"Italien sagt Ja" - Premierminister Matteo Renzi wirbt für ein Ja beim bevorstehenden Verfassungsreferendum. (Bild: Imago/Italy Photo Press)
Referendum

Italiens Nagelprobe

Paradoxe Sorgen vor Italiens Verfassungsreferendum: Weil Premierminister Matteo Renzi nach einem „Nein“ abtreten will, drohen dem Land – und Europa – politische Erschütterungen und womöglich die Rückkehr der Finanzkrise. Ein „Ja“ andererseits birgt ebenfalls Gefahren. Eine Analyse des "kranken Mannes in Europa".

Bringt Italiens Verfassungsreferendum am 4. Dezember das Land einem autoritären Regime näher? Das fürchtet das Londoner Wochenmagazin The Economist und rät darum den italienischen Wählern, am Sonntag mit „Nein“ zu stimmen – gegen einen fast europaweiten Meinungstrend, der für Italien und die EU Erschütterungen erwartet, sollten die Wähler das Verfassungsreformprojekt von Premierminister Matteo Renzi abschmettern. Das 173 Jahre alte britische Qualitätsmagazin neigt nicht zur Hysterie, sondern ist eher für britisches Understatement bekannt. Worum geht es also?

Quasi-Abschaffung des Senats

Im Zentrum der von Renzi avisierten Verfassungsreform, der die Wähler jetzt zustimmen sollen, steht Roms zweite Parlamentskammer, der Senat. Renzi will ihn entmachten und verkleinern. Bislang haben die 315 Senatoren genau die gleichen Kompetenzen wie die exakt doppelt so vielen Abgeordneten in der Camera dei deputati – dem Abgeordnetenhaus. Was das Regieren manchmal schwer macht: Gesetzentwürfe können jahre- oder gar jahrzehntelang zwischen den beiden gleichberechtigten Parlamentskammern hin und her gespielt werden. Theoretisch jedenfalls. Tatsächlich produzieren die beiden italienischen Kammern trotzdem mehr Gesetze als etwa Deutschland, Frankreich oder Großbritannien.

Der Senat soll politisch völlig ausgeschaltet werden und nur noch bei Verfassungsänderungen mitwirken können.

Renzi will Italiens perfekten Bi-Cameralismus, wie Experten die Gleichberechtigung der beiden Parlamentskammern nennen, dennoch ändern. Geht es nach seiner Verfassungsreform, soll der Senat im Grunde politisch völlig ausgeschaltet werden und nur noch bei Verfassungsänderungen mitwirken können. Zudem soll die Zahl der Senatoren auf 100 schrumpfen. Sie sollen auch nicht mehr direkt, sondern von den Regionalräten gewählt werden. Weil sie schon von den Regionen und Gemeinden bezahlt werden, erhalten sie dann auch keine weiteren Vergütungen mehr.

Mit der zur Abstimmung stehenden Verfassungsreform sollen außerdem die Regionen Kompetenzen an Rom zurückgeben. In den Bereichen Sozialpolitik, Infrastruktur, Verkehr, Umwelt und Energie wächst dann die Liste der exklusiven Zuständigkeiten der Zentralregierung. Und schließlich geht es in dem Referendum um neue Regeln für die Wahl des Präsidenten durch die beiden Parlamentskammern: Sie soll einfacher werden, mit weniger Zwang zum parteiübergreifenden Konsens.

Neues Wahlrecht mit garantierter absoluter Mehrheit

Aber die scharfe Kante, die The Economist so beunruhigt, erhält die geplante Verfassungsreform durch ein 2015 verabschiedetes neues Wahlgesetz, das schon seit 1. Juli in Kraft ist. Entscheidende Neuerung ist darin eine Mehrheitsprämie für den Wahlsieger: Wenn eine Partei 40 Prozent der Stimmen erreicht, erhält sie automatisch 54 Prozent der Mandate. Kommt keine Partei auf 40 Prozent, gehen die beiden stärksten Parteien in die Stichwahl um diese Mehrheitsprämie.

Wenn es nach Renzi geht, soll Italien sozusagen einen gewählten starken Mann erhalten – mit garantierter absoluter Parlamentsmehrheit und dann eben ohne die störende politische Kontrolle.

Seit Kriegsende hat Italien schon 63 Regierungen gesehen, allesamt Koalitionsregierungen. Das neue Wahlrecht mit Mehrheitsprämie und die Fast-Abschaffung des Senats soll dem Land stabile Regierungen bescheren, die eine gesamte fünfjährige Wahlperiode ohne typisch italienische Widerstände durchregieren können.

Populistische Gefahr

Wenn es nach Renzi geht, soll Italien sozusagen einen gewählten starken Mann erhalten – mit garantierter absoluter Parlamentsmehrheit und dann eben ohne die störende politische Kontrolle durch Senat und Regionen. Zum denkbar falschen, höchst gefährlichen Moment, warnt The Economist. Tatsächlich sind genau jetzt vielerorts in Europa populistische Parteien auf dem Vormarsch, ganz besonders in Italien. Das britische Wochenblatt sieht darum die akute Gefahr, dass niemand anderes als ausgerechnet Beppe Grillo und seine populistische Fünf-Sterne-Bewegung zum großen Nutznießer von Renzis Verfassungs- und Wahlrechtreform werden könnten – und Grillo eines baldigen Tages Premierminister mit dann fast diktatorischer Machtvollkommenheit. Richtig ist, dass Italiens Verfassung von 1948 just das Ziel hat, eine Wiederholung der Mussolini-Erfahrung auszuschließen. Darum die beiden gleichberechtigten Parlamentskammern und die Autonomierechte für die Regionen.

Ein Votum für Renzis Reformen könnte die Chancen erhöhen, dass die Regierungsmacht an eine Bewegung geht, die von einem euroskeptischen ehemaligen Clown angeführt wird. Die Lacher werden dann aber auf Kosten Renzis gehen – und Italiens.

The Economist

Tatsächlich liegt in aktuellen Umfragen Grillos Bewegung schon seit Monaten mit um die 30 Prozent nur ganz knapp hinter Renzis Demokratischer Partei (PD) – oder auch mal knapp davor. Bei den Regionalwahlen im vergangenen Juni gewann die Fünf-Sterne-Bewegung die Bürgermeisterposten in Rom und Turin. Das neue Wahlrecht mit seinen zwei Wahlrunden sei geradezu maßgeschneidert für eine populistische Bewegung, die sich als weder rechts noch links gibt und darum in einer Stichwahl die Stimmen aller ausgeschiedenen Parteien auf sich vereinen könne, ahnt The Economist: „Ein Votum für Renzis Reformen könnte die Chancen erhöhen, dass die Regierungsmacht an eine Bewegung geht, die von einem euroskeptischen ehemaligen Clown angeführt wird. Die Lacher werden dann aber auf Kosten Renzis gehen – und Italiens.“

Das Problem ist, wenn man die die einzelnen Reformen zusammen betrachtet, dann laufen sie auf die Beseitigung aller ‚checks and balances‘ – aller politischen Kontrollen der Regierungsmacht – hinaus.

The Financial Times

Wenige Tage vor der Abstimmung liegt letzten Umfragen zufolge aber das „Nein“ mit etwa 55 Prozent der Stimmen deutlich vorne, bei allerdings über zehn Prozent noch Unentschiedenen. Interessant: Wenn man die Wähler zu den einzelnen inhaltlichen Punkten des Referendums befragt, dann stimmen sie ihnen zu, zum Teil sogar mit deutlichen Mehrheiten. Jeder einzelne Schritt des Plans von Renzi sei schlüssig, erläutert die Londoner Tageszeitung The Financial Times unmittelbar vor dem Referendumstermin: „Das Problem ist, wenn man die die einzelnen Reformen zusammen betrachtet, dann laufen sie auf die Beseitigung aller ‚checks and balances‘ – aller politischen Kontrollen der Regierungsmacht – hinaus.“ Viele italienische Wähler sehen das offenbar genauso.

Referendum über Matteo Renzi

Dazu kommt wachsender Wähler-Unmut über Renzi. Weil der Premier völlig unnötigerweise sein politisches Schicksal mit dem Ausgang des Votums verknüpft hat, ist die Abstimmung darum nun zum Referendum über den Premier und seine Regierung geworden – und der Trend gegen ihn scheint zu wachsen. Noch zu Jahresanfang erfreute sich Renzi hoher Popularitätswerte. Das „Ja“ zum Verfassungsreferendum schien sicher. Inzwischen sind seine Zustimmungswerte auf 30 bis 35 Prozent gesunken.

Enttäuschende Renzi-Bilanz: Wirtschaftswachstum im Null-Komma-Bereich, 11,7 Prozent Arbeitslosigkeit, 39,2 Prozent Jugendarbeitslosigkeit, stagnierende Haushaltseinkommen.

Kein Wunder: Nach zweieinhalb Jahren Amtszeit ist Renzis Bilanz für die Wähler enttäuschend: Wirtschaftswachstum im Null-Komma-Bereich, Arbeitslosigkeit von 11,7 Prozent (Jugendarbeitslosigkeit sogar bei enormen 39,2 Prozent), stagnierende Haushaltseinkommen. Die Rezession ist überwunden, aber das Pro-Kopf-Einkommen liegt noch immer um zehn Prozent unter dem Wert von 2007. Renzis Reformen und Reförmchen zeigen (noch) keine Wirkungen. Die Wähler haben den Glauben an Renzis Versprechungen verloren – vor allem die jungen Leute. Was wieder Beppe Grillo und seinen Populisten in die Hände spielt.

Die Wähler sind verschreckt und sehen keine Lösungen. Sie werden die Abstimmung nutzen, um diejenigen abzustrafen, die an der Macht sind.

Giovanni Orsina, Politik-Professor in Rom

Eine Rolle spielt auch das Wiederaufflackern der Migranten-Krise während der Regierung Renzi. Allein in diesem Jahr hat sie schon über 160.000 hauptsächlich schwarzafrikanische Migranten an Italiens Küsten gespült, erinnert The Financial Times und zitiert einen römischen Politikprofessor: „Die Wähler sind verschreckt und sehen keine Lösungen. Sie werden die Abstimmung nutzen, um diejenigen abzustrafen, die an der Macht sind, und das Paradoxe dabei ist, dass Renzi jetzt als Quintessenz des Establishments gesehen wird.“

Renzi allein gegen alle

Der Widerstand gegen Renzis Verfassungsreferendum nährt sich aus allen politischen Lagern. Vergangenen Samstag haben in Rom 40.000 Italiener gegen die Renzi-Regierung und ihre Arbeitsmarktreform protestiert – eine der wenigen überaus notwendigen Reformen, die Renzi mühsam erzwingen konnte. Linksparteien und Gewerkschaften riefen zum „No-Renzi“-Tag auf. Ex-Premier Silvio Berlusconi und seine Forza Italia, die 2006 eine erste Senatsreform auf den Weg brachten, sind jetzt dagegen, ebenso die rechtspopulistische Lega Nord und natürlich Beppe Grillos Fünf-Sterne-Bewegung. Sogar auf dem linken Flügel seiner PD gibt es massiven Widerstand gegen die Verfassungsreform. Auch der ehemalige parteilose Ministerpräsident und EU-Kommissar Mario Monti wendet sich gegen die Verfassungsreform. Fast geschlossen dafür und für Renzis Reformpaket sind Wirtschaft und Industrieverbände.

Eine Geste, die in Italien sehr bemerkt wurde und in Frankreich gelobt – vom Front National.

Le Monde

Beunruhigend: Um vor allem seinen populistischen Kritikern den Wind aus den Segeln zu nehmen, hat in den letzten Wochen auch Renzi selber einen sichtbar populistischen Kurs eingeschlagen – mit deutlicher Spitze gegen die EU-Kommission, die Roms Haushaltsentwurf für 2017 für die geplante höhere Neuverschuldung kritisiert hat. Immer lauter pocht Renzi auf Ausgabenpolitik, gegen die Brüsseler Stabilitätsregeln. Mitte November drohte er gar, den EU-Haushalt per Veto zu Fall zu bringen, wenn nicht mehr Geld zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit und zur Bewältigung der Migrantenkrise ausgegeben würde. Vor einer Pressekonferenz ließ er alle EU-Flaggen aus dem Saal entfernen und präsentierte sich vor einer Wand grün-weiß-roter Italien-Fahnen. „Eine Geste, die in Italien sehr bemerkt wurde und in Frankreich gelobt – vom Front National“, kommentierte die Pariser Tageszeitung Le Monde unter dem Titel: „In Italien – Matteo Renzi allein gegen alle.“

Finanz-Turbulenzen nach einem „Nein”?

Wenn die Prognosen recht behalten, wird Renzi am Sonntag mit seinem wichtigsten Reformprojekt scheitern. Aber auch das „Nein“ ist heikel und potentiell problematisch für Italien und Europa, weil Renzi dann zurücktreten will. Dann stellt sich die Frage, wie es in Rom weiter gehen soll. Falls Renzi nicht doch weiter macht, gibt es zwei Möglichkeiten: Präsident Sergio Mattarella ernennt einen neuen Premier – wahrscheinlich aus Renzis PD –, der bis zum Ende der Legislaturperiode im Jahr 2018 durchhält. Oder er beauftragt eine Übergangsregierung, die Neuwahlen vorbereiten muss. Was dann die akute Gefahr eines Wahlsieges der Fünf-Sterne-Populisten heraufbeschwören würde.

In beiden Fällen droht dem Land politische Ungewissheit. Die könnte Turbulenzen an den Börsen auslösen und „Schocks“ für Italiens – und Europas – Finanzstabilität, warnte kürzlich EZB-Vizepräsident Vitor Constancio. Kein Wunder, Italiens Finanzlage ist dramatisch labil: Die Staatsverschuldung beläuft sich auf 135 Prozent des Bruttoinlandsproduktes. Italiens marode Banken sind gefährlich unterkapitalisiert und mit notleidenden Krediten über 360 Milliarden Euro belastet – was etwa 20 Prozent der italienischen Wirtschaftsleistung entspricht.

Italien stellt schon lange die größte Gefahr für das Überleben des Euro und der Europäischen Union dar.

The Economist

Besonders heikel: In den zurückliegenden Wochen und Monaten haben die Renditen auf zehnjährige italienische Staatsanleihen angezogen: von 1,4 auf jetzt 2,1 Prozent. Die Differenz zum deutschen Wert – der sogenannte „spread“ – beträgt jetzt 186 Basispunkte. Wenn dieser Zinssatz weiter stiege, würde Italiens immense Schuldenlast schnell untragbar. Rom droht ein griechisches Bankrott-Szenario. Griechenland konnten EU, EZB und IWF bislang retten. Aber Italien, die drittgrößte Wirtschaft des Euro-Raums, ist zu groß für jede Rettung. „Italien stellt schon lange die größte Gefahr für das Überleben des Euro und der Europäischen Union dar“, warnt wieder The Economist. In der Tat: Italien ist „der große kranke Mann Europas“ und wird zunehmend zum Risiko.