Alles Europa? Istanbul von der Galata-Brücke aus gesehen. (Bild: Fotolia/Dario Bajurin)
Ausland

Türkei in der Krise

Seit einiger Zeit steht die islamistische AKP-Regierung der Türkei im Verdacht, die Terrormiliz des Islamischen Staates zumindest logistisch zu unterstützen. Viele Kämpfer des IS stammen aus dem Land am Bosporus. Ein Anschlag im türkischen Suruc hat die Lage verändert. Nun gibt es sogar bewaffnete Auseinandersetzungen an der Grenze.

Ankara hatte die Terrormiliz als Nachbar lange geduldet. Sowohl im In- als auch im Ausland wurde Ankara eine zu passive Haltung vorgeworfen. In einer Erklärung machte die Regierung am Freitag den IS erstmals offiziell für den Anschlag in Suruc nahe der syrischen Grenze mit 32 Toten verantwortlich. Zuvor hatte Ministerpräsident Ahmet Davutoglu lediglich von ersten Hinweisen auf einen IS-Selbstmordattentäter gesprochen. Die regierungsnahe Nachrichtenagentur Anadolu gab unter Berufung auf Sicherheitskreise die Identität des Selbstmordattentäters bekannt: Ein 20-jähriger Türke aus dem osttürkischen Adiyaman. Dort soll er sich radikalisiert und nach Angaben türkischer Medien vor dem Attentat dem IS im Nachbarland Syrien angeschlossen haben. Sollte sich das bestätigen, wäre es ein Hinweis darauf, dass die Türkei nicht nur ein Transitland für Dschihadisten ins Bürgerkriegsland Syrien ist, sondern zunehmend auch ein Extremismusproblem im eigenen Land hat. Gerade in Aydiman haben sich Recherchen des Journalisten Idris Emen zufolge viele Jugendliche extremistischen Gruppen in Syrien angeschlossen.

Friedensprozess mit den Kurden stark gefährdet

Aaron Stein, Türkei-Experte des britischen Think-Tanks „Royal United Services Institute“, glaubt, dass sich die türkische Regierung zu sehr auf ausländische Kämpfer konzentriere und zu wenig gegen Türken unternehme, die sich dem IS anschließen wollten. Auch die Opposition wirft der Regierung in Ankara vor, zu wenig gegen den IS zu unternehmen.

Ich weiß noch nicht mal, ob wir überhaupt noch einen Friedensprozess haben.

Aaron Stein

Die pro-kurdische Partei HDP, die vor zwei Wochen mit 13 Prozent ins Parlament gewählt wurde, machte die Regierung gar mitverantwortlich für das Attentat. Und die verbotene kurdische Arbeiterpartei PKK goss zusätzlich Öl ins Feuer. Sie ermordete am Mittwoch nach eigenen Angaben zwei Polizisten als „Vergeltung“ für das Attentat in Suruc. Am Donnerstag wurde in der osttürkischen Stadt Diyarbakir ein weiterer Polizist erschossen und zwei Beamte verletzt. Es wurde nicht ausgeschlossen, dass auch diese Tat auf der Konto der PKK ging. Der Friedensprozess zwischen Regierung und Kurden scheint damit sehr gefährdet. „Ich weiß noch nicht mal, ob wir überhaupt noch einen Friedensprozess haben“, sagte Stein der Deutschen Presse-Agentur dpa. Doch das Vertrauen vor allem der kurdischen Bevölkerung hat die Türkei schon früher verspielt, unter anderem weil die Türkei die der PKK nahe stehenden kurdischen Milizen beim Kampf gegen den IS um die syrisch-kurdische Stadt Kobane nicht unterstützte. Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan sagt, die Türkei werde keinen Kurdenstaat an ihrer Grenze dulden und befeuerte damit das Misstrauen in der kurdischen Bevölkerung weiter.

Innenpolitische Krise hält an

Innenpolitisch kommen schwere Zeiten auf die Türkei zu. Verschärft wird die Situation dadurch, dass nach den Parlamentswahlen am 7. Juli noch immer keine neue Regierung gebildet wurde. Die islamisch-konservative AKP führt zurzeit Koalitionsgespräche mit der Mitte-Links Partei CHP. Neuwahlen sind deshalb nicht ausgeschlossen.

Die Türkei geht endlich gegen den IS vor – jedenfalls sieht es so aus

Die AKP beteuerte, resolut gegen den IS vorzugehen. Am Mittwoch bekräftigte Vize-Ministerpräsident Bülent Arinc: „Daesh (IS) ist eine von der Türkei verdammte Terrororganisation.“ Die Türkei sei entschlossen, gegen diese sowie gegen jede Form von Terror zu kämpfen. Tatsächlich gab es in den vergangenen Wochen Razzien gegen IS-Anhänger in der Türkei. Am Donnerstag starb ein türkischer Soldat bei einem Gefecht in der Provinz Kilis an der Grenze zu Syrien. Vier weitere Soldaten seien verletzt worden, berichtete die Nachrichtenagentur DHA. Zunächst war unklar, wer das Feuer eröffnet hatte, aber dieser Grenzabschnitt wird auf syrischer Seite vom IS kontrolliert.

Die türkische Republik ist entschlossen, alle nötigen Maßnahmen zur nationalen Sicherheit zu ergreifen.

Türkische Regierung

Doch die Türkei schoss mit Artillerie zurück und tötete dabei offenbar einen IS-Kämpfer. Türkische Kampfflugzeuge haben erstmals Angriffe auf Stellungen des IS im benachbarten Syrien geflogen. Drei Kampfflugzeuge vom Typ F-16 seien vor Sonnenaufgang vom Stützpunkt Diyarbakir aufgestiegen und hätten Ziele im Norden des Nachbarlandes beschossen, teilte das Büro des Ministerpräsidenten am Freitag in einer Erklärung mit. „Die türkische Republik ist entschlossen, alle nötigen Maßnahmen zur nationalen Sicherheit zu ergreifen“, hieß es in der Mitteilung. Bei den Bombardements am frühen Morgen seien zwei Hauptquartiere und ein Sammelpunkt der Extremisten getroffen worden, erklärte Regierungschef Ahmet Davutoglu.

Die USA dürfen Stützpunkt Incirlik nutzen

Nach langem Zögern erlaubt die Türkei nun auch dem Nato-Partner USA, den strategisch wichtigen Stützpunkt Incirlik für Luftangriffe auf die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) zu nutzen. Dies erfuhr die dpa in der Nacht von einem Vertreter des US-Verteidigungsministeriums. Die Türkei gehört zwar dem US-geführten Bündnis gegen den IS an, hat aber die Nutzung Incirliks für Luftangriffe gegen die Dschihadisten bislang verweigert. Die Regierung in Ankara hatte gefordert, den Sturz des syrischen Präsidenten Baschar al-Assad zum Teil der Strategie des Bündnisses im Nachbarland zu machen. Die Basis liegt in der Nähe der südosttürkischen Stadt Adana, etwa gut 100 Kilometer von der syrischen Grenze entfernt. Von Incirlik aus könnten die USA nicht nur mit Flugzeugen, sondern auch mit Kampfhubschraubern im Norden Syriens eingreifen. Die Basis liegt außerdem näher an der nordirakischen Grenze als Stützpunkte in den Golfstaaten, von denen aus die Allianz Angriffe gegen IS-Stellungen fliegt.

Neue Razzia gegen Kurden und den IS

Bei einer großangelegten Polizeiaktion gegen mutmaßliche Anhänger der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) und der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK sind in der Türkei 251 Verdächtige festgenommen worden. Die Regierung erklärte, die Razzia habe in 13 Provinzen stattgefunden. Unklar blieb, wie viele der Festgenommenen mutmaßlich dem IS und wie viele der PKK angehören.

(dpa/avd)