Grenzschutz in Zeiten der Völkerwanderung
Der Migrantenstrom schwillt wieder an: Im ersten Halbjahr 2016 fanden 600.000 Migranten den Weg nach Europa. Auf einem Migranten-Gipfel in Wien erörterten jetzt elf europäische Länder weitere Vorgehensweisen. Die Grenzschutzagentur Frontex soll gestärkt werden. Die westliche Balkanroute müsse für illegale Migration für immer geschlossen bleiben, fordert EU-Kommissionspräsident Donald Tusk.
Gipfel in Wien

Grenzschutz in Zeiten der Völkerwanderung

Der Migrantenstrom schwillt wieder an: Im ersten Halbjahr 2016 fanden 600.000 Migranten den Weg nach Europa. Auf einem Migranten-Gipfel in Wien erörterten jetzt elf europäische Länder weitere Vorgehensweisen. Die Grenzschutzagentur Frontex soll gestärkt werden. Die westliche Balkanroute müsse für illegale Migration für immer geschlossen bleiben, fordert EU-Kommissionspräsident Donald Tusk.

Richtig dicht ist die sogenannte Balkanroute noch lange nicht: Trotz der Grenzzäune und -kontrollen seien in diesem Jahr rund 50.000 Menschen über diesen Weg nach Deutschland und 18.000 nach Österreich gekommen, betonte Österreichs Bundeskanzler Christian Kern (SPÖ) nach dem Migranten-Gipfel von elf europäischen Ländern in Wien. „Wir müssen die Kontrolle über unsere Außengrenzen wiedergewinnen, wir müssen diejenigen sein, die entscheiden, wer nach Europa kommt, nicht die Schmuggler”, mahnte Kern. Gegenüber der Wiener Tageszeitung Der Standard ging Kern noch weiter: „Wir stehen nicht vor einem Problem, das heuer vorbei sein kann, sondern es ist ein Generationenproblem.”

Frontex stärken

Im Kampf gegen illegale Migration wollen die Staaten auf der Balkanroute auch mit Unterstützung der EU jetzt letzte Lücken beim Grenzschutz schließen. Denn viele Millionen von potentiellen Migranten werden in den nächsten Jahren und Jahrzehnten in Richtung Europa blicken und sich womöglich auf den Weg machen. Für die betroffenen europäischen Länder ist jeder Baustein zu einer fundamentalen Lösung gefragt. Bausteine dieser Art wollte Kern bei dem Migranten-Gipfel der Länder entlang der Balkanroute sowie Deutschlands in Wien zusammentragen. Viel Konkretes oder gar grundlegend Neues ist dabei aber nicht herausgekommen.

Wir müssen die Kontrolle über unsere Außengrenzen wiedergewinnen, wir müssen diejenigen sein, die entscheiden, wer nach Europa kommt, nicht die Schmuggler.

Christian Kern, Österreichs Bundeskanzler (SPÖ)

Klar wurde immerhin, dass die Rolle der europäischen Grenzschutzagentur Frontex gestärkt werden soll. Diverse Staaten, darunter aktuell vor allem Griechenland, hätten großes Interesse am Einsatz der europäischen Grenzschutzwache, sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) zum Abschluss der etwa vierstündigen Beratungen. Athen hat einen Hilfsantrag zum Frontex-Einsatz an der griechisch-mazedonischen Grenze gestellt. Von Oktober an wird Frontex über etwa 1000 schnell einsetzbare Grenzschutzbeamte verfügen, was den Schutz der Außengrenzen verbessern soll. Darüber hinaus sollen die Bemühungen um Rückführungsabkommen mit Staaten wie Ägypten, Niger, Mali, Senegal und auch Pakistan und Afghanistan verstärkt werden.

„Verteidigungslinie für Europa”

Ungarns Regierungschef Viktor Orban, der im vergangenen Jahr zuerst und am entschlossensten die Abriegelung der Balkanroute ins Werk gesetzt hatte, sieht jetzt in Libyen einen zentralen Schlüssel zur Lösung des Problems. Die EU müsse in dem Bürgerkriegsland für eine stabile politische Lage sorgen und dort „große Lager für Millionen Menschen einrichten, die wir versorgen, eine Schutzzone an der Küste” − so sein Vorschlag. „Wenn wir das nicht schaffen, können wir böse Überraschungen erleben”, warnte Orban in Wien. Der ungarische Premier zeigte sich erneut äußerst skeptisch, dass Griechenland in der Lage ist, die EU-Außengrenze wirksam zu schützen. Daher plädierte er für eine neue „Verteidigungslinie für Europa”. Das gelte insbesondere dann, wenn der Flüchtlingspakt mit der Türkei scheitere. In einer Woche (2. Oktober) will Orban seinen Anti-Flüchtlingskurs von der Bevölkerung per Volksabstimmung absegnen lassen.

Deutschland werde Griechenland und Italien in der Migrantenkrise besonders unterstützen, sagte Merkel. Die Bundesrepublik werde aus diesen Staaten pro Monat mehrere hundert Migranten mit Bleiberecht aufnehmen. Gerade diese Menschen bräuchten eine Perspektive. Insgesamt hat die EU aus ihrer Sicht bereits deutliche Fortschritte bei der Bekämpfung der illegalen Einwanderung gemacht. Im Vergleich zur Situation vor etwa einem Jahr sei sehr viel erreicht worden. „Unser Ziel muss sein, die illegale Migration so weit wie möglich zu stoppen”, so Merkel.

Wir müssen praktisch und politisch sicherstellen, dass die westliche Balkanroute für illegale Migration für immer geschlossen ist.

EU-Ratspräsident Donald Tusk

Während die EU − und die Bundesregierung in Berlin − die Schließung der Balkanroute zunächst heftig kritisiert hatte, bekannte sich jetzt EU-Ratspräsident Donald Tusk auf dem Gipfel eindeutig zu dieser Grenzsicherung. „Wir müssen praktisch und politisch sicherstellen, dass die westliche Balkanroute für illegale Migration für immer geschlossen ist.” Allerdings betonte EU-Migrationskommissar Dimitris Avramopoulos, dass Solidarität und Würde in der EU Grundwerte und Grundprinzipien sein. „Solidarität gibt es nicht à la carte”, sagte Avramopoulos an die Adresse jener EU-Staaten, die eine EU-weite Verteilung der Migranten nach Quoten ablehnen.

Dass auf dem Gipfel nicht nur Einigkeit herrschte, signalisierte ein Anruf des serbischen Regierungschefs Aleksandar Vucic bei seinem Außenminister Ivica Dacic in Belgrad. Er sei unzufrieden mit dem Treffen, sagte er seinem Chefdiplomaten laut Staatsfernsehen RTS. Einmal mehr habe sich gezeigt, dass die beteiligten Länder einen ganz unterschiedlichen Zugang zu diesem Problem hätten. Serbien drohe daher, ein Opfer dieser Meinungsverschiedenheiten zu werden. Das Land ist im Zentrum der Balkanroute besonders von der Migrantenkrise betroffen.

Asylbewerberzahlen sind wieder gestiegen

Zu dem Treffen hatte Österreichs Bundeskanzler Christian Kern auch die Regierungschefs aus Griechenland, Slowenien, Kroatien, Serbien, Albanien, Ungarn, Mazedonien und Rumäniens Innenminister eingeladen. Österreich hat sich seit Jahresbeginn von seiner anfänglichen Willkommenspolitik verabschiedet und ist nun eine der treibenden Kräfte beim Versuch, den Andrang der Migranten einzudämmen.

Insgesamt suchten rund 600.000 Menschen im ersten Halbjahr Zuflucht in der EU.

Die westliche Balkanroute ist seit Anfang März für Flüchtlinge und andere Migranten ohne gültige Reisedokumente und Einreisevisa geschlossen. Jedoch sind nach einem Rückgang zu Jahresbeginn die Asylbewerberzahlen in der Europäischen Union wieder gestiegen. Im zweiten Quartal beantragten 305.700 Menschen erstmals Schutz in der EU, 61 Prozent davon in Deutschland, geht aus jüngsten Zahlen der Statistikbehörde Eurostat hervor. Laut Eurostat suchten von den knapp 306.000 Asylbewerbern 187.000 Schutz in Deutschland. Auf Platz zwei folgte Italien mit 27.000 vor Frankreich mit 17.800. Insgesamt suchten rund 600.000 Menschen im ersten Halbjahr Zuflucht in der EU.

(dpa/BK/H.M.)