Die am meisten verfolgte Minderheit weltweit: Christen werden diskriminiert, vertrieben, geschlagen, vergewaltigt, gefoltert, inhaftiert und ermordet. Bild: Fotolia/merydolla
IS-Terror

Verzweifelte Christen in Nahost

Entschlossene Hilfe für die verfolgten Christen aus dem Nordirak und Syrien hat ein Experten-Symposium der Hanns-Seidel-Stiftung gefordert. Die Lage der Christen dort ist dramatisch, beinah hoffnungslos: 90 Prozent sind geflohen oder tot. In der Türkei erhalten die Christen keinerlei Unterstützung. Die Experten forderten unisono, Deutschland müsse Christen bevorzugt aufnehmen.

Ein hochrangig besetztes Expertengremium der Hanns-Seidel-Stiftung hat entschiedene Maßnahmen zur Unterstützung der Christen und anderer verfolgter Minderheiten in Nahost gefordert. Die Lage der Christen in Nahost ist verzweifelt: 90 Prozent der Christen aus Syrien und dem Nordirak sind bereits geflohen oder tot, und auch der Rest wolle fliehen, sobald möglich. An dem Symposium nahmen unter anderem der ehemalige bayerische Ministerpräsident und ehemalige Vizepräsident der EKD-Synode, Günther Beckstein (CSU), der frühere evangelische Landesbischof Johannes Friedrich und der langjährige CSU-Europaparlamentarier Bernd Posselt teil, außerdem viele Experten aus Kirchen, Hilfsorganisationen und Forschung.

Wir müssen Christen bei der Aufnahme bevorzugen, denn die haben sonst keinen Anlaufpunkt.

Günther Beckstein

Die Runde übte massive Kritik an der demonstrativ neutralen Haltung der Bundesrepublik in Sachen Auswahl und Aufnahme der Kriegsflüchtlinge aus Syrien und dem Nordirak. Derzeit sind zwei Drittel der Flüchtlinge aus Syrien und dem Irak, die in Deutschland Schutz oder Asyl suchen, Moslems. Doch gerade die fliehenden Christen könnten weder in Syrien noch in der Türkei Schutz finden, bestätigten mehrere Experten.

„Wir müssen Christen bei der Aufnahme bevorzugen, denn die haben sonst keinen Anlaufpunkt. Wer aufgenommen wird, das ist immer eine Ermessensentscheidung. Ich halte es für falsch, dass Deutschland Moslems ebenso bereitwillig aufnimmt wie Christen“, forderte Günther Beckstein. Der frühere bayerische Landesbischof der evangelisch-lutherischen Kirche, Johannes Friedrich, betonte, besonders verfolgte Minderheiten wie Christen und Jesiden müssten vom deutschen Staat besonders geschützt werden.

In der Türkei warten Flüchtlinge sechs Jahre auf das erste Gespräch

Der Islamwissenschaftler und evangelische Religionspädagoge Wolfgang Schwaigert kritisierte die Evangelische Kirche Deutschlands (EKD) und das Diakonische Werk dafür, dass sie wie der Staat an der schädlichen Gleichrangigkeit von moslemischen und christlichen Flüchtlingen festhielten. „Es ist nicht vorstellbar, wie speziell die Christen dort leiden. Und es ist unverständlich, dass die Kirche sich die falsche Position des Staates zu Eigen macht“, so Schwaigert. Professor Rainer Rothfuss von der Universität Tübingen berichtete, in der Türkei dauere es sechs Jahre, bis ein christlicher Flüchtling erstmals mit staatlichen Stellen sprechen könne. Eine komplette Umsiedlung der nahöstlichen Christen sei nötig, und dazu brauche man ein umfassendes Konzept. Von den einst 96 Prozent in Nahost seien bis zum Beginn des IS-Terrors vor einem Jahr noch 4 Prozent übrig geblieben, doch bald drohe das Christentum in Nahost ausgerottet zu werden.

Ein Gesprächstermin in der deutschen Botschaft in Beirut kostet 1000 Euro.

Janet Abraham

Janet Abraham, die Irak-Beauftragte des Zentralverbands der Assyrer, berichtete, die humanitäre Lage in der Türkei außerhalb der Lager sei katastrophal, und das betreffe wiederum die Christen besonders. „Kein Christ geht in ein türkisches Aufnahmelager in der Türkei. Definitiv keiner“, so Abraham. Denn dort gäben die Islamisten den Ton an. Doch sogar beim Flüchtlings-Hilfswerk der UNO, dem UNHCR, in Istanbul würden die Christen abgewiesen. „Da sie auch nicht arbeiten dürfen, müssen sich Hunderttausende mittellose Flüchtlinge in Istanbul mit Betteln und Schwarzarbeit durchschlagen“, berichtete Janet Abraham. Der IS habe im Februar die Christen aus 35 Dörfern in Nordostsyrien früh um 4.00 Uhr zusammengetrieben, sie hätten in Schlafanzügen in die Berge fliehen müssen. „Was ist mit denen geschehen? Viele sind erfroren, verhungert, verdurstet“, sagte Janet Abraham. In den Bergen könne man sich nicht selbst versorgen. Sogar die deutschen Stellen in der Region stünden im Ruch der Korruption. „Ein Gesprächstermin in der deutschen Botschaft in Beirut kostet 1000 Euro“, berichtete Janet Abraham von Erzählungen der Flüchtlinge.

In den Lagern in der Türkei rekrutiert sogar der IS seinen Nachwuchs, so stark sind sie mit Islamisten durchsetzt.

Abdulmesih Bar-Abraham

Abdulmesih Bar-Abraham von der „Yokem Bar Yokem-Stiftung“ in Mönchengladbach, berichtete ebenfalls, dass die Christen weder in Syrien noch im Irak noch in der Türkei Unterstützung fänden: „In den Lagern in der Türkei rekrutiert sogar der IS seinen Nachwuchs, so stark sind sie mit Islamisten durchsetzt. Die Christen werden auch in den Lagern stark bedrängt.“ Die üblichen internationalen Strukturen der Flüchtlingshilfe gingen an den Christen vorbei, so Bar-Abraham. „In der ganzen Region gibt es genau ein Aufnahmelager für Christen, und das liegt auf dem Gelände eines syrisch-orthodoxen Klosters in Midyat in der Südosttürkei.“ Die Christen könnten sich nicht einmal auf die Kurden als Schutzmacht verlassen, berichtete Bar-Abraham. Vor dem Überfall des IS auf die schwerpunktmäßig christlich besiedelte Ninive-Ebene hätten sich die kurdischen Kämpfer in Zivilkleidung aus dem Staub gemacht und die Christen nicht einmal vorgewarnt.

90 Prozent der orientalischen Christen sind geflohen oder tot

Kirchenrat Thomas Prieto Peral, Referent für Ökumene und Weltkirche im evangelischen Landeskirchenamt Bayern, berichtete ausführlich von den Erkenntnissen seiner letzten Reise Mitte Juli in die Region, das Dreiländereck Türkei-Syrien-Irak. „Die Lage ist deprimierend. Die Leute wollen nur noch raus aus dem Irak und Syrien.“ 90 Prozent der einst 1,6 Millionen Christen im Irak, früher 4 bis 5 Prozent der Bevölkerung, seien geflohen. „Die kritische Masse dürfte unterschritten sein, eine Organisation von Gemeinden dürfte nicht mehr möglich sein“, so Peral. Die falsche Politik der USA, ein schiitisches Regime in Bagdad zu installieren und dieses nicht von vornherein auf den Schutz der Minderheiten zu verpflichten, habe katastrophale Auswirkungen für Christen und Jesiden. Im Nordirak gebe es derzeit keinerlei nationalstaatliche Organisationsstrukturen, also auch keinen offiziellen Schutz der Minderheiten mehr.

Derzeit gibt es keine Grundlage mehr für ein Zusammenleben. Da wäre eine lange Versöhnungsarbeit nötig, doch im Nahen Osten gibt es keine Versöhnungstradition.

Thomas Prieto Peral

Die Atmosphäre bei den Flüchtlingen sei komplett gekippt, so Peral. „Niemand von den Christen kann sich mehr ein Zusammenleben mit den früheren Nachbarn vorstellen, sogar falls Mossul doch noch zurückerobert werden sollte. Die Vertrauensbasis ist restlos zerstört.“ Denn etwa die sunnitischen Bewohner von Mossul hätten sich über Nacht geschlossen mit dem IS gegen die Christen verbündet. In der früheren Heimat der Christen steht nichts mehr, die Wohnhäuser seien gesprengt worden. Die Terroristen und ihre Komplizen würden den früheren christlichen Bewohnern sogar Videos von den Sprengungen ihrer Häuser aufs Handy schicken, eine Art moralischer Kriegsführung. „Derzeit gibt es keine Grundlage mehr für ein Zusammenleben. Da wäre eine lange Versöhnungsarbeit nötig, doch im Nahen Osten gibt es keine Versöhnungstradition“, so Peral.

Eine Stadt wie das kurdische Erbil habe vor dem Krieg einen tollen Wirtschaftsaufschwung hingelegt. Aber in den Rohbauten der neuen Hochhäuser lebten nun Flüchtlinge unter schlimmen hygienischen Bedingungen. Manche Lager, etwa im Sindschar-Gebirge im Irak, seien von Zelt- zu Containerdörfern weiterentwickelt worden. „Schlimm sind dennoch derzeit die Hitze und im Winter die Kälte. Am schlimmsten ist aber die Hoffnungslosigkeit.“ Nur durch ausländische Hilfe gebe es an manchen Orten noch moderne medizinische Hilfe. Die Regierung in Bagdad finanziere hier indes nichts mehr.

Von der Klosterterrasse aus kann man die Front, den Minengürtel und das IS-Gebiet sehen.

Thomas Prieto Peral

Die bisherigen Ansätze der westlichen Kirchen, das orientalische Christentum zu stärken, seien mit den Folgen des IS-Kriegs obsolet geworden. Noch vor drei Jahren sei mit Hilfe der bayerischen Landeskirche in einem Dorf eine neue armenisch-apostolische Kirche fertig gestellt worden. Diese liege heute acht Kilometer nördlich der Front, das Dorf sei weitgehend verlassen. In einer Druckerei für christliche Literatur, die mit Hilfe aus Deutschland gebaut wurde, arbeite derzeit nur noch ein Mann. Das uralte und sehr bedeutende syrisch-orthodoxe Kloster Mor Mattai, dessen Metropolit Mor Timothy Mosa Alshamany im Februar bei der HSS von der schlimmen Lage vor Ort berichtet hatte, liege jetzt nur noch drei Kilometer vor der Front und bestehe nur noch aus drei Mönchen. Von der Klosterterrasse aus könne man die Front, den Minengürtel und das IS-Gebiet sehen, berichtete Peral.

Die Großmächte drücken sich seit 100 Jahren um neue Ordnung für die Region

Der langjährige Europaabgeordnete und CSU-Außenpolitiker Bernd Posselt resümierte, seit dem Ersten Weltkrieg bis heute hätten sich die Großmächte darum herumgedrückt, den nahöstlichen Raum einschließlich des Kurdengebiets vernünftig zu ordnen. Eventuell könnte eine OSZE-Konferenz hier Abhilfe schaffen. So wie bisher gehe es jedenfalls nicht weiter: „Man verhält sich derzeit so, dass man ein Loch stopft und gleichzeitig ein anderes aufreißt“, so Posselt. Abschließend meinte Günther Beckstein, die Lage der Christen im Nordirak scheine derzeit hoffnungslos, geradezu katastrophal. Der Westen, vor allem Deutschland, sei aufgerufen, entschlossen zu helfen. „Allerdings müssen wir als Christen auch auf die Macht des Gebets vertrauen“, so Beckstein.