Ankaras böses Doppelspiel
Wenn Ankara nicht jahrelang ganz bewusst seine syrische Grenze für alle Dschihadisten offen gehalten hätte, wäre der blutigen Bürgerkrieg in Syrien schnell zu Ende gewesen. US-Kommandotruppen haben einen IS-Computer und hunderte Datenträger erbeutet, die angeblich Ankaras böses Doppelspiel offenlegen: Türkische Dienststellen sollen Verbindungen zum Islamischen Staat haben.
Türkei

Ankaras böses Doppelspiel

Wenn Ankara nicht jahrelang ganz bewusst seine syrische Grenze für alle Dschihadisten offen gehalten hätte, wäre der blutigen Bürgerkrieg in Syrien schnell zu Ende gewesen. US-Kommandotruppen haben einen IS-Computer und hunderte Datenträger erbeutet, die angeblich Ankaras böses Doppelspiel offenlegen: Türkische Dienststellen sollen Verbindungen zum Islamischen Staat haben.

Ankara soll „heimliche Geschäftsbeziehungen“ mit dem terroristischen Islamischen Staat (IS) in Syrien unterhalten oder wenigstens unterhalten haben. Den Vorwurf erhebt die linke Londoner Sonntagszeitung The Observer unter Verweis auf amerikanische Quellen. Was allen Beobachtern seit langem klar war, ist jetzt möglicherweise belegt.

Corpus delicti gegen Ankara: Daten vom Computer des IS-Öl-Ministers

Im vergangenen Mai führten US-Kommandotruppen in der südostsyrische Stadt Dier Ezzour, tief im IS-Gebiet, einen erfolgreichen Schlag gegen den hochrangigen IS-Funktionär Abu Sayyaf. Sayyaf war sozusagen der Öl- und Gas-Minister des IS, und damit zuständig für den wichtigsten Teil des IS-Finanzimperiums. Eigentlich hatten die US-Kommandos Sayyaf lebend ergreifen wollen, um ihn ausführlich befragen zu können. Das gelang nicht. Weil Sayyaf sich wehrte, wurde er zusammen mit einem Dutzend anderer IS-Terroristen erschossen. Die Kommandos konnten nur Sayyafs Frau und eine befreite Yesiden-Sklavin mitnehmen. Kein US-Soldat wurde getötet oder verletzt. Eine perfekte Aktion.

Direkte Beziehungen zwischen Vertretern der Türkei und hochrangigen Mitgliedern des Islamischen Staats sind nun unbestreitbar.

The Observer unter Berufung auf einen westlichen Regierungsvertreter

Auch ohne den IS-Funktionär machten die Kommandos große Beute: Sayyafs Laptop-Computer, seine Mobiltelephone und hunderte von elektronischen Datenträgern und Dokumenten. Der digitale Schatz wird noch ausgewertet. Aber „Verdächtigungen über ein unerklärtes Bündnis“ der Türkei mit dem IS hätten sich erhärtet, schreibt nun The Observer. Von einem westlichen Regierungsvertreter, der mit der Auswertung der erbeuteten Materialien vertraut ist, weiß das Blatt, dass direkte Verbindungen zwischen türkischen Regierungsvertretern und hochrangigen IS-Mitgliedern jetzt „unbestreitbar“ seien. Diese Verbindungen seien so klar, „dass das zu schweren politischen Folgen für unsere Beziehungen zu Ankara führen könnte“.

Den bei Sayyaf erbeuteten Daten zufolge verdiente der IS pro Monat bis zu 40 Millionen Dollar durch Schmuggel und Verkauf von Öl aus Ölquellen in seinem Besitz, berichtet der US-Medienkonzern NBC: „Der Ölschmuggel, hauptsächlich in die Türkei, ist eine Haupteinnahmequelle für den IS.“ Die wichtigsten Kunden für das Öl seien türkische Käufer, bestätigt The Observer.

Die Türkische Syrienpolitik und der Aufstieg des Islamischen Staates

Das alles ist nicht wirklich neu. Schon seit Beginn des Bürgerkrieges in Syrien ist die südtürkischen Grenzregionen Drehscheibe und Etappe für den Dschihadisten-Nachschub nach Syrien. Das berichtete im vergangenen November der Antiterror-Experte des US-Finanzministeriums Jonathan Schanzer in einer gründlich recherchierten 32-seitigen Studie über: „An der Grenze zum Terror: Die Türkische Syrienpolitik und der Aufstieg des Islamischen Staates.“ Aus Syrien kommen Öl, geplünderte archäologische Schätze und verwundete Rebellen. In die andere Richtung strömen Geld, Waffen und eben Tausende auswärtiger Dschihadisten.

Der türkische Geheimdienst MIT agiert wie ein Verkehrspolizist, der entlang der Grenze Waffenlieferungen und Konvoys dirigiert.

The Wall Street Journal

Ankaras Sicherheitskräfte vor Ort ließen jahrelang alles passieren, schauten weg. Oder halfen den syrischen Rebellen ganz aktiv. Der türkische Geheimdienst MIT agiere „wie ein Verkehrspolizist, der entlang der Grenze Waffenlieferungen und Konvoys dirigiert“, schrieb im Oktober 2013 die US-Tageszeitung The Wall Street Journal. Das Blatt wusste von riesigen Bus-Konvoys voller islamistischer Kämpfer, eskortiert von türkischen Polizeifahrzeugen.

Erst unterstützte die Türkei ziemlich wahllos Einheiten der sogenannten Freien Syrischen Armee – egal ob säkular oder islamistisch gesonnen. Dann profitierten aber auch die immer stärker werdenden Dschihadisten-Gruppen, etwa die Al-Nusra-Front und die Ahrar Al-Sham-Gruppierung, die beide Al-Kaida nahestehen, vom türkischen laissez-faire im Grenzgebiet. Ankara ließ jeden gewähren, Hauptsache er kämpfte gegen Diktator Assad. Und in vielen Fällen sehe es so aus, so Antiterror-Experte Schanzer, als hätten „türkische Dienststellen die Jihadisten aktiv unterstützt“. Auf diese Weise scheine die Türkei wesentlich zum Aufkommen des Extremismus in Syrien beigetragen zu haben.

Die Türkei ist für Syrien das, was in den 90er Jahren Pakistan für Afghanistan war

Tatsächlich kann die Bedeutung der praktisch völlig offenen türkisch-syrischen Grenze für den Krieg in Syrien gar nicht überbewertet werden. Alle Rebellengruppen und Splittergruppen aller Kriegsparteien profitierten von der permissiven türkischen Grenzpolitik, so Schanzer: „Man kann sagen: Ohne den Zugang zur Grenze hätte die syrische Revolution ein schnelles Ende gefunden. Und das war zweifellos der Grund, warum die Türkei die Grenze offen gehalten hat.“ Sehr ähnlich sah es schon im November 2013 der norwegische Terrorismus-Experte Thomas Heghammer: „Die Türkei ist für Syrien das, was in den 90er Jahren Pakistan für Afghanistan war. Antakya ist Syriens Peschawar. Die Türkei ist die Hauptdurchgangstrecke für Kämpfer aus dem Westen und aus dem Rest der Region.“ Von einer regelrechten „Dschihadisten-Pipeline“ spricht Schanzer und beschreibt den  Zugang zur türkischen Grenze als „allerwichtigsten Aktivposten“, der IS-Dschihadisten.

Ohne den offenen Zugang zur türkischen Grenze hätte die syrische Revolution ein schnelles Ende gefunden.

Jonathan Schanzer, ehemaliger Antiterror-Experte des US-Finanzministeriums

Die Türken hatten viele Motive für diese Politik, und eines liegt auf der Hand. In der in Washington ansässigen Nahost-Internetzeitung Al-Monitor erklärte es im September 2013 ein türkischer Journalist: „Ohne die türkische Stadt Ceylanpinar als rückwärtige Basis hätte die Al-Nusra-Front nicht monatelang auf der anderen Seite der Grenze gegen die Kurden kämpfen können.“ Dazu passt, dass erst Im Mai zuvor der damalige türkische Außenminister Ahmet Davutoglu, er ist heute Regierungschef, Washington kritisierte, weil es die Al-Nusra zur Terrororganisation erklärt hatte. Von offener türkischer Unterstützung für Dschihadisten-Gruppen wie Ahrar Al-Sham und Al-Nusra schreibt denn auch jetzt The Observer und zitiert einen westlichen Regierungsvertreter: „Es gibt keinen Zweifel, dass sie (die Türkei, A.d.V.) mit beiden militärisch zusammenarbeiten.“

Washingtons Druck auf die Türkei

Seit Jahren versuchen Amerikaner und Europäer darum, Druck auf die Türkei auszuüben und Ankara dazu zu bewegen, ihre Politik der offenen Grenze nach Syrien zu beenden. Bislang vergeblich. Die Türkei hat massive eigene Interessen, wenn es um den Ausgang des Bürgerkrieges in Syrien geht und will darauf Einfluss nehmen – über ihre offene Grenze nach Syrien.

Jetzt plötzlich schwenkt Ankara um und fliegt Einsätze gegen den Islamischen Staat in Syrien und Irak. Warum? Gut möglich, dass der Druck aus Washington zu stark geworden ist. Und wahrscheinlich haben die digitalen Hinterlassenschaften von IS-Öl-Minister Aby Sayyaf dabei eine Rolle gespielt: Ankaras böses Doppelspiel ist aufgeflogen.

Ankaras Angst vor der bedrohlichen IS-Präsenz im eigenen Land

Aber es gibt einen weiteren fast noch unerfreulicheren Grund: Die Politik der offenen Grenze und die stille Kooperation mit den Dschihadisten in Syrien wird allmählich auch für die Türkei gefährlich. Unter inzwischen zwei Millionen syrischen Flüchtlingen leben auch viele IS-Sympathisanten auf türkischem Territorium. Zwischen 600 und 1000 Türken soll in den Reihen des Islamischen Staats kämpfen. Türkischen Quellen zufolge helfen mindestens 1000 türkische Bürger ausländischen Dschihadisten beim Weg über die Grenze nach Syrien und in den Irak. Der IS hat in der Türkei eine bedrohliche Präsenz aufgebaut, schreibt Schanzer in seiner Studie.

Ankara weiß schon länger, dass die IS-Dschihadisten auch in der Türkei jederzeit zuschlagen und das Land – etwa den Tourismus-Sektor – schwer treffen können. Aus genau dem Grund habe die Türkei auch bislang nichts gegen den IS unternommen, folgert Schanzer und zitiert aus einem Interview mit einem ehemaligen hochrangigen US-Repräsentanten von Anfang November 2014:

Es gibt keine Kampfhandlungen zwischen dem Islamischen Staat und den Türken. Und man kann sogar so weit gehen zu sagen, dass es auf einer gewissen Ebene einen Kommunikationskanal gibt. Das ist eine bewusste Entscheidung. … Vielleicht aus Angst vor einem Gegenschlag.

Es gibt gemeinsame Interessen

Jetzt ist es doch zu Kampfhandlungen zwischen der Türkei und dem Islamischen Staat gekommen. Auslöser war der Selbstmordangriff in der türkischen Kurdenstadt Suruc mit 32 Toten, der erste große IS-Schlag gegen die Türkei. Manche Beobachter halten den Anschlag von Suruc für eine Warnung des IS an Ankara. Umso mehr kommt es nun auf die türkischen Reaktionen an. Die sind bislang nicht viel versprechend. Ankara bombardiert vor allem Stellungen der kurdischen Terrororganisation PKK, und, sagen manche Beobachter, schont den IS. Die Dschhadisten „brauchen die Türkei“, zitiert The Observer ein verunsichertes IS-Mitglied: „Ich weiß von viel Zusammenarbeit und das macht mir Angst. Ich sehe nicht, wie die Türkei die Organisation allzu hart angreifen kann. Es gibt gemeinsame Interessen.“ Der Westen wird wohl seinen Druck auf die Türkei weiter verstärken müssen, wenn Ankara seinen Modus vivendi mit den Dschihadisten beenden soll.