Der Alleinherrscher: Recep Erdogan. (Bild: Imago/Depo Photos)
Türkei

Erdogan lässt Lehrpläne umschreiben

Bundeskanzlerin Merkel kommt Anfang Februar zu einem Staatsbesuch in die Türkei. Das Land am Bosporus ist kaum wiederzuerkennen: Recep Erdogan hat es in eine islamistische Diktatur verwandelt. Jetzt werden schon die Lehrpläne im Sinne des Alleinherrschers umgeschrieben.

Bundeskanzlerin Merkel (CDU) wird am 2. Februar, einen Tag vor dem EU-Gipfel auf Malta, zu politischen Gesprächen in die Türkei reisen. Zuvor hatte die Nachrichtenagentur Anadolu gemeldet, bei dem Besuch werde es unter anderem um die Flüchtlingskrise, die Zusammenarbeit im Kampf gegen den Terrorismus und Wirtschaftsbeziehungen gehen. Erwartet wird, dass Merkel in Ankara mit Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan zusammenkommt. Erdogan hat im Streit um die Visafreiheit wiederholt mit der Aufkündigung des Flüchtlingspaktes mit der EU gedroht. Er wirft der Bundesregierung zudem vor, nicht gegen die verbotene kurdische Arbeiterpartei PKK und die Gülen-Bewegung in Deutschland vorzugehen. Ankara hat sich zudem verärgert über deutsche Kritik zur Lage der Demokratie in der Türkei gezeigt.

Lehrplan auf islamische Art: Ohne Evolutionstheorie

Diese „Demokratie“ ist mittlerweile eine reine Diktatur, dazu braucht es nicht mal mehr den von Erdogan angestrebten Umbau der Verfassung in ein Präsidialsystem. Die Reform laufe auf das „Diktat eines einzigen Mannes“ hinaus, kritisierte etwa die unabhängige Abgeordnete Aylin Nazliaka, die sich während der Debatte um die neue Verfassung an das Rednerpult im Sitzungssaal kettete.

Dies belegen zum einen die neuesten gymnasialen Lehrpläne, die der türkische Bildungsminister Ismet Yilmaz vorgelegt hat. Wie die österreichische Tageszeitung Der Kurier, der SZ-Korrespondent Yavuz Baydar sowie andere Medien übereinstimmend berichten, soll womöglich schon ab Februar die Evolutionstheorie in Zukunft aus diesen Lehrplänen gestrichen werden.

Ein türkischer High-School-Absolvent wird nichts über eine der wichtigsten wissenschaftlichen Theorien lernen.

Mustafa Akyol, Journalist

„Darwins Untersuchungen führten zu einer Theorie, ähnlich wie die Physik die Theorie vom Urknall hervorbrachte. Diese Themen müssen separat außerhalb des schulischen Lehrplans erörtert werden“, zitiert die türkische Zeitung Haberturk den Bildungsminister. „Ein türkischer High-School-Absolvent wird nichts über eine der wichtigsten wissenschaftlichen Theorien lernen“, kritisierte dagegen der Journalist Mustafa Akyol im Internetmagazin Al-Monitor. Schon 2009 wurde auf Anordnung des staatlichen Wissenschaftsrates in der Zeitschrift „Bilim ve Teknik“ („Wissenschaft und Technik“) die Veröffentlichung eines Artikels über Darwin (inklusive des Titelblatts) gestoppt, obwohl es das 150-jährige Jubiläum der Theorie war. Die Herausgeberin wurde entlassen.

Trennung von Staat und Kirche wird zur „Krankheit“

Das ist aber nur eine der umstrittenen Pläne eines ganzen Maßnahmenpakets zur weiteren Islamisierung des Landes. Darunter befindet auch die Forderung, dass „Säkularismus“, „Atheismus“ und „Wiedergeburt“ in Religionsbüchern als „problematische Überzeugungen“ und als „Krankheiten“ eingestuft werden sollen. Auch der türkische Republikgründer und überzeugte Säkularist Atatürk soll weitgehend aus den Lehrbüchern verschwinden, ebenso sein Nachfolger Inönü, der das Land aus dem Zweiten Weltkrieg heraushielt. In den religiösen höheren Schulen sei der Dschihad, der „Heilige Krieg“, in die Schulbücher aufgenommen und Arabisch als verpflichtende Sprache eingeführt worden. SZ-Autor Baydar berichtet, dass schon seit der AKP-Machtübernahme 2002 eine „schleichende Islamisierung“ des Bildungssystems etwa über die Schulbücher einsetzte, die sich 2010 beschleunigte. Islamischer Religionsunterricht (nach der sunnitischen Richtung) wurde dann verpflichtend, was für die vielen Minderheiten im Land eine Zumutung war. Urteile des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte zur freien Wahl beim Religionsunterricht, die von der Aleviten-Minderheiten erstritten wurden, seien von der regierenden AKP einfach ignoriert worden, so Baydar.

Ohne rationale Wissenschaft kann dieses Land nicht existieren. Sonst landen wir im Mittelalter. Es wird von Tag zu Tag schlimmer.

Kerem Cankocak

Die AKP beschwichtigt, dies seien nur Entwürfe – doch glauben will diesen Ausreden niemand mehr. Die Regierungspartei versuche ein ideologisch motiviertes Bildungsprogramm zu etablieren, sagen seit langem die Kritiker. Dies zeigt auch das folgende Zitat aus dem Jahr 2012. „Demnächst müssen wir auch noch unterrichten, dass sich die Sonne um die Erde dreht. Ohne rationale Wissenschaft kann dieses Land nicht existieren. Sonst landen wir im Mittelalter. Es wird von Tag zu Tag schlimmer“, so der Regierungskritiker Kerem Cankocak damals im Deutschlandfunk. Als eine der ersten Maßnahmen wurde das Kopftuchverbot an Bildungseinrichtungen gelockert.

Als Präsident meines Landes kann ich nicht akzeptieren, dass unsere Zivilisation anderen Zivilisationen unterlegen ist.

Recep Erdogan, 2014

2014 wies Erdogan die Bildungseinrichtungen des Landes an, die Beiträge des Islams zur globalen Wissenschaft und Kunst verstärkt in den Vordergrund zu stellen.

„Als Präsident meines Landes kann ich nicht akzeptieren, dass unsere Zivilisation anderen Zivilisationen unterlegen ist“, so der AKP-Frontmann bei der Eröffnung einer Religionsschule in Ankara. Es ist auch noch nicht lange her, dass Erdogan in die Lehrpläne aufnehmen wollte, dass Muslime Amerika entdeckt hätten – eine Ansicht, die niemand weltweit teilt – außer seinen Anhängern. Nach dem angeblichen Putsch 2016 ließ Erdogan hunderte Lehrer und Professoren sowie Wissenschaftler verhaften, suspendieren oder entlassen. Ob sie alle Gülen-Anhänger waren, wird stark bezweifelt. An einem deutschen Gymnasium erhielt kürzlich das Kollegium von der vom Bildungsministerium in Ankara eingesetzten türkischen Schulleitung eine Mail, „dass ab sofort nichts mehr über Weihnachtsbräuche und über das christliche Fest im Unterricht mitgeteilt, erarbeitet sowie gesungen wird“.

All das ist eigentlich ein klarer Verfassungsbruch: Laut der noch geltenden türkischen Verfassung dürfen „heilige religiöse Gefühle“ nicht „mit den Angelegenheiten und der Politik des Staates“ vermischt werden. Doch gerade diese Verfassung kümmert Erdogan nicht mehr – er will sie ja ändern. Und das türkische Verfassungsgericht hat er durch verschiedene Maßnahmen, darunter die Suspendierung zweier Richter, ausgeschaltet.

Rekordzahl bei Klagen gegen die Türkei

Ein weiteres Beispiel für die Zustände in der Türkei: Nach dem Putschversuch in der Türkei haben die Klagen gegen das Land vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte massiv zugenommen. Die Zahl der Beschwerden sei 2016 im Vergleich zum Vorjahr um 276 Prozent gestiegen, sagte Gerichtspräsident Guido Raimondi in Straßburg. 5363 Beschwerden und damit über die Hälfte der Neueingänge betreffen den Putschversuch. Befürchtet wird gar eine Blockade des Gerichtshofs durch die Vielzahl der Klagen. Nach Angaben der türkischen Regierung sitzen im Zusammenhang mit dem Putschversuch vom 15. Juli 2016 derzeit 43.000 Menschen in Untersuchungshaft, fast 100.000 Staatsbedienstete wurden entlassen.

Die beginnende Diktatur im Nachbarland erkennen auch griechische Richter: Acht türkische Soldaten, die in Griechenland Asyl beantragt haben, dürfen nach einem Urteil des höchsten griechischen Gerichtshofes nicht an ihr Heimatland ausgeliefert werden. Es sei nicht auszuschließen, dass die Männer in der Türkei ein unfaires Verfahren erwarte oder dass sie dort gefoltert würden. Zudem wäre eine Auslieferung nicht vereinbar mit der Europäischen Menschenrechtskonvention, hieß es.