„Dschungel“ wird geräumt
Der „Dschungel“ von Calais wird geräumt. Fast 10.000 Migranten sollen auf 451 Aufnahmezentren in ganz Frankreich verteilt werden – ohne Zwang. Großbritannien soll unbegleitete Minderjährige übernehmen. In der Stadt bleibt die Angst vor der Rückkehr der Migranten an die Kanalküste.
Calais

„Dschungel“ wird geräumt

Der „Dschungel“ von Calais wird geräumt. Fast 10.000 Migranten sollen auf 451 Aufnahmezentren in ganz Frankreich verteilt werden – ohne Zwang. Großbritannien soll unbegleitete Minderjährige übernehmen. In der Stadt bleibt die Angst vor der Rückkehr der Migranten an die Kanalküste.

„Man muss die Wahrheit sagen: Der größte Teil der Migranten in Calais sind keine Flüchtlinge.“ So titelte am ersten Tag der Räumung des riesigen wilden Migranten-Lagers bei Calais nahe dem Eingang zum Euro-Tunnel, die Pariser Tageszeitung Le Figaro auf ihrer Internetseite. Die Migranten in Calais befänden sich nicht an der französischen Kanalküste weil sie auf der Flucht vor Verfolgung seien, sondern weil sie unbedingt nach Großbritannien kommen wollten, illegal und um jeden Preis. Der sogenannte Dschungel sei eine Schengen-Folge, impliziert das Blatt: Gemäß dem Schengener Abkommen waren Frankreichs EU-Binnengrenzen offen. Aber die britischen Grenzen waren und sind nicht offen – weil die Briten am Schengener Abkommen nicht teilgenommen haben.

Das Drama von Calais ist dasjenige eines Staates, der abgedankt hat, der ohnmächtig ist, der unfähig ist, seine Verantwortung wahrzunehmen und seiner Hauptaufgabe nachzukommen: dem Gesetz Geltung zu verschaffen.

Le Figaro

Nur darum säßen die Migranten jetzt in Calais fest. Keiner von ihnen habe Anspruch auf Asyl in Frankreich, so Le Figaro: „Tatsächlich sind sie irreguläre Ausländer, die gar nicht das Recht hatten, französisches Territorium zu betreten, und denen die Gesetze der Republik verbieten, sich hier aufzuhalten.“ Jahrelang habe der französische Staat darauf verzichtet, Recht und Gesetz durchzusetzen. Le Figaro: „Das Drama von Calais ist dasjenige eines Staates, der abgedankt hat, der ohnmächtig ist, der unfähig ist, seine Verantwortung wahrzunehmen und seiner Hauptaufgabe nachzukommen: dem Gesetz Geltung zu verschaffen.“ Was einer großen Einladung gleichkam und wohl eine der Hauptursachen war für die Magnetwirkung von Calais auf zuletzt fast 10.000 hauptsächlich schwarzafrikanische und afghanische Migranten.

Humanitäre Operation

Das war schon lange ein unhaltbarer Zustand und jetzt einer der Gründe dafür, dass sich Paris endlich entschloss, den „Dschungel“ endgültig und vollständig räumen zu lassen. In der Pariser Tageszeitung Le Monde schrieb Innenminister Bernard Cazeneuve zusammen mit der grünen Ministerin für Wohnen und nachhaltige Wohnquartiere, Emmanuelle Cosse, von einer „humanitären Operation, bei der es für Frankreich um seine Verantwortung wie um die Treue zu seinen Werten“ ginge.

Am vergangenen Montag (24. Oktober) um 8 Uhr 35 hat die gigantische Operation begonnen: 6500 bis 8500 Migranten sollen von Calais aus in sogenannte Aufnahme- und Orientierungszentren (CAO) überall im Land – außer der Hauptstadt Paris und der Insel Korsika – verlegt werden. Jeweils in Bussen zu 50 Migranten mit zwei Begleitern. Am Montag sollte die Großoperation mit 60 Busfahrten beginnen, jede Viertelstunde ein Bus. An den folgenden Tagen sollen je 45 Busse folgen. Eine ganze Woche hat das Innenministerium eingeplant und insgesamt 170 Busse bereitgestellt − alle Busse mit GPS-Ortungsgeräten ausgestattet, damit man immer weiß, wo sie sind. 3350 Polizisten und Gendarme sichern die Großoperation in Calais und entlang den Strecken an genau geplanten Pause-Stationen.

Nein zum Cazeneuve-Plan über die Verteilung der Migranten von Calais in unsere Regionen!

Les Républicains

Vor der Abfahrt musste sich jeder Migrant für eine von zwei Zielregionen entscheiden, dann ging es los. „Jede Region, jedes Departement muss einige dutzend oder hundert Migranten aufnehmen, je nach ihren Möglichkeiten“, erläuterte Cazeneuve in Le Monde. Dagegen hatte es vielerorts massiven Protest gegeben. Die Oppositionspartei der Républicains warb auf ihrer Internetseite bildschirmfüllend für ein „Nein zum Cazeneuve-Plan über die Verteilung der Migranten von Calais in unsere Regionen!“ Präsidenten von Regional- und Départementalräten schimpften, vom Innenministerium über die Standorte der CAO-Zentren im Dunkeln gelassen worden zu sein. Von Cazeneuves „Geheimplan“ war die Rede. Im Städtchen Saint-Brevin-Les Pins im Département Loire-Atlantique an der Loire-Mündung wurde Anfang Oktober auf ein leerstehendes, für Migranten vorgesehenes Ferienzentrum geschossen, berichtet Le Figaro. Im Département Puy-de-Dome im Zentralmassiv wurde noch diesen Montag ein geplantes Aufnahmezentrum durch Brandstiftung beschädigt. 9000 Unterkünfte für Migranten hatte das Innenministerium frei machen wollen – am Schluss wurden es 7500 in insgesamt 451 Aufnahmezentren.

In den CAO-Zentren sollen die Migranten überredet werden, in Frankreich Asyl zu beantragen, um dann längerfristig in Aufnahmezentren für Asylbewerber (Cada) verlegt zu werden. Wer sich darauf nicht einlässt, muss in sein Ursprungsland zurückgeführt werden – theoretisch.

Großbritannien soll unbegleitete Minderjährige übernehmen

Vor Beginn der Operation hat Cazeneuve auch „unseren britischen Partner“ in die Pflicht genommen: „Eine große Zahl unbegleiteter Minderjähriger in Calais hat Familie im Vereinigten Königreich, zu der sie so schnell wie möglich finden muss. Das Vereinigte Königreich muss hier seiner Verantwortung gerecht werden.“ Knapp 1300 unbegleitete Minderjährige sollen darum vorerst für zwei weitere Wochen in Calais bleiben, in einem provisorischen Aufnahmelager aus 125 Containern zu je 12 Betten. Das britische Innenministerium hat denn auch ein Dutzend Beamte nach Calais geschickt, die dort in Zweier-Teams mit französischen Kollegen alle Fälle einzeln bearbeiten. Die ersten jugendlichen Migranten durften schon in der Woche vor Beginn der Auflösung des „Dschungels“ auf die andere Seite des Kanals. Täglich sollen nun bis zu 45 weitere folgen.

Dann werde ich jetzt halt sagen, dass ich 17 Jahre alt bin.

26-jähriger Afghane in Calais (Le Monde)

Nach Fernsehbildern von unbegleiteten minderjährigen Migranten, die nicht wirklich jugendlich wirkten, forderten britische Abgeordnete prompt, das Alter der Migranten von Ärzten untersuchen zu lassen. Das Misstrauen ist begründet: „Wenn die Jugendlichen in Bussen nach London aufbrechen, und ich seit sieben Monaten versuche, rüber zu kommen, dann werde ich jetzt halt sagen, dass ich 17 Jahre alt bin“, zitierte Le Monde einen 26-jährigen Afghanen in Calais. Auch alle Frauen, die behaupten, einen Ehemann in Großbritannien zu haben, möchte Cazeneuve gern sofort über den Kanal schicken. Aber darauf haben sich die Briten noch nicht eingelassen. Von ihren pakistanischen Einwanderern wissen sie, dass sie diese Ehen auch telefonisch schließen können und dann die Braut selber nicht einmal am Telefon dabei sein muss.

2000 räumungsunwillige Migranten

Ob Cazeneuves große Räumungsoperation funktioniert, ist offen. Bedenkliches Zeichen: Statt der geplanten 60 sind am Montag doch nur 45 Busse abgefahren – weil der Andrang in Calais schnell geringer wurde. Statt 2400 Migranten sind am ersten Tag so nur 1918 in den CAO-Zentren angekommen. Beobachter rechnen damit, dass am kommenden Wochenende etwa 2000 „recalcitrants“ – Widerstrebende – im Dschungel von Calais übrig bleiben werden. Besonders Afghanen, die etwa 40 Prozent der Migranten im Dschungel von Calais ausmachen, zögern, sich auf eine Asylbewerbung einzulassen, berichtet Le Monde. „Den Afghanen fällt es besonders schwer, ihre Großbritannien-Pläne aufzustecken, weil es in England schon eine große afghanische Bevölkerung gibt“, zitiert das Blatt einen französischen Beamten.

Wir haben Befehl, die Migranten gehen zu lassen.

Ein Migranten-Begleiter in Calais (Le Figaro)

Alle Migranten haben das Recht, sich frei zu bewegen und können nicht festgehalten werden, betonte Le Figaro. Die über 3000 an der Operation beteiligten französischen Polizisten haben dementsprechend Anweisung, gehen zu lassen, wer gehen will, in Calais oder während des Bustransfers, so Le Monde. Etwa 2000 Migranten sollen denn auch schon vor Beginn der Räumung des Dschungels Calais verlassen haben und „in die Natur verschwunden“ sein, „zweifellos, weil sie in Frankreich nicht Asyl beantragen wollen“, schreibt das Pariser Qualitätsblatt. Viele Migranten haben schon die Schlepperbanden für die England-Schleusung bezahlt und wollen nun nicht auf die geldwerte Dienstleistung verzichten. Alles Gründe, warum man in Calais die Rückkehr der Migranten oder gar das Entstehen vieler kleiner Dschungels in der ganzen Region – oder im ganzen Lande – fürchtet. Ein Polizeikontingent, über dessen Größe es keine Auskünfte gibt, soll in Calais zurückbleiben, um zu verhindern, dass es zu Hausbesetzungen und neuen Lagerbildungen kommt. Was an Calais‘ Grundproblem wenig ändert, so ein Lokalpolitiker: „Calais wird die Stadt bleiben, die Großbritannien am nächsten ist, der Ort, wo der Tunnel beginnt und wo die Fähren ablegen − und die  Migranten werden nicht aufhören, hierher zu strömen.”

Belgiens Angst vor einem Calais auf seiner Seite der Grenze

Die Sorge hat auch Nachbar Belgien. Vor Beginn der Räumung des Dschungels von Calais haben die Belgier 120 Polizisten an die Grenze nahe Calais und Dünkirchen geschickt. Sie sollen dort „Intensivkontrollen“ durchführen und alles tun, um zu verhindern, dass auf der belgischen Seite der Grenze ein neues Calais entstehe, so die belgische Regierung. In den vergangenen zwei Monaten hat die belgische Polizei schon etwa tausend Migranten aufgegriffen, die auf dem Weg nach Zeebrugge waren – Belgiens drittgrößter Hafen mit Englandverkehr. Belgische Polizei führt die Migranten dann regelmäßig zur französischen Grenze zurück, zum Missfallen der Franzosen. Zwei belgische Polizisten, die Ende September dabei ein paar Meter weit französisches Territorium betraten, wurden prompt verhaftet, zum großen Ärger des belgischen Innenministers. Die Stimmung ist nicht gut zwischen Paris und Brüssel. Zusätzliches Problem für Brüssel: Die belgische Polizei, die jetzt an der französische Grenzen 24-Stunden-Patrouillen laufen oder fahren soll, droht mit Streik wegen Arbeitsüberlastung.

Calais − Vorbote für Europas Zukunft?

„Der ‚Dschungel‘ von Calais, wird er verschwinden?“, fragte am dritten Tag der großen Räumungsaktion Le Monde: „Oder wird er dem Prinzip des Dschungels gehorchen: dass er immer nachwächst, egal was man macht?“ Der „Dschungel“ von Calais könnte die Zukunft vorwegnehmen, ahnt das Blatt. Er führe vor, was die Europäer erwarte und was ihnen ihre politischen Verantwortlichen aus Kleinmut nicht sagen wollen: „Die Einwanderung wird nicht aufhören. Sie beginnt erst.“

Die afrikanische Einwanderung wird nicht aufhören. Sie beginnt erst.

Le Monde

Gemeint ist der Migrantenstrom aus Schwarzafrika. Denn bis zum Jahr 2050 könnte sich die Bevölkerung Afrikas von heute einer Milliarde auf über zwei Milliarden Afrikaner verdoppelten, erinnerte das Blatt und sah voraus: Große Migrationsströme werden das Jahrhundert kennzeichnen. Die „Dschungel von Calais oder anderswo“ könnten sich dabei vervielfachen.