Zerstörte sowjetische Panzer vor der während des Ungarnaufstands 1956 schwer umkämpften Kilian-Kaserne in Budapest. (Bild: Imago/epd)
Ungarn-Aufstand 1956

Elf Tage frei atmen

Der ungarische Regierungschef Viktor Orban und Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer haben gemeinsam an den gescheiterten antisowjetischen Aufstand in Ungarn vor 60 Jahren erinnert, dem Tausende zum Opfer fielen – auch im Zuge der folgenden kommunistischen Säuberungen.

Zu der Gedenkveranstaltung im bayerischen Landtag hatte das ungarische Konsulat eingeladen. Orban sagte in seiner Rede, Ungarn sei schon immer ein Land der Freiheit gewesen, in dem Besatzung, Unterdrückung und Diktatur nicht geduldet würden. „Ich darf Ihnen versichern, dass Ungarn auch in Zukunft immer auf der Seite der europäischen Freiheit stehen wird.“ Dabei verteidigte er die aktuelle Grenzschließung für Flüchtlinge: Diese sei notwendig gewesen, um eine „drohende Völkerwanderung“ aufzuhalten. Die Grenzöffnung 1989 und der heutige Grenzschutz seien zwei Seiten derselben Medaille. „1989 handelten wir für die Freiheit Europas – und jetzt schützen wir diese Freiheit“, sagte Orban.

Es gibt für den Dialog keinen Ersatz in der Politik.

Horst Seehofer

Horst Seehofer dankte ausdrücklich dem ungarischen Volk: Der Eiserne Vorhang sei zuerst in Ungarn gefallen. Ungarn sei damit zum Wegbereiter geworden für die Wiedervereinigung Deutschlands. Der Ministerpräsident erneuerte außerdem seine Forderung nach einer Begrenzung der Zuwanderung. Diese sei ein „ethisches Gebot“, damit Humanität und Integration funktionieren könnten. Zudem mahnte der CSU-Chef, in Krisenzeiten müsse Europa mehr denn je zusammenstehen und mit einer Stimme sprechen. „Es gibt für den Dialog keinen Ersatz in der Politik“, sagte der CSU-Chef mit Blick auf die Opposition. Er stehe für gegenseitige Achtung und Respekt – und nicht „für Schelte aus großer Entfernung“. Lesen Sie hier mehr über die Scheinheiligkeit insbesondere der SPD.

Anlass für die Veranstaltung war allerdings nicht die aktuelle Flüchtlingspolitik, sondern der gescheiterte antisowjetische Aufstand in Ungarn 1956 – genau vor 60 Jahren.

Der Aufstand 1956

1948 wurde die Kommunistische Partei mit der Sozialdemokratischen Partei zur „Partei der Ungarischen Werktätigen“ zwangsvereinigt. Wichtige Oppositionspolitiker wurden entmachtet und flohen in den Westen. 1952 wurde der autoritäre Mátyás Rákosi Ministerpräsident, der sich selbst als „Stalins besten Schüler“ bezeichnete. Rákosi startete die im Kommunismus üblichen Säuberungen und ließ tausende Regimegegner verhaften oder umbringen. Es gab Verfahren gegen rund zehn Prozent der ungarischen Bevölkerung, etwa eine Million Menschen, meist ohne Anklage oder Prozess. Auch die ebenfalls für Kommunisten üblichen, schweren wirtschaftlichen Probleme blieben in Ungarn nicht aus.

Aufgrund der Unzufriedenheit mit den Zuständen im immer noch sowjetisch besetzten Ungarn der 50er Jahre sowie Stalins Tod 1953 wurde im selben Jahr Imre Nagy neuer Ministerpräsident – Rákosi blieb jedoch Chef der kommunistischen Partei. Viele seiner Opfer wurden rehabilitiert. Erste Erfolge gab es auch durch Nagys Umstellung der Wirtschaft von der Schwerindustrie auf Landwirtschaft und Konsumgüterindustrie. Rákosi blieb aber Gegner von Nagy und schaffte es, diesen 1955 abzusetzen und aus der Partei zu werfen. Daraufhin bildeten sich erste Widerstandszirkel in Ungarn.

Tauwetter weckte Hoffnungen

Im Februar 1956 verurteilte der neue sowjetische Präsident Nikita Chruschtschow die Ära Stalin und dessen Personenkult. Dabei ließ er die Möglichkeit von „unterschiedlichen Wegen zum Sozialismus“ offen, was zu einer „begrenzten Vielfalt in der Einheit“ des kommunistischen Blocks führen könnte. Damit weckte er Hoffnungen im gesamten Ostblock. In Polen demonstrierten im Juli Arbeiter in Posen und der gemäßigte Kommunist Gomulka wurde dort trotz sowjetischen Widerstands neuer Generalsekretär.

Auf Ähnliches hoffend fand am 23. Oktober 1956 eine große Studentendemonstration in der ungarischen Hauptstadt Budapest statt. Sie forderten Freiheit, Parlamentarismus und nationale Unabhängigkeit sowie die Rückkehr von Imre Nagy als Regierungschef. Diese letzte Forderung wurde völlig überraschend noch in der selben Nacht erfüllt.

Zuvor jedoch eröffnete die kommunistische Staatssicherheit AVH ebenfalls in dieser Nacht das Feuer auf die Studentendemonstration, was dazu führte, dass sich ein ausgewachsener Volksaufstand gegen die Diktatur entwickelte. Mehr als 200.000 Menschen versammelten sich, sogar Armee und Polizei wechselten die Seiten, vereinzelt kam es zu Lynchjustiz gegen Mitarbeiter der Staatssicherheit und der kommunistischen Partei. „Mit unbeschreiblicher Wut brandeten die Schreie der Massen an den Mauern hoch: ‚Mörder seid ihr AVH-Leute!’ und Tod der AVH!‘, so erinnerte sich der Medizinstudent János Pál. Auch die zentrale Stalin-Statue in Budapest wurde bis zu den Stiefeln „gefällt“. Rákosi konnte fliehen.

Ein wunderbarer Heldenmut befreit jetzt das Vaterland. Unser Freiheitskampf ist beispiellos in der Weltgeschichte.

Kardinal József Mindszenty, nach seiner Befreiung am 30. Oktober 1956

Andere Städte in Ungarn folgten am Tag darauf, ein Generalstreik lähmte das öffentliche Leben. Bald erschienen erste unabhängige Zeitungen. Es folgten aber am 25. Oktober auch Feuergefechte mit dem Staatssicherheitsdienst, bei denen hunderte Menschen ums Leben kamen. Am 25. Oktober wurde der gerade erst von Nagy freigelassene Janos Kádár neuer Generalsekretär der Kommunisten, was er bis 1988 blieb. Nach Absprache mit Moskau wechselte er am 1. November die Seiten und gründete heimlich eine Gegenregierung zu Nagy. Dann ersuchte er die Sowjetunion um militärische Hilfe.

Zwei Wochen Freiheit

Davon wusste der Reformer Imre Nagy nichts. Am 28. Oktober proklamierte er eine Waffenruhe. Er führte am 30. Oktober ein Mehrparteiensystem ein, bereitete freie Wahlen vor – und verkündete am 1. November 1956 die Neutralität und den Austritt Ungarns aus dem Warschauer Pakt. Auch das Oberhaupt der katholischen Kirche Ungarns, Kardinal József Mindszenty, wurde nach sieben Jahren Haft und Hausarrest aus dem Gefängnis befreit. Er forderte am 3. November unter anderem die Bestrafung der Schuldigen des alten Regimes durch unabhängige Gerichte, die Lösung vom Kommunismus sowie freie Wahlen unter internationaler Kontrolle.

Sind die Führer des russischen Reiches noch nicht auf den Gedanken gekommen, dass wir das russische Volk weit mehr achten würden, wenn es uns nicht unterjochte?

Kardinal József Mindszenty, am 3. November

Schon seit dem 23. Oktober bereiteten sich die Sowjets aber auf ein Eingreifen vor, besetzten das Parlamentsgebäude und schlugen am 4. November mit aller Macht zurück. Soldaten und Panzer walzten bis Mitte November gegen heftigen Widerstand ungarischer Soldaten und Freiheitskämpfer den Aufstand blutig nieder, was am Ende mehr als 3000 Menschen das Leben kostete – darunter offiziell 720 sowjetische Soldaten. Im Gebirge gingen die Kämpfe sogar noch bis Anfang 1957 weiter. Mehr als 13.000 Menschen wurden verletzt. Es gibt aber Schätzungen über weit höhere Opferzahlen.

Hoher Blutzoll

Der Westen griff aus Furcht vor einem Krieg nicht ein. Es folgten Jahre des erneuten kommunistischen Terrors, in Ungarn „Zeit der Vergeltung“ genannt. Nagy, zunächst in die Botschaft Jugoslawiens geflohen, wurde wie 350 weitere Personen als „Konterrevolutionär“ zum Tode verurteilt und 1958 hingerichtet. Zehntausende Ungarn wurden interniert, gefoltert oder später ebenfalls hingerichtet.

Kardinal Mindszenty floh in die amerikanische Gesandtschaft in Budapest. Papst Pius XII. reagierte ähnlich deutlich wie 1949 bei der Verurteilung Mindszentys in einem Schauprozess zu lebenslanger Haft. In seiner Rundfunkansprache am 10. November 1956 appellierte Pius an den Westen, eine Koalition des Guten zu bilden, um gegen die kommunistische Bedrohung zusammenzustehen. Erst 1971 konnte der Kardinal jedoch die Botschaft verlassen und nach Verhandlungen ins Exil nach Wien gehen. Der neue Papst Paul VI. opferte ihn für seine „Ostpolitik“ und enthob ihn 1973 seines Erzbischofsamtes, bis heute eine beschämende Entscheidung des Vatikans. „Der Papst hat einen großen Kämpfer des Antikommunismus im Stich gelassen“, triumphierte der ungarische KP-Parteichef Kádár. Der streitbare Kämpfer Mindszenty, inhaftiert unter Ungarns Faschisten und dann wieder unter den Kommunisten, 1948 von letzteren wochenlang gefoltert und unter Drogen gesetzt, starb 1975 im Exil – wenn auch als freier Mann.

Massenflucht in den Westen

Es begann sehr schnell eine Massenflucht der Ungarn über Österreich in den Westen, die selbst von den Russen gesprengte Brücken nicht stoppen konnte.

Insgesamt verließen über 200.000 Ungarn ihre Heimat zunächst nach Österreich. Die ersten Ungarn, die in Deutschland eintrafen, kamen am 16. November 1956 im Berchtesgadener Land an. Gut 80.000 kamen insgesamt nach Bayern, wurden aber im Laufe der Zeit großteils weiter verteilt oder wanderten in andere Länder aus. Mehr als fünf Millionen Mark wurden für sie gespendet, für die Anfangszeit der deutschen Republik eine ungeheure Summe. Viele Ungarn blieben und wurden freundlich aufgenommen. Es war diese Hilfe, für die sich jetzt Ministerpräsident Orban im bayerischen Landtag bedankte.

Ungarn war in den Jahren zwischen 1944 und dem 23. Oktober 1956 ein Kerker-Ungarn. Wir durften elf Tage lang (ich selbst nur vier Tage) frei atmen. Nach dem 4. November ist das Land wieder ein Gefängnis geworden.

Kardinal József Mindszenty, in seinem Buch „Erinnerungen“

Nur zwei Wochen währte 1956 der Traum von der Freiheit – bis er 1989 doch noch Wirklichkeit wurde.

Erst nach der Wende wurde der einstige Ministerpräsident Nagy rehabilitiert. Auch das Oberhaupt der katholischen Ungarn, Mindszenty, der immer überzeugt war, dass das Sowjetregime irgendwann zusammenbrechen musste, kehrte zurück in seine Heimat und in seine Bischofskirche, den Dom von Esztergom. In seinem Testament verfügte er, dass eine Überführung erst dann stattfinden solle, wenn „der Stern der Moskauer Gottlosigkeit vom Himmel Mariens und des hl. Stephans fällt“. So fand der Kardinal dort in der Krypta erst 1991 seine letzte Ruhestätte. Auf seinem Epitaph wurde eine lateinische Aufschrift angebracht: „vita humiliavit – mors exaltavit“, was auf deutsch bedeutet: „Das Leben hat (ihn) erniedrigt, der Tod hat (ihn) erhöht“. Auch Mindszenty wurde posthum rehabilitiert, die Urteile gegen ihn aufgehoben.

Seit 1989 ist der 23. Oktober ungarischer Nationalfeiertag. Erst 1992 bat der damalige russische Präsident Boris Jelzin im ungarischen Parlament um Verzeihung für das Blutvergießen im Herbst 1956, an dessen Opfer heute verschiedene Denkmäler erinnern.