Angst vor einem italienischen Calais
Im kleinen italienischen Grenzstädtchen Ventimiglia an der Côte d'Azur drohen Verhältnisse zu entstehen wie im berüchtigten "Dschungel" von Calais. In wilden Lagern sammeln sich dort schwarzafrikanische Migranten. Das ist nur der Anfang, fürchtet man auf der französischen Seite.
Migrantenkrise

Angst vor einem italienischen Calais

Im kleinen italienischen Grenzstädtchen Ventimiglia an der Côte d'Azur drohen Verhältnisse zu entstehen wie im berüchtigten "Dschungel" von Calais. In wilden Lagern sammeln sich dort schwarzafrikanische Migranten. Das ist nur der Anfang, fürchtet man auf der französischen Seite.

In Ventimiglia an der italienisch-französischen Grenze an der Côte d’Azur spitzt sich die Migrantenkrise wieder zu. Das kleine Städtchen mit 25.000 Einwohnern und seiner malerischen mittelalterlichen Altstadt auf dem Hügel über der Neustadt wird von schwarzafrikanischen Migranten regelrecht überrannt. In Ventimiglia droht ein zweites Calais zu entstehen. Schon 30.000 Migranten hätten sich seit Anfang des Jahres auf den Weg nach Ventimiglia gemacht, berichtet von der anderen Seite der Grenze das französische Wochenmagazin Le Point. Viele von ihnen, so das Magazin, hätten sich in wilden Lagern niedergelassen, um auf Asylbescheinigungen zu warten oder auf eine Gelegenheit zum Grenzübertritt nach Frankreich. „In Vintimiglia Angst vor einem zweiten Calais“, titelte Anfang August die Pariser Tageszeitung Le Figaro.

Wilde Migranten-Lager in Ventimiglia

Um zu verhindern, dass sich in Ventimiglia Verhältnisse entwickeln wie in Calais, haben die italienischen Behörden dort Mitte Mai ein Auffanglager am Bahnhof der Stadt geschlossen. Was natürlich nicht dazu führte, dass die Migranten verschwanden. Seither, so Le Figaro, „ist die kleine Grenzstadt am Rande des Chaos“. In der Not beschloss das Bistum Vintimille-San Remo, die kleine Kirche San Antonio für die Asylbewerber zu öffnen. „Zwischen dem 31. Mai und Mitte Juli haben wir hier 5000 Migranten beherbergt“, berichtet ein örtlicher Caritas-Verantwortlicher dem Figaro.

Zwischen dem 31. Mai und Mitte Juli haben wir hier 5000 Migranten beherbergt.

Caritas-Verantwortlicher in Ventimiglia

Ende Juli öffneten auch die Behörden schließlich ein neues Aufnahmelager, dieses Mal außerhalb der Stadt, entlang der Bahnlinie – mit einer Kapazität von 360 Plätzen. Viel zu wenig. Am vergangenen Donnerstag, so wieder Le Figaro, sollen dort 600 Mittagsportionen aus nur 75 Kilogramm Pasta an Migranten ausgegeben worden sein. Das ist Absicht. Denn die Migranten – zumeist aus dem Sudan oder Eritrera – sollen dort nicht dauerhaft aufgenommen werden, erklärt ein Mitarbeiters des Bürgermeisters von Ventimiglia: „Das neue Aufnahmelager gibt den Migranten Gelegenheit, ihre Asylanträge zu stellen. Wenn sie das nicht tun wollen, dann müssen sie wieder gehen, oder die Polizei greift ein.“ Damit eben in Ventimiglia keine Calais-Verhältnisse entstehen, sollen die Migranten anderswo in Italien dauerhaft untergebracht werden. Problem: Das für die Migranten aus Ventimiglia vorgesehene dauerhafte Aufnahmelager nahe Rom beherbergt auch schon 2000 Personen.

Seit der Schließung des Auffanglagers von Ventimiglia im Frühjahr ist die kleine Grenzstadt am Rande des Chaos.

Le Figaro

Derzeit etwa tausend Migranten in Ventimiglia (Le Figaro) haben nur eines im Sinn: Frankreich, womöglich tatsächlich Calais und dann eben Großbritannien. Unweit dem schon überfüllten neuen Auffanglager haben 300 bis 400 Migranten begonnen, in einem verlassenen Gebäude ein wildes Lager zu organisieren. Die Stadt hat das Wasser abgestellt. Eine Batterie liefert Strom, um die Mobiltelefone der Migranten aufzuladen, beschreibt Le Figaro die Szenerie. An einer Mauer hängt eine große Frankreich-Karte, die die Fußwegentfernung nach Nizza, Marseille oder Paris angibt.

Sturm auf die französische Grenze

Auf der französischen Seite der Grenze, in Menton – das Städtchen mit 28.000 Einwohner ist bekannt für schöne Gartenanlagen –, bekommt man die chaotische Situation in Ventimiglia zu spüren. Am vergangenen Freitag gelang es etwa 200 Migranten, offenbar begleitet und ermutigt von linksradikalen No-Borders-Aktivisten, am felsigen Strand von Ventimiglia italienische Polizeisperren zu überwinden und französisches Territorium zu erreichen. Bei den Scharmützeln gab es ein Todesopfer: Ein 53-jähriger italienischer Polizist erlitt einen Herzinfarkt. Französischen Sicherheitskräften gelang es jedoch, alle flüchtigen Migranten einzufangen und an die italienische Seite zurück zu überstellen.

Wir tun alles um, ein neues Calais zu verhindern.

Innenminister Angelino Alfano

„Wir tun alles um, ein neues Calais zu verhindern“, betont in Rom Innenminister Angelino Alfano. Was für die Franzosen kein Trost ist. In den ersten vier Monaten des Jahres haben französische Sicherheitskräfte zwischen Menton und dem 40 Kilometer entfernten Nizza mehr als 5500 Migranten aufgegriffen. Anfang August waren es schon 16.000. „Nicht nur, dass es noch mehr Migranten sind als im vergangenen Jahr, sondern sie werden außerdem von Aktivisten des No-Borders-Netzwerks angeleitet, die ein übles Klima herbeiführen“, warnte Mentons Parlamentsabgeordneter und Bürgermeister Jean-Claude Guibal: „Und es gibt Gewalt.“

Nicht allein am Strand, sondern überall in der Region versuchen die Migranten, die Grenze nach Frankreich zu überwinden: durch die steilen Schluchten des Flüsschens Roya, das auf der französischen Seite in den See-Alpen entspringt und auf der italienischen Seite bei Ventimiglia ins Mittelmeer mündet, oder − lebensgefährlich − durch die Tunnels der Autobahn A8. Bürgermeister Guibal hält den Migranten-Ansturm vom Freitag nur für eine Premiere und ruft nach mehr Polizei und Sicherheitskräften. Innenminister Bernard Cazeneuve versprach prompt „die totale Mobilisierung der Kräfte des Staates, um die Sicherung unserer Grenzen zu garantieren“.

Schengen erledigt?

Tatsächlich wurden zwei weitere mobile Polizeieinheiten nach Menton abgeordnet sowie 60 Soldaten, die im Rahmen der landesweiten Zivilschutz-Operation Sentinelle Dienst tun. Dem republikanischen Abgeordneten und Präsident des Departementalrates des Departements Alpes-Maritimes, Eric Ciotti, ist das nicht genug: Er fordert eine „Politik der wirklichen Stärke“ und die Rückkehr zu systematischen Kontrollen an der Grenze zwischen Italien und Frankreich. Bisher gibt es die nur in den Eisenbahnzügen. Noch deutlicher formuliert es Le Figaro im prominenten Kommentar auf Seite 1: „Wir müssen an den Grenzen im Inneren Europas wieder permanente Kontrollen einführen. Lasst uns das Schengener Abkommen ein für alle Mal für erledigt erklären.“ Das Blatt schließt die Forderung an: „Und wir müssen endlich unsere Hilfen für die Herkunftsländer an die gute Kooperation knüpfen, wenn es darum geht, Wirtschaftsflüchtlinge aufzuhalten − denn das sind die meisten, was wir nicht genügend klar machen.”

Lasst uns das Schengener Abkommen ein für alle Mal für erledigt erklären.

Le Figaro

Le Figaro dürfte mit solcher Tonart die Stimmung vieler Leser treffen. „Migranten: Müssen wir an der italienischen Grenze permanente und systematische Kontrollen einführen?“, lautete am vergangenen Montag die tägliche Figaro-Leser-Umfrage. Am Tag darauf stand wieder auf Seite 1 die Auswertung der Antworten von 38.390 Lesern: 95 Prozent stimmten für die Rückkehr zu „permanenten und systematischen“ Grenzkontrollen, nur fünf Prozent dagegen.

Zentrale Mittelmeerroute so stark frequentiert wie noch nie

„Wie kann man diesem enormen Migrationsdruck begegnen?”, fragt das Pariser Blatt. Hoffnung auf Entspannung der Lage in Ventimiglia und Menton dürfen sich Franzosen und Italiener nicht machen. Über 94.000 Migranten sind in diesem Jahr schon in Sizilien und Italien angekommen. Sie wollen alle weiter nach Nordeuropa − und glauben, sie haben ein Recht darauf, alle europäischen Grenzen nach Belieben überqueren und niedertrampeln zu dürfen. Und es werden immer mehr: „Die zentrale Mittelmeerroute ist so stark frequentiert wie noch nie“, warnte Ende Juni Fabrice Leggeri, der Chef der EU-Grenzschutzagentur Frontex.

Wenn die Migrationsströme aus Westafrika in Richtung Libyen anhalten, müssen wir mit 300.000 Menschen rechnen, die dieses Jahr aus Westafrika in die nördlichen Maghreb-Staaten fliehen, um weiter nach Europa zu reisen.

Frontex-Chef Fabrice Leggeri

Leggeri weiter: „Wenn die Migrationsströme aus Westafrika in Richtung Libyen anhalten, müssen wir mit 300.000 Menschen rechnen, die dieses Jahr aus Westafrika in die nördlichen Maghreb-Staaten fliehen, um weiter nach Europa zu reisen.“ 300.000 – allein aus Westafrika. Die Tausenden Migranten aus Sudan und Eritrea, die derzeit drohen, in Ventimiglia Verhältnisse wie in Calais zu schaffen, sind in dieser Zahl noch nicht enthalten. Auch nicht diejenigen, die in immer größeren Zahlen über eine neue Migrantenroute kommen: über Ägypten.