswehrsoldaten im Süden der Türkei zu beenden. Von einem „Fanal des Misstrauens zwischen den Nato-Partnern Deutschland und Türkei“ schreibt die NZZ. 100 andere Bundeswehrsoldaten bleiben dagegen im Nordirak – um irakische Kurden für den Kampf gegen den Islamischen Staat auszubilden.